Produktdetails
- Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
- ISBN-13: 9783548364100
- ISBN-10: 3548364101
- Artikelnr.: 24082889
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998Flatterndes Vögelchen mit Frischkäse
Sentimentalisierung einer Legende: Anne Frank in einer Biographie, die zuviel und zuwenig weiß / Von Hermann Kurzke
Anne Frank wäre heute neunundsechzig. Es leben noch erstaunlich viele Menschen, die sie kannten, Mitschüler, Freunde und Freundinnen, Verwandte. Auch Miep Gies gibt es noch, die treue, die das Hinterhaus mit seinen acht Untergetauchten über zwei Jahre lang mit dem täglichen Bedarf versorgte. Die junge Journalistin Melissa Müller hat sie alle sorgfältig ausgefragt, dazu die älteren Interviews mit inzwischen Verstorbenen ausgewertet, Akten und Polizeiprotokolle gelesen und das reiche Material mit eigenen Worten zu einer Lebensgeschichte zusammengekittet. Es ist ein Zwitter herausgekommen, weder Dichtung noch Dokumentation - als Dokumentation zu subjektiv, als Dichtung zu schwach.
Das heißt keineswegs, daß das Buch ohne Wirkung wäre, aber es leiht sich seine Wirkung ganz und gar von dem schrecklichen Schicksal, das durch Anne Franks Tagebuch der Welt bekannt wurde. Noch die Trivialitäten, die Kinderkrankheiten, das Frischkäsebrötchen, die stets tintigen Finger oder der erste Kuß gewinnen durch dieses Schicksal symbolisches Gewicht. Eine wie du und ich, zischeln sie uns ständig zu. Immer neue Zeugnisse bekunden, daß Anne ein aufgewecktes, vorlautes und frühreifes Mädchen war, "eine begnadete Selbstdarstellerin" und ein "fröhlich flatterndes Vögelchen", so die Sprache ihrer Biographin. Anne konnte sich zum Beispiel das Schultergelenk aus- und einkugeln und amüsierte sich über die entsetzten Gesichter ihres Publikums.
Der Rechercheaufwand ist beachtlich. Aber der tiefe Respekt vor den Zeitzeugen verhindert jene kritische Distanz zu den Quellen, ohne die ein Werk literarisch kein eigenes Leben gewinnen kann. Melissa Müller liefert sich ihren Informanten vollständig aus. Aber darf man wörtlich nehmen, was diese mehr als ein halbes Jahrhundert später erzählen? Längst sind sie Teil einer Legende, die sie tradieren und die ihnen ihre Rollen diktiert. Das so lange Erzählte ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Niemand wird ihnen das übelnehmen. Aber die gläubige Verehrung der Biographin für jene, die damals mitlitten und mithalfen, ist wahrscheinlich der Grund, weshalb man, trotz vieler zusätzlicher Einzelheiten, am Ende nicht das Gefühl hat, etwas wirklich Neues erfahren zu haben. Das Buch bietet keine kritische Geschichtsschreibung, sondern lediglich die Amplifizierung und Sentimentalisierung einer Legende.
Das Wort "Legende" soll nicht die Tatsächlichkeit der Ereignisse anzweifeln, sondern nur eine Erzählweise bezeichnen, die sich vom Bann eines sanktionierten Anne-Frank-Tons nicht lösen kann. In ihr sind Gut und Böse so ordentlich verteilt wie im Märchen. Den Bösen wird keine Innensicht zuteil. Eine Seele haben nur die Guten. Wir lernen zwei sympathische jüdische Familien kennen, die Franks und die Holländers, liberal und wohlhabend, weit verzweigt und einflußreich. Vater Otto Frank leitet ein von der Weltwirtschaftskrise angeschlagenes Frankfurter Bankhaus, liquidiert es, vorausschauend, kurz nach Hitlers Machtergreifung und baut sich in Amsterdam eine neue Existenz auf. Annes Kindheit scheint glücklich. Die Eltern verbergen alles Drohende vor ihr, so gut es geht.
Mit der Besetzung Hollands, der Judensternverordnung, dem Schulwechsel ins Jüdische Lyzeum, dem Radfahrverbot und immer neuen Schikanen zieht sich die Schlinge allmählich zu. Annes Frohsinn soll allen Berichten zufolge unbesiegbar gewesen sein. Als aber die Schwester Margot deportiert werden soll, im Juli 1942, endet die Verdrängung, die Familie zieht in das von Otto Frank seit Monaten sorgfältig vorbereitete Versteck. Zwei Jahre lang geht alles gut. Im August 1944 werden sie verraten, vermutlich von der Putzfrau Lena Hartog.
Den Weg ins holländische Sammellager Westerbork soll Anne als Befreiung erlebt haben. Hungrig nach Eindrücken, schaut sie aus dem Zugfenster (kein Viehwagen), ihre Haare wehen im Sommerwind. Von Westerbork im September 1944 Transport im geschlossenen Güterwagen in das in Auflösung begriffene Lager Auschwitz, von Auschwitz Ende Oktober nach Deutschland zurück, ins völlig verwahrloste, verseuchte und überfüllte Bergen-Belsen. Anne und ihre Schwester, körperlich und seelisch zugrunde gerichtet, sterben im März 1945, vermutlich im Gefolge einer Typhusepidemie. Irgendwo in einem Massengrab werden sie verscharrt.
Diesen Verlauf reichert Melissa Müller mit allen Einzelheiten an, deren sie habhaft werden konnte, vor allem mit den Biographien der Dabeigewesenen, so daß Annes Schicksal in ein kollektives eingebettet erscheint. Die ergreifende Unmittelbarkeit des Tagebuchs geht dadurch verloren. Was bei Anne echt ist, wirkt bei Melissa Müller zwangsläufig nachempfunden, ja nachgestellt und wie eine unerlaubte Annäherung. Brigitte-Ton und Selbstverwirklichungskitsch sollen Anne Frank unserer Zeit andienen. "Anne sehnte sich danach, die Liebe zu entdecken." "Ihre Sehnsucht nach Glück . . . führte sie auf den Weg zu sich selbst." Wo Erkenntnisse fehlen, breitet sich Sentimentalisierung aus. "An Annes Glauben an sich selbst scheiterte der Naziterror." Das sind Phrasen für die Nachwelt.
Immer weiß die Biographin ein bißchen zuviel. "Annes Stimme war kaum wiederzuerkennen, aus ihren Worten klang tiefe Verzweiflung, zu viel hatte sie bereits erdulden müssen." Sie meint es gut und will Vertrautheit herstellen, wo Diskretion und Distanz, ja Scheu erforderlich gewesen wären. Man fragt sich gelegentlich, ob man an Stelle dieser Biographie nicht lieber das Tagebuch noch einmal lesen sollte. Allzuoft ist das darüber hinaus Mitgeteilte belanglos. Daß Bergen-Belsen noch das Banalste symbolisch macht, steht auf einem anderen Blatt. Das liebe, fröhliche Gesicht auf dem Bucheinband kann man nicht ansehen, ohne daß einen die Vision eines Haufens ausgemergelter Leichen überfällt.
Es scheint selbstverständlich zu sein, daß die Biographie eines Opfers nichts zur Psychologie der Täter beiträgt. Dennoch ist es ein Kernproblem dieses Buches, daß es die "Nazis" mit wenigen Ausnahmen nur als gesichtslose Mörderbande kennt. Den vielen liebevoll ermittelten Opferbiographien stehen auf der Täterseite die üblichen Klischees gegenüber von dem "Naziregime, das die Menschenwürde, wo immer es hinkam, mit seinen Stiefeln trat". Solche Formulierungen erklären nichts. Weil die Logik der Täter kaum belichtet wird, lernt man nicht viel aus diesem Buch. Es lebt von der Unbegriffenheit des Geschehens. Es müht sich nicht ums Begreifen; vielleicht ist Begreifen ja auch Verrat. Noch einmal ist man wie vor den Kopf geschlagen. Vor der düsteren Wand der Unbegreiflichkeit führt Melissa Müller ein Leben auf, das sonnig beginnt und in unbeschreiblicher Erniedrigung endet.
Als noch kein Geschäft damit zu machen war, hörte sich manches anders an. Bevor Anne Frank berühmt wurde, wurde anders gedacht und anders gehandelt. Otto Frank verweigerte seine Hilfe, als Simon Wiesenthal nach dem SS-Oberscharführer Silberbauer fahndete, der das Hinterhaus damals räumen ließ. Melissa Müller teilt das mit, hat aber keine Erklärung dafür. Otto Frank scheint, so unglaubwürdig sich das anhört, an der Verfolgung der Täter kein Interesse gehabt zu haben. Er wollte Versöhnung. Die garantiert antifaschistischen Parteiungen entstanden erst viele Jahre nach dem Krieg. Als sie noch nicht so werbewirksam war wie heute, stand die Moral noch nicht so fest. Es gibt heute eine schwerreiche Anne-Frank-Industrie, bestehend aus mehreren zum Teil konkurrierenden Stiftungen. Vorsichtig kritisiert Melissa Müller das Gebaren des Baseler Anne-Frank-Fonds und der Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung, während sie ihrerseits vor allem mit dem New Yorker Anne Frank Center zusammengearbeitet hat. Ihr Buch ist Teil des Kampfes dieser Einrichtungen, in dem New York die Rolle des armen Vetters spielt, der dem reichen Onkel in Basel ein sattes Almosen abnötigen will. Wenigstens so interessant wie die Biographie der Anne Frank wäre die Geschichte der Geschäfte, die mit ihr gemacht wurden und werden.
Otto Frank hinterließ bei seinem Tod 1980 ein Vermögen von mehreren Millionen Schweizer Franken. Miep Gies soll er zehntausend vermacht haben. Wenn sie ihn später in Basel besucht habe, sei sie nie ins Haus eingeladen worden, sondern habe Hotel und Reise immer aus eigener Tasche bezahlen müssen. Was ist geschehen? Bis 1945 ist Otto Frank der kühne Ritter, generös und weitsichtig, klug und mild. Wie, wann und warum wurde er kleinlich? Melissa Müller bleibt auch diese Antwort schuldig. Anne Franks Ruhm hat alle verändert. Auch die, die ihn heute verwalten, sind keine Opfer.
Ein paar Seiten, die Anne über die Ehe ihrer Eltern geschrieben hatte, hat Otto Frank ausgesondert und sein Leben lang geheimgehalten. Sie liegen heute in New York. Melissa Müller durfte sie lesen, aber nicht publizieren. Aber sie teilt ihren wesentlichen Inhalt mit: daß Otto seine Frau nicht wirklich leidenschaftlich liebe, sondern nur verständig respektiere. Das ist so umstürzend wichtig nicht, als habe die Welt darauf gewartet, endlich die Wahrheit über Otto und Edith zu erfahren. Anne haßte ihre Mutter, konnte den Vater aber nicht auf ihre Seite ziehen. Die Mutter heute gegen ihren Mann und gegen ihre in den Vater verliebte Tochter zu verteidigen ist ein sehr sekundärer Aspekt. Die 74 Zeilen, um die so viel Aufhebens gemacht wird, verdienen Interesse nicht als sensationelle Enthüllung, sondern nur als ein weiteres Zeugnis für den ungeheuren Kesseldruck, unter dem die Eingesperrten standen. Selbstverständlich gab es da Streit, Verdächtigungen, Beschuldigungen, Panik, Selbstmorddrohungen und Überhitztheiten aller Art.
Allen Schwächen zum Trotz erneuert auch dieses Buch das stumme Weinen, dem sich keiner entziehen kann, der dieses Mädchens und ihres Todes gedenkt.
Melissa Müller: "Das Mädchen Anne Frank". Die Biographie. Mit einem Nachwort von Miep Gies. Claassen Verlag, München 1998. 447 S., geb. 44,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sentimentalisierung einer Legende: Anne Frank in einer Biographie, die zuviel und zuwenig weiß / Von Hermann Kurzke
Anne Frank wäre heute neunundsechzig. Es leben noch erstaunlich viele Menschen, die sie kannten, Mitschüler, Freunde und Freundinnen, Verwandte. Auch Miep Gies gibt es noch, die treue, die das Hinterhaus mit seinen acht Untergetauchten über zwei Jahre lang mit dem täglichen Bedarf versorgte. Die junge Journalistin Melissa Müller hat sie alle sorgfältig ausgefragt, dazu die älteren Interviews mit inzwischen Verstorbenen ausgewertet, Akten und Polizeiprotokolle gelesen und das reiche Material mit eigenen Worten zu einer Lebensgeschichte zusammengekittet. Es ist ein Zwitter herausgekommen, weder Dichtung noch Dokumentation - als Dokumentation zu subjektiv, als Dichtung zu schwach.
Das heißt keineswegs, daß das Buch ohne Wirkung wäre, aber es leiht sich seine Wirkung ganz und gar von dem schrecklichen Schicksal, das durch Anne Franks Tagebuch der Welt bekannt wurde. Noch die Trivialitäten, die Kinderkrankheiten, das Frischkäsebrötchen, die stets tintigen Finger oder der erste Kuß gewinnen durch dieses Schicksal symbolisches Gewicht. Eine wie du und ich, zischeln sie uns ständig zu. Immer neue Zeugnisse bekunden, daß Anne ein aufgewecktes, vorlautes und frühreifes Mädchen war, "eine begnadete Selbstdarstellerin" und ein "fröhlich flatterndes Vögelchen", so die Sprache ihrer Biographin. Anne konnte sich zum Beispiel das Schultergelenk aus- und einkugeln und amüsierte sich über die entsetzten Gesichter ihres Publikums.
Der Rechercheaufwand ist beachtlich. Aber der tiefe Respekt vor den Zeitzeugen verhindert jene kritische Distanz zu den Quellen, ohne die ein Werk literarisch kein eigenes Leben gewinnen kann. Melissa Müller liefert sich ihren Informanten vollständig aus. Aber darf man wörtlich nehmen, was diese mehr als ein halbes Jahrhundert später erzählen? Längst sind sie Teil einer Legende, die sie tradieren und die ihnen ihre Rollen diktiert. Das so lange Erzählte ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Niemand wird ihnen das übelnehmen. Aber die gläubige Verehrung der Biographin für jene, die damals mitlitten und mithalfen, ist wahrscheinlich der Grund, weshalb man, trotz vieler zusätzlicher Einzelheiten, am Ende nicht das Gefühl hat, etwas wirklich Neues erfahren zu haben. Das Buch bietet keine kritische Geschichtsschreibung, sondern lediglich die Amplifizierung und Sentimentalisierung einer Legende.
Das Wort "Legende" soll nicht die Tatsächlichkeit der Ereignisse anzweifeln, sondern nur eine Erzählweise bezeichnen, die sich vom Bann eines sanktionierten Anne-Frank-Tons nicht lösen kann. In ihr sind Gut und Böse so ordentlich verteilt wie im Märchen. Den Bösen wird keine Innensicht zuteil. Eine Seele haben nur die Guten. Wir lernen zwei sympathische jüdische Familien kennen, die Franks und die Holländers, liberal und wohlhabend, weit verzweigt und einflußreich. Vater Otto Frank leitet ein von der Weltwirtschaftskrise angeschlagenes Frankfurter Bankhaus, liquidiert es, vorausschauend, kurz nach Hitlers Machtergreifung und baut sich in Amsterdam eine neue Existenz auf. Annes Kindheit scheint glücklich. Die Eltern verbergen alles Drohende vor ihr, so gut es geht.
Mit der Besetzung Hollands, der Judensternverordnung, dem Schulwechsel ins Jüdische Lyzeum, dem Radfahrverbot und immer neuen Schikanen zieht sich die Schlinge allmählich zu. Annes Frohsinn soll allen Berichten zufolge unbesiegbar gewesen sein. Als aber die Schwester Margot deportiert werden soll, im Juli 1942, endet die Verdrängung, die Familie zieht in das von Otto Frank seit Monaten sorgfältig vorbereitete Versteck. Zwei Jahre lang geht alles gut. Im August 1944 werden sie verraten, vermutlich von der Putzfrau Lena Hartog.
Den Weg ins holländische Sammellager Westerbork soll Anne als Befreiung erlebt haben. Hungrig nach Eindrücken, schaut sie aus dem Zugfenster (kein Viehwagen), ihre Haare wehen im Sommerwind. Von Westerbork im September 1944 Transport im geschlossenen Güterwagen in das in Auflösung begriffene Lager Auschwitz, von Auschwitz Ende Oktober nach Deutschland zurück, ins völlig verwahrloste, verseuchte und überfüllte Bergen-Belsen. Anne und ihre Schwester, körperlich und seelisch zugrunde gerichtet, sterben im März 1945, vermutlich im Gefolge einer Typhusepidemie. Irgendwo in einem Massengrab werden sie verscharrt.
Diesen Verlauf reichert Melissa Müller mit allen Einzelheiten an, deren sie habhaft werden konnte, vor allem mit den Biographien der Dabeigewesenen, so daß Annes Schicksal in ein kollektives eingebettet erscheint. Die ergreifende Unmittelbarkeit des Tagebuchs geht dadurch verloren. Was bei Anne echt ist, wirkt bei Melissa Müller zwangsläufig nachempfunden, ja nachgestellt und wie eine unerlaubte Annäherung. Brigitte-Ton und Selbstverwirklichungskitsch sollen Anne Frank unserer Zeit andienen. "Anne sehnte sich danach, die Liebe zu entdecken." "Ihre Sehnsucht nach Glück . . . führte sie auf den Weg zu sich selbst." Wo Erkenntnisse fehlen, breitet sich Sentimentalisierung aus. "An Annes Glauben an sich selbst scheiterte der Naziterror." Das sind Phrasen für die Nachwelt.
Immer weiß die Biographin ein bißchen zuviel. "Annes Stimme war kaum wiederzuerkennen, aus ihren Worten klang tiefe Verzweiflung, zu viel hatte sie bereits erdulden müssen." Sie meint es gut und will Vertrautheit herstellen, wo Diskretion und Distanz, ja Scheu erforderlich gewesen wären. Man fragt sich gelegentlich, ob man an Stelle dieser Biographie nicht lieber das Tagebuch noch einmal lesen sollte. Allzuoft ist das darüber hinaus Mitgeteilte belanglos. Daß Bergen-Belsen noch das Banalste symbolisch macht, steht auf einem anderen Blatt. Das liebe, fröhliche Gesicht auf dem Bucheinband kann man nicht ansehen, ohne daß einen die Vision eines Haufens ausgemergelter Leichen überfällt.
Es scheint selbstverständlich zu sein, daß die Biographie eines Opfers nichts zur Psychologie der Täter beiträgt. Dennoch ist es ein Kernproblem dieses Buches, daß es die "Nazis" mit wenigen Ausnahmen nur als gesichtslose Mörderbande kennt. Den vielen liebevoll ermittelten Opferbiographien stehen auf der Täterseite die üblichen Klischees gegenüber von dem "Naziregime, das die Menschenwürde, wo immer es hinkam, mit seinen Stiefeln trat". Solche Formulierungen erklären nichts. Weil die Logik der Täter kaum belichtet wird, lernt man nicht viel aus diesem Buch. Es lebt von der Unbegriffenheit des Geschehens. Es müht sich nicht ums Begreifen; vielleicht ist Begreifen ja auch Verrat. Noch einmal ist man wie vor den Kopf geschlagen. Vor der düsteren Wand der Unbegreiflichkeit führt Melissa Müller ein Leben auf, das sonnig beginnt und in unbeschreiblicher Erniedrigung endet.
Als noch kein Geschäft damit zu machen war, hörte sich manches anders an. Bevor Anne Frank berühmt wurde, wurde anders gedacht und anders gehandelt. Otto Frank verweigerte seine Hilfe, als Simon Wiesenthal nach dem SS-Oberscharführer Silberbauer fahndete, der das Hinterhaus damals räumen ließ. Melissa Müller teilt das mit, hat aber keine Erklärung dafür. Otto Frank scheint, so unglaubwürdig sich das anhört, an der Verfolgung der Täter kein Interesse gehabt zu haben. Er wollte Versöhnung. Die garantiert antifaschistischen Parteiungen entstanden erst viele Jahre nach dem Krieg. Als sie noch nicht so werbewirksam war wie heute, stand die Moral noch nicht so fest. Es gibt heute eine schwerreiche Anne-Frank-Industrie, bestehend aus mehreren zum Teil konkurrierenden Stiftungen. Vorsichtig kritisiert Melissa Müller das Gebaren des Baseler Anne-Frank-Fonds und der Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung, während sie ihrerseits vor allem mit dem New Yorker Anne Frank Center zusammengearbeitet hat. Ihr Buch ist Teil des Kampfes dieser Einrichtungen, in dem New York die Rolle des armen Vetters spielt, der dem reichen Onkel in Basel ein sattes Almosen abnötigen will. Wenigstens so interessant wie die Biographie der Anne Frank wäre die Geschichte der Geschäfte, die mit ihr gemacht wurden und werden.
Otto Frank hinterließ bei seinem Tod 1980 ein Vermögen von mehreren Millionen Schweizer Franken. Miep Gies soll er zehntausend vermacht haben. Wenn sie ihn später in Basel besucht habe, sei sie nie ins Haus eingeladen worden, sondern habe Hotel und Reise immer aus eigener Tasche bezahlen müssen. Was ist geschehen? Bis 1945 ist Otto Frank der kühne Ritter, generös und weitsichtig, klug und mild. Wie, wann und warum wurde er kleinlich? Melissa Müller bleibt auch diese Antwort schuldig. Anne Franks Ruhm hat alle verändert. Auch die, die ihn heute verwalten, sind keine Opfer.
Ein paar Seiten, die Anne über die Ehe ihrer Eltern geschrieben hatte, hat Otto Frank ausgesondert und sein Leben lang geheimgehalten. Sie liegen heute in New York. Melissa Müller durfte sie lesen, aber nicht publizieren. Aber sie teilt ihren wesentlichen Inhalt mit: daß Otto seine Frau nicht wirklich leidenschaftlich liebe, sondern nur verständig respektiere. Das ist so umstürzend wichtig nicht, als habe die Welt darauf gewartet, endlich die Wahrheit über Otto und Edith zu erfahren. Anne haßte ihre Mutter, konnte den Vater aber nicht auf ihre Seite ziehen. Die Mutter heute gegen ihren Mann und gegen ihre in den Vater verliebte Tochter zu verteidigen ist ein sehr sekundärer Aspekt. Die 74 Zeilen, um die so viel Aufhebens gemacht wird, verdienen Interesse nicht als sensationelle Enthüllung, sondern nur als ein weiteres Zeugnis für den ungeheuren Kesseldruck, unter dem die Eingesperrten standen. Selbstverständlich gab es da Streit, Verdächtigungen, Beschuldigungen, Panik, Selbstmorddrohungen und Überhitztheiten aller Art.
Allen Schwächen zum Trotz erneuert auch dieses Buch das stumme Weinen, dem sich keiner entziehen kann, der dieses Mädchens und ihres Todes gedenkt.
Melissa Müller: "Das Mädchen Anne Frank". Die Biographie. Mit einem Nachwort von Miep Gies. Claassen Verlag, München 1998. 447 S., geb. 44,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die bisher gründlichste Biographie der Anne Frank Frankfurter Allgemeine Zeitung