Finnland, Anfang der 1930er-Jahre: Die kleine Leena ist traurig. Wieder einmal hat ihr die verhasste Lehrerin eine Strafarbeit aufgedrückt. Die Neunjährige soll abends alleine nachsitzen. Dabei versteht sie gar nicht, was sie schon wieder falsch gemacht haben soll. Das Mädchen, dessen Mutter tot und
dessen Vater irgendwo im Ausland lebt, wächst bei ihrer Großmutter auf und hat sich das Lesen und…mehrFinnland, Anfang der 1930er-Jahre: Die kleine Leena ist traurig. Wieder einmal hat ihr die verhasste Lehrerin eine Strafarbeit aufgedrückt. Die Neunjährige soll abends alleine nachsitzen. Dabei versteht sie gar nicht, was sie schon wieder falsch gemacht haben soll. Das Mädchen, dessen Mutter tot und dessen Vater irgendwo im Ausland lebt, wächst bei ihrer Großmutter auf und hat sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Leena fühlt sich unverstanden und unendlich einsam. Als sie aus der kleinen katholischen Kirche plötzlich Orgelmusik von Bach hört, nimmt ihr junges Leben eine unerwartete Wendung und die Grenzen zwischen kindlicher Fantasie und erwachsener Realität verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit...
Der Guggolz Verlag hat sich in den letzten Jahren in Deutschland vor allem einen Namen gemacht, weil es ihm gelang, fast schon vergessene Autor:innen wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen dadurch zumindest im Nachhinein noch den verdienten Ruhm zukommen zu lassen. Insbesondere die Romane "Die Vögel" und "Das Eis-Schloss" des Norwegers Tarjei Vesaas dürften die Leser:innen nicht so schnell vergessen. Mit ihren liebevollen Covern, der schönen Gestaltung und den sorgfältigen Nachworten avancierten die Romane zu Lieblingsbüchern vieler Buchfreund:innen.
Auch Eeva-Liisa Manners "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke", das nun erstmals in der deutschen Übersetzung aus dem Finnischen von Maximilian Murmann bei Guggolz erschienen ist, sticht mit seinem Wiesen-Kerbel-Cover sofort ins Auge und passt ganz wunderbar in das Verlagsprogramm. Manner (1921 - 1995) veröffentlichte ihren Debütroman im Jahre 1951. Abgerundet wird die Edition durch ein Nachwort der letztjährigen Buchpreis-Gewinnerin Antje Rávik Strubel.
Ein Kind, welches durch die Musik von Johann Sebastian Bach gerettet wird. Nicht wenige Leser:innen dürften sich durch dieses existenzielle Ereignis an James Rhodes' schwer verdauliches, aber umso lesenswerteres Buch "Der Klang der Wut" von 2016 erinnert fühlen. Während der junge James den Missbrauch durch den Sportlehrer nur dank Bachs "Aria" aus den Goldberg-Variationen überlebte, ist es hier eine Fuge, die der kleinen Leena den Weg weist.
Doch bevor es dazu kommt, nimmt "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" die Leser:innen zunächst sehr von sich ein. Nicht von ungefähr beginnt der Roman mit den Worten "Es war einmal", und dieser märchenhaft-poetische Tonfall zieht sich durch die Lektüre wie der kleine Fluss durch den Handlungsspielort. Neben der Heldin Leena gibt es mit der Lehrerin wie im Märchen eine klassische Antagonistin. Tieftraurig und melancholisch leidet man als Leser:in mit dem Kind und freut sich, als sich in der Bach-Musik endlich ein Fenster der Hoffnung für sie öffnet.
Gut für Leena, aber schlecht für den Roman, mag man etwas despektierlich denken. Denn tatsächlich ist diese Schlüsselbegegnung auch für das Buch ein Wendepunkt. Leena trifft nämlich auf den blinden Orgelspieler Filemon, und der Mann versucht in der Folge, auf sage und schreibe 20 der gerade einmal 130 Seiten Leena in einem hochphilosophischen Dialog das Leben und die Welt zu erklären. Filemon ist dabei dermaßen überzeichnet und schrullig, dass er nicht nur der ebenfalls anwesenden Nonne fürchterlich auf die Nerven geht.
Das Buch verlässt an dieser Stelle die Ebene eines Romans mit klassischer Erzählstruktur, sondern löst Handlung und Sprache fast schon experimentell auf. Genau wie Leena verschwimmen auch bei der Leserschaft die Grenzen zwischen Fantasie und Realität. Mehr als einmal fragte ich mich, was nun auf der Handlungsebene "wahr" ist und was nicht. Und auch der Erzähler, der sich von Beginn an komplett auf die kindliche Sicht seiner Heldin einlässt, fängt plötzlich an, unstrukturiert oder in Kinderreimen zu erzählen. In der zweiten Hälfte spürt man dadurch sehr stark, dass Eeva-Liisa Manner eigentlich aus der Lyrik kommt. Dem Roman gelang es bis zum ethisch etwas fragwürdigen Ende leider nicht mehr, mich u