Duca Lamberti auf den Spuren eines skrupellosen Mädchenhändlerrings.Duca Lamberti hat keine Wahl: Er muss den Job annehmen, den Kommissar Carrua von der Mailänder Polizei ihm vermittelt. Wegen Sterbehilfe an einer todkranken Frau verurteilt und gerade aus dem Gefängnis entlassen, soll er sich um den Sohn eines neureichen Industriellen kümmern, der scheinbar grundlos zu trinken begonnen hat. Lamberti findet bald heraus, warum Davide im Alkohol Vergessen sucht: Er fühlt sich schuldig am Tod der kleinen Verkäuferin Alberta, mit der er gegen Bezahlung einen Abend verbracht hatte. Doch Lamberti glaubt nicht an die Selbstmordthese ...
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Peter Henning freut sich über den erneuten Versuch eines deutschsprachigen Verlages, Giorgio Scerbanenco mit seinen ersten beiden von insgesamt vier Lamberti-Roman salonfähig zu machen. Im Grunde ist er das längst, findet Henning, der Scerbanencos Ermittler Duca Lamberti ins Herz geschlossen hat, ebenso wie die dämmrige Welt der Außenseiter und kleinen Leute, die der Autor in den 50er und 60er Jahren in Mailand ansiedelt, wo er Kultur und Weltoffenheit auf Gier und Brutalität treffen lässt. Wie Scerbanenco Unterhaltung und ernste Literatur verbindet und mal eben die moderne italienische Krimiliteratur begründet, findet Henning famos, auch wenn der Leser der Romane nicht auf Trost hoffen sollte. Die Widersprüche bleiben bestehen, meint Henning, und der Triumph über das Böse ist nur von kurzer Dauer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2018Die Wunden von Mailand
Der Erfinder des italienischen Kriminalromans: Giorgio Scerbanencos Bücher erscheinen jetzt wieder auf Deutsch
Das Morden gehörte in der englischsprachigen Welt schon seit Jahrzehnten zum Alltag, als in Italien noch alles friedlich war. Polizisten und Privatdetektive waren arbeitslos. Ein Staat ohne Verbrechen braucht keine Krimis, dachte sich Mussolini, als er das Genre erst zensierte und schließlich ganz verbot. Und so gab es für lange Zeit, noch Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, keinen einzigen berühmten italienischen Detektiv. Vereinzelte Kriminalromane verkauften sich zwar ganz gut, doch charismatische Serienfiguren gab es keine. Das Misstrauen gegenüber italienischen Kommissaren ging sogar so weit, dass man den Ermittler der amerikanischen Krimiserie "87th Precinct", Steve Carella, kurzerhand seiner ethnischen Wurzeln beraubte und in der italienischen Übersetzung in Steve Carell umbenannte. Mit italienischen Krimis war kein Geld zu machen. Bis Duca Lamberti kam.
In den sechziger Jahren erfand Giorgio Scerbanenco die erste erfolgreiche italienische Detektivfigur: Duca Lamberti, einen ehemaligen Arzt, der wider Willen zum draufgängerischen Ermittler wird. Sein Erfinder Scerbanenco wurde berühmt, nicht nur in Italien, sondern auch im Ausland, bis er, einige Jahre später, zumindest in Deutschland, wieder in Vergessenheit geriet. Nun erlebt er ein kleines Comeback: In Italien ist gerade ein bislang unveröffentlichter Kriminalroman aus den vierziger Jahren erschienen. Und auch auf Deutsch werden die vier berühmten Lamberti-Romane in einer überarbeiteten Übersetzung vom Folio-Verlag neu aufgelegt.
Giorgio Scerbanenco wurde 1911 als Sohn einer Italienerin und eines Ukrainers in Kiew geboren. Kurz darauf floh seine Mutter mit ihm nach Italien, wo die beiden zunächst in Rom und dann in Mailand lebten. Scerbanenco war ein äußert eifriger Schreiber, der Hunderte Liebes-, Science-Fiction- und Westernromane unter mehr als dreißig Pseudonymen veröffentlichte und als Journalist für diverse Zeitungen und Zeitschriften arbeitete. Kleine Berühmtheit erlangte seine Kolumne "Posta di Adrian", in der er Kummerkastenonkel für die Sorgen der Leserinnen war. Schon in den vierziger Jahren hatte er sich im Schweizer Exil an Kriminalromanen versucht, doch seinen größten Erfolg hatte Scerbanenco mit seiner Lamberti-Reihe, die ihn zum "Vater des italienischen Krimis" machte. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden verfilmt, und die bedeutendste italienische Auszeichnung für Kriminalromane, der Premio Scerbanenco, ist nach ihm benannt. Er selbst bekam von all dem nicht mehr viel mit: Giorgio Scerbanenco starb 1969, im Jahr der Veröffentlichung seines letzten Lamberti-Romans, mit 58 Jahren an einem Herzinfarkt.
Der Erfolg seiner Reihe beruhte vor allem auf ihrer Hauptfigur: Duca Lamberti hat seine ärztliche Zulassung verloren, weil er wegen Sterbehilfe zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Ziemlich enttäuscht vom Leben und der Welt zwingt ihn zunächst reiner Geldmangel dazu, immer wieder zwielichtige Aufträge anzunehmen, die Kommissar Carrua, ein ehemaliger Kollege seines Vaters bei der Mailänder Polizei, ihm zukommen lässt.
Nur scheinbar geht es dabei um medizinische Probleme, denn Lamberti wittert immer Größeres. Ein dunkles Geheimnis, eine Ungereimtheit, der er - für den Gerechtigkeit alles ist - unbedingt nachgehen muss. Im ersten Band der Reihe, "Das Mädchen aus Mailand", wird Lamberti von einem reichen Industriellen gebeten, dessen Sohn von seiner Alkoholsucht zu befreien. Schnell wird Lamberti klar, dass es einen Grund für die Trinkerei geben muss und, ist dieser erst einmal gefunden, auch der Alkoholismus geheilt werden kann. Im zweiten Band, "Die Verratenen", soll Lamberti das Jungfernhäutchen einer jungen Frau nähen und gerät durch sie an einen Verbrecherring mit finsterer Kriegsvergangenheit, in dem jeder bereit ist, jeden zu verraten.
In seinem Hass auf Ungerechtigkeit ermittelt Lamberti immer hart an der Grenze zur Selbstjustiz, was ihn nicht unbedingt zu einem sympathischen Charakter macht. Seine Neigung zur körperlichen Gewalt wird manchmal geradezu exzessiv: Ein guter Tritt ins Gesicht hilft da mehr als tausend Worte. Den Falschen trifft es nie, denn die Rollen - "entweder man ist ein Gauner oder man ist keiner" - sind in Scerbanencos Romanen klar verteilt. Es gibt Männer mit "Verbrechergesichtern", die dementsprechend grausam und skrupellos sind. Und Frauen mit rehbraunem Haar und Engelsaura, die sich für die Gerechtigkeit opfern. Zwischentöne sind nicht so gefragt. "Zweideutigkeiten mag ich nicht", sagt dann bezeichnenderweise Livia, eine der Protagonistinnen, und mag Lamberti, weil der es genauso hält.
Auch dann, wenn Männer starke Zigaretten rauchen, weil Männer das eben so tun, und man Homosexuelle, seltsame Wesen mit einem Hang zum Kriminellen, daran erkennt, wie sie sprechen und sich bewegen, wirken die Romane aus der Zeit gefallen. Doch das ist erstaunlich selten der Fall. Denn an anderen Stellen sind sie geradezu modern: Livia hat eine große Leidenschaft für Soziologie, die sich ihrer Meinung nach jedoch viel zu wenig mit der Situation der Frau beschäftigt. Ihr größtes Interesse gilt der Prostitution und der Frage, ob in diesem Umfeld eine Selbstbestimmung der Frau möglich ist. "Venere privata", private Venus, der italienische Titel des ersten Bandes, spielt genau darauf an.
Scerbanenco schildert das Mailand der Wirtschaftswunderzeit, doch nicht von seiner strahlenden Seite. Es ist kein Ort gemütlicher Regionalkrimis, in denen zwar der eine oder andere Mord geschieht, am Ende aber doch das gute Essen überwiegt. Es ist eine düstere Stadt, unter deren Oberfläche es brodelt, auch wenn die Mailänder sich alle Mühe geben, das zu vergessen: "Natürlich lasen sie Tag für Tag im Corriere die übelsten Geschichten, doch schienen diese einer vierten, von einem Einstein des Verbrechens definierten Dimension anzugehören, die noch weiter weg und noch weniger nachvollziehbar war als die vierte Dimension des Einsteins der Physik."
Lamberti kann all das gar nicht verdrängen, weder bei der Detektivarbeit noch privat. Er ist pleite und durch seine Verurteilung in Verruf geraten, seine Kleidung ist abgewetzt, und mit dem wenigen Geld, das er verdient, muss er seine Schwester, alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes, versorgen. In seiner alten Praxis tauchen nicht nur die zwielichtigen Bekanntschaften ehemaliger Zellengenossen auf, sondern auch Frauen, die sich illegale Abtreibungen versprechen. So kommt er unfreiwillig immer wieder mit dem düsteren Milieu in Kontakt, in dem er später ermitteln wird.
Lamberti ist zwar ein sehr erfolgreicher Detektiv, der nicht nur die kleinen Zuarbeiter und Auftragskiller stellt, sondern ganze Verbrecherringe sprengt - ein Triumph, der den Kommissaren der meisten Mafia-Romane selten vergönnt ist. Dennoch kann man nicht gerade behaupten, dass die Lamberti-Romane ein Happy End hätten: Täter gefasst, nun ist alles wieder gut - diesen Trost gönnt Scerbanenco seinen Lesern nicht. Denn selbst wenn Lamberti den einen oder anderen Verbrecher erwischt, hat die Gerechtigkeit doch nie ganz gesiegt: "Sie mussten das Gesetz befolgen, und manchmal ist das Gesetz merkwürdig, es begünstigt den Verbrecher und bindet dem Ehrlichen die Hände."
Der Einzige, der "immer noch an Knäuel, die entwirrt werden können", glaubt, ist Mascaranti, Lambertis treuer, aber eben auch ein wenig treudoofer Helfer von der Mailänder Polizei. Lamberti dagegen weiß: Manche Fälle sind zu vertrackt, um entwirrt zu werden, und selbst wenn es eine Lösung gibt, so ist sie meist bitter erkauft. Gerade deshalb pflegt er einen fatalistischen Zynismus: "Ach, wie gerne hätte er geschossen, sehr gerne, an geeigneten Zielen fehlt es ja nie."
Obwohl sie sich in ihrer pessimistischen Grundstimmung, ihrer düsteren Atmosphäre und der Härte ihres Protagonisten an amerikanischen Kriminalromanen orientieren, sind Scerbanencos Lamberti-Romane sehr italienische Krimis. Nicht, weil die Protagonisten ab und zu mal "Buongiorno" oder "Prego" sagen, durch hübsche Städtchen fahren und zwischendurch zum Pastaessen einkehren. Sondern in ihrer Art, die italienische Geschichte, den italienischen Alltag und den Umgang miteinander zu beschreiben.
Dass ein Neapolitaner sich eben anders verhält und spricht als ein Mailänder und mit einem Sarden überhaupt nicht zu vergleichen ist, das ist in Italien immer noch so. Mailand, die Industriestadt, die zur Zeit des italienischen Wirtschaftswunders zu boomen beginnt, zieht mittellose Süditaliener in den Norden, ohne dabei all die Verheißungen zu erfüllen, die es versprochen hat. Scerbanencos Romane sind historisch und aktuell zugleich, weil man ihnen anmerkt, aus welcher Zeit sie stammen, die Probleme und Debatten jedoch, die sie beschreiben, auch zu unserer Gegenwart gehören: organisierte Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel, Sterbehilfe und die Legalisierung von Prostitution. Gleichzeitig sind sie natürlich geprägt von der Atmosphäre der Nachkriegszeit und erzählen von einer anderen Seite des wirtschaftlichen Aufstiegs: von jungen Frauen, die hoffen, in der Metropole etwas werden zu können, und abrutschen, oder von Kriegsverbrechern, die sich als Anwälte durchschummeln, von einem absurden Verständnis des Katholizismus, bei dem auch ein Zuhälter, wenn er denn heiratet, unbedingt eine Jungfrau ehelichen muss, und von der Mafia, bevor sie in Romanen und Filmen ihr cooles Gangsterimage bekam.
Bei Giorgio Scerbanenco ist sie ein anonymes, schwer zu bekämpfendes Grauen. Lambertis Vater, ebenfalls Polizist, kann ein paar Erfolge im Kampf gegen die Mafia verbuchen und wird prompt von einem Auftragskiller lahmgelegt. Er stirbt zwar nicht, behält aber einen gelähmten Arm zurück, der ihn für den Rest seines Lebens zu Büroarbeit zwingt. Wieder andere werden wegen Schutzgeldes erpresst, oder man schlitzt ihnen das Gesicht auf - nein, so richtig gemütlich ist dieses Mailand nicht. Aber genau das macht Scerbanencos Romane auch nach fünfzig Jahren noch lesenswert.
ANNA VOLLMER
Giorgio Scerbanenco: "Das Mädchen aus Mailand. Duca Lamberti ermittelt". Mit einem Nachwort von Giancarlo De Cataldo. Aus dem Italienischen von Christiane Rhein. Folio, 255 Seiten, 18 Euro
Ders.: "Die Verratenen. Duca Lamberti ermittelt". Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis. Aus dem Italienischen von Christiane Rhein, Folio, 256 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Erfinder des italienischen Kriminalromans: Giorgio Scerbanencos Bücher erscheinen jetzt wieder auf Deutsch
Das Morden gehörte in der englischsprachigen Welt schon seit Jahrzehnten zum Alltag, als in Italien noch alles friedlich war. Polizisten und Privatdetektive waren arbeitslos. Ein Staat ohne Verbrechen braucht keine Krimis, dachte sich Mussolini, als er das Genre erst zensierte und schließlich ganz verbot. Und so gab es für lange Zeit, noch Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, keinen einzigen berühmten italienischen Detektiv. Vereinzelte Kriminalromane verkauften sich zwar ganz gut, doch charismatische Serienfiguren gab es keine. Das Misstrauen gegenüber italienischen Kommissaren ging sogar so weit, dass man den Ermittler der amerikanischen Krimiserie "87th Precinct", Steve Carella, kurzerhand seiner ethnischen Wurzeln beraubte und in der italienischen Übersetzung in Steve Carell umbenannte. Mit italienischen Krimis war kein Geld zu machen. Bis Duca Lamberti kam.
In den sechziger Jahren erfand Giorgio Scerbanenco die erste erfolgreiche italienische Detektivfigur: Duca Lamberti, einen ehemaligen Arzt, der wider Willen zum draufgängerischen Ermittler wird. Sein Erfinder Scerbanenco wurde berühmt, nicht nur in Italien, sondern auch im Ausland, bis er, einige Jahre später, zumindest in Deutschland, wieder in Vergessenheit geriet. Nun erlebt er ein kleines Comeback: In Italien ist gerade ein bislang unveröffentlichter Kriminalroman aus den vierziger Jahren erschienen. Und auch auf Deutsch werden die vier berühmten Lamberti-Romane in einer überarbeiteten Übersetzung vom Folio-Verlag neu aufgelegt.
Giorgio Scerbanenco wurde 1911 als Sohn einer Italienerin und eines Ukrainers in Kiew geboren. Kurz darauf floh seine Mutter mit ihm nach Italien, wo die beiden zunächst in Rom und dann in Mailand lebten. Scerbanenco war ein äußert eifriger Schreiber, der Hunderte Liebes-, Science-Fiction- und Westernromane unter mehr als dreißig Pseudonymen veröffentlichte und als Journalist für diverse Zeitungen und Zeitschriften arbeitete. Kleine Berühmtheit erlangte seine Kolumne "Posta di Adrian", in der er Kummerkastenonkel für die Sorgen der Leserinnen war. Schon in den vierziger Jahren hatte er sich im Schweizer Exil an Kriminalromanen versucht, doch seinen größten Erfolg hatte Scerbanenco mit seiner Lamberti-Reihe, die ihn zum "Vater des italienischen Krimis" machte. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden verfilmt, und die bedeutendste italienische Auszeichnung für Kriminalromane, der Premio Scerbanenco, ist nach ihm benannt. Er selbst bekam von all dem nicht mehr viel mit: Giorgio Scerbanenco starb 1969, im Jahr der Veröffentlichung seines letzten Lamberti-Romans, mit 58 Jahren an einem Herzinfarkt.
Der Erfolg seiner Reihe beruhte vor allem auf ihrer Hauptfigur: Duca Lamberti hat seine ärztliche Zulassung verloren, weil er wegen Sterbehilfe zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Ziemlich enttäuscht vom Leben und der Welt zwingt ihn zunächst reiner Geldmangel dazu, immer wieder zwielichtige Aufträge anzunehmen, die Kommissar Carrua, ein ehemaliger Kollege seines Vaters bei der Mailänder Polizei, ihm zukommen lässt.
Nur scheinbar geht es dabei um medizinische Probleme, denn Lamberti wittert immer Größeres. Ein dunkles Geheimnis, eine Ungereimtheit, der er - für den Gerechtigkeit alles ist - unbedingt nachgehen muss. Im ersten Band der Reihe, "Das Mädchen aus Mailand", wird Lamberti von einem reichen Industriellen gebeten, dessen Sohn von seiner Alkoholsucht zu befreien. Schnell wird Lamberti klar, dass es einen Grund für die Trinkerei geben muss und, ist dieser erst einmal gefunden, auch der Alkoholismus geheilt werden kann. Im zweiten Band, "Die Verratenen", soll Lamberti das Jungfernhäutchen einer jungen Frau nähen und gerät durch sie an einen Verbrecherring mit finsterer Kriegsvergangenheit, in dem jeder bereit ist, jeden zu verraten.
In seinem Hass auf Ungerechtigkeit ermittelt Lamberti immer hart an der Grenze zur Selbstjustiz, was ihn nicht unbedingt zu einem sympathischen Charakter macht. Seine Neigung zur körperlichen Gewalt wird manchmal geradezu exzessiv: Ein guter Tritt ins Gesicht hilft da mehr als tausend Worte. Den Falschen trifft es nie, denn die Rollen - "entweder man ist ein Gauner oder man ist keiner" - sind in Scerbanencos Romanen klar verteilt. Es gibt Männer mit "Verbrechergesichtern", die dementsprechend grausam und skrupellos sind. Und Frauen mit rehbraunem Haar und Engelsaura, die sich für die Gerechtigkeit opfern. Zwischentöne sind nicht so gefragt. "Zweideutigkeiten mag ich nicht", sagt dann bezeichnenderweise Livia, eine der Protagonistinnen, und mag Lamberti, weil der es genauso hält.
Auch dann, wenn Männer starke Zigaretten rauchen, weil Männer das eben so tun, und man Homosexuelle, seltsame Wesen mit einem Hang zum Kriminellen, daran erkennt, wie sie sprechen und sich bewegen, wirken die Romane aus der Zeit gefallen. Doch das ist erstaunlich selten der Fall. Denn an anderen Stellen sind sie geradezu modern: Livia hat eine große Leidenschaft für Soziologie, die sich ihrer Meinung nach jedoch viel zu wenig mit der Situation der Frau beschäftigt. Ihr größtes Interesse gilt der Prostitution und der Frage, ob in diesem Umfeld eine Selbstbestimmung der Frau möglich ist. "Venere privata", private Venus, der italienische Titel des ersten Bandes, spielt genau darauf an.
Scerbanenco schildert das Mailand der Wirtschaftswunderzeit, doch nicht von seiner strahlenden Seite. Es ist kein Ort gemütlicher Regionalkrimis, in denen zwar der eine oder andere Mord geschieht, am Ende aber doch das gute Essen überwiegt. Es ist eine düstere Stadt, unter deren Oberfläche es brodelt, auch wenn die Mailänder sich alle Mühe geben, das zu vergessen: "Natürlich lasen sie Tag für Tag im Corriere die übelsten Geschichten, doch schienen diese einer vierten, von einem Einstein des Verbrechens definierten Dimension anzugehören, die noch weiter weg und noch weniger nachvollziehbar war als die vierte Dimension des Einsteins der Physik."
Lamberti kann all das gar nicht verdrängen, weder bei der Detektivarbeit noch privat. Er ist pleite und durch seine Verurteilung in Verruf geraten, seine Kleidung ist abgewetzt, und mit dem wenigen Geld, das er verdient, muss er seine Schwester, alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes, versorgen. In seiner alten Praxis tauchen nicht nur die zwielichtigen Bekanntschaften ehemaliger Zellengenossen auf, sondern auch Frauen, die sich illegale Abtreibungen versprechen. So kommt er unfreiwillig immer wieder mit dem düsteren Milieu in Kontakt, in dem er später ermitteln wird.
Lamberti ist zwar ein sehr erfolgreicher Detektiv, der nicht nur die kleinen Zuarbeiter und Auftragskiller stellt, sondern ganze Verbrecherringe sprengt - ein Triumph, der den Kommissaren der meisten Mafia-Romane selten vergönnt ist. Dennoch kann man nicht gerade behaupten, dass die Lamberti-Romane ein Happy End hätten: Täter gefasst, nun ist alles wieder gut - diesen Trost gönnt Scerbanenco seinen Lesern nicht. Denn selbst wenn Lamberti den einen oder anderen Verbrecher erwischt, hat die Gerechtigkeit doch nie ganz gesiegt: "Sie mussten das Gesetz befolgen, und manchmal ist das Gesetz merkwürdig, es begünstigt den Verbrecher und bindet dem Ehrlichen die Hände."
Der Einzige, der "immer noch an Knäuel, die entwirrt werden können", glaubt, ist Mascaranti, Lambertis treuer, aber eben auch ein wenig treudoofer Helfer von der Mailänder Polizei. Lamberti dagegen weiß: Manche Fälle sind zu vertrackt, um entwirrt zu werden, und selbst wenn es eine Lösung gibt, so ist sie meist bitter erkauft. Gerade deshalb pflegt er einen fatalistischen Zynismus: "Ach, wie gerne hätte er geschossen, sehr gerne, an geeigneten Zielen fehlt es ja nie."
Obwohl sie sich in ihrer pessimistischen Grundstimmung, ihrer düsteren Atmosphäre und der Härte ihres Protagonisten an amerikanischen Kriminalromanen orientieren, sind Scerbanencos Lamberti-Romane sehr italienische Krimis. Nicht, weil die Protagonisten ab und zu mal "Buongiorno" oder "Prego" sagen, durch hübsche Städtchen fahren und zwischendurch zum Pastaessen einkehren. Sondern in ihrer Art, die italienische Geschichte, den italienischen Alltag und den Umgang miteinander zu beschreiben.
Dass ein Neapolitaner sich eben anders verhält und spricht als ein Mailänder und mit einem Sarden überhaupt nicht zu vergleichen ist, das ist in Italien immer noch so. Mailand, die Industriestadt, die zur Zeit des italienischen Wirtschaftswunders zu boomen beginnt, zieht mittellose Süditaliener in den Norden, ohne dabei all die Verheißungen zu erfüllen, die es versprochen hat. Scerbanencos Romane sind historisch und aktuell zugleich, weil man ihnen anmerkt, aus welcher Zeit sie stammen, die Probleme und Debatten jedoch, die sie beschreiben, auch zu unserer Gegenwart gehören: organisierte Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel, Sterbehilfe und die Legalisierung von Prostitution. Gleichzeitig sind sie natürlich geprägt von der Atmosphäre der Nachkriegszeit und erzählen von einer anderen Seite des wirtschaftlichen Aufstiegs: von jungen Frauen, die hoffen, in der Metropole etwas werden zu können, und abrutschen, oder von Kriegsverbrechern, die sich als Anwälte durchschummeln, von einem absurden Verständnis des Katholizismus, bei dem auch ein Zuhälter, wenn er denn heiratet, unbedingt eine Jungfrau ehelichen muss, und von der Mafia, bevor sie in Romanen und Filmen ihr cooles Gangsterimage bekam.
Bei Giorgio Scerbanenco ist sie ein anonymes, schwer zu bekämpfendes Grauen. Lambertis Vater, ebenfalls Polizist, kann ein paar Erfolge im Kampf gegen die Mafia verbuchen und wird prompt von einem Auftragskiller lahmgelegt. Er stirbt zwar nicht, behält aber einen gelähmten Arm zurück, der ihn für den Rest seines Lebens zu Büroarbeit zwingt. Wieder andere werden wegen Schutzgeldes erpresst, oder man schlitzt ihnen das Gesicht auf - nein, so richtig gemütlich ist dieses Mailand nicht. Aber genau das macht Scerbanencos Romane auch nach fünfzig Jahren noch lesenswert.
ANNA VOLLMER
Giorgio Scerbanenco: "Das Mädchen aus Mailand. Duca Lamberti ermittelt". Mit einem Nachwort von Giancarlo De Cataldo. Aus dem Italienischen von Christiane Rhein. Folio, 255 Seiten, 18 Euro
Ders.: "Die Verratenen. Duca Lamberti ermittelt". Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis. Aus dem Italienischen von Christiane Rhein, Folio, 256 Seiten, 18 Euro
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