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Produktdetails
  • Reclam Bibliothek
  • Verlag: Reclam, Leipzig
  • Abmessung: 185mm
  • Gewicht: 250g
  • ISBN-13: 9783379015721
  • ISBN-10: 3379015725
  • Artikelnr.: 23913996
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.1997

Lebenslüge der Nachkriegsjustiz
Ein exemplarischer Fall in einer bewegenden Dokumentation

Winfried Seibert: Das Mädchen, das nicht Esther heißen durfte. Eine exemplarische Geschichte. Reclam-Verlag, Leipzig 1996. 309 Seiten, 16 Abbildungen, 24,- Mark.

Gustav Radbruch, exzellenter Strafrechtslehrer, für viele neben dem Rechtspositivisten Kelsen der bedeutendste deutsche Rechtsphilosoph dieses Jahrhunderts, richtete 1947 an die Rechtswissenschaft die dringliche Mahnung, sie müsse sich "wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht . . ., an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist . . . Die überkommene Auffassung des Rechts, der seit Jahrzehnten unter den deutschen Juristen unbestritten herrschende Positivismus und seine Lehre ,Gesetz ist Gesetz' war gegenüber einem solchen Unrecht in der Form des Gesetzes wehr- und machtlos". Doch das war nur die halbe Wahrheit. Wer die andere Hälfte weiterhin leugnet, prolongiert die "Lebenslüge der Nachkriegsjustiz im Westen Deutschlands". So schreibt mutig Seibert.

In vielen Fällen nämlich wurde während des Dritten Reiches Unrecht gesprochen, nicht, weil sich die Richter sklavisch an das Gesetz gehalten hätten - so es überhaupt eines gab -, sondern weil sie sich wissentlich und willentlich darüber hinwegsetzten. Ein strikter Positivismus hätte häufig nicht geschadet, vielmehr krasses Unrecht vermieden. So auch im Fall des Mädchens, das nicht Esther heißen durfte, weil der Standesbeamte diesen typisch jüdischen Namen nicht zugelassen und statt dessen eigenmächtig "Elisabeth" eingetragen hatte. Der Pfarrer Luncke aber, er war auch der Vater des Kindes, taufte es unbeirrt dennoch so.

Das alles ist nachzulesen in einem Buch, das vieles in einem ist: Bericht, Dokumentation, Biographie, Essay, rechtliche Abhandlung. Und mehr. Vor allem aber ist es ein Buch, das erregt, ja aufwühlt, zornig macht und mitleiden läßt. Bei aller Eindeutigkeit der Aussagen: Seibert, als Anwalt selbst Jurist, wiegelt nicht auf, sondern wägt ab. Und dies im Rahmen einer Geschichte, die ein distanziertes Urteil kaum zuläßt. Sie begann für den Autor, als er 1989 in der früheren Juristischen Wochenschrift auf einen Beschluß des Berliner Kammergerichts vom 28. Oktober 1938 stieß: einen Schandbeschluß. Er bestätigte in letzter Instanz die Entscheidung des Standesbeamten: Ein deutsches Mädchen trägt nicht den Namen der biblischen Esther. Zumal "eine solche verbrecherische Dirne jüdischer Rasse . . . den deutschen Frauen unserer Zeit nichts bedeuten kann".

Dieser Zusatz hatte mit Positivismus nichts zu tun, dagegen alles mit nazistischer Ideologie, ihrem Rassenwahn. Zum "staatlich propagierten Schwachsinn des Rassegedankens" griffen die Richter auch, um sich aus einer Peinlichkeit besonderer Art vermeintlich zu befreien. Typisch jüdische Namen kamen in der deutschen Kultur nicht selten vor. Bei dem deutschen Tonsetzer Händel wimmelt es davon. Aber die findigen Richter wußten Rat. Denn Händels Oratorien sind "in einer Zeit entstanden, welche kein Verständnis für den Rassegedanken hatte. Sie können deshalb nicht den Maßstab bilden, nach dem in der heutigen Zeit die Auswahl von Vornamen von deutschen Kindern zu geschehen hat." Dies zu schreiben hatte das Gericht niemand gezwungen. Auch kein Gesetz. Als "Rechtsgrundlage" diente den ideologisierten Richtern allein eine bloße Empfehlung des Reichsministers des Innern, wonach deutsche Kinder grundsätzlich auch nur deutsche Vornamen tragen sollten. "Völlig eingedeutschte" fremde Namen durften allerdings Verwendung finden. Auch unter diesem Gesichtspunkt schied "Esther" klar aus. Die ministeriellen Richtlinien boten eine Handhabe, dem Kind seinen Namen zu verweigern, indessen nur, sofern man skrupellos genug war, hierfür überhaupt kein Gesetz zu verlangen. Dazu waren die Richter des Kammergerichts, vordem das berühmteste deutsche Oberlandesgericht, bereit. Dieses gesetzliche Defizit wurde mehr als wettgemacht durch ein - mit aller Vorsicht formuliert - nationalsozialistisches Naturrecht. Bernd Rüthers hat daran erinnert, daß Carl Schmitt, einer der Kronjuristen des Dritten Reiches, wie Hitler seinen Antisemitismus verbrämte. "Indem ich mich der Juden erwehre . . ., kämpfe ich für das Werk des Herrn."

Es ist längst an der Zeit, zu begreifen und offen zu sagen, daß ein Rechtsstaat mit oder ohne geschriebenen Gesetzen, mit oder ohne Metaphysik, gleich welcher Provenienz, also jenseits von Positivismus und Naturrecht, gedeiht oder verdirbt nach dem Maß der rechtlichen Gesinnung seiner Bürger - und der Qualität seiner Richter. Wer konkretes Anschauungsmaterial sucht, findet es reichlich in Seiberts Buch, dem das Mädchen Esther den Titel gab. Erzählt wird darin auch aus ihrem Leben und dem Leben der Eltern, soweit der Autor es nachzuzeichnen vermochte. Eine der Hauptschwierigkeiten war, erst einmal herauszufinden, um wen es sich bei dem im Kammergerichtsbeschluß genannten "Pfarrer L." überhaupt handelte. Seibert tat noch ein übriges. Er war mit großem Erfolg bemüht, die Karrieren der Kammerherren zu rekonstruieren, wobei allerdings nicht feststeht, in welcher Besetzung der Senat den Fall Esther verhandelte.

Einen der vier Richter kennen die meisten Juristen der mittleren bis älteren Generation: Dr. Claus Seibert. Der Kammergerichtsrat wird nach dem Kriege schnell Oberlandesgerichtsrat in Hamm, wo sein Vater Vizepräsident gewesen war. Seit 1953 sieht man ihn als Richter am Bundesgerichtshof. Und obendrein ist er, wie schon früher, als juristischer Schriftsteller tätig. Winfried Seibert - daß die Namensgleichheit eine zufällige ist, erfährt der aufmerksame Leser zu seiner Erleichterung aus einer Anmerkung - charakterisiert dessen Texte zutreffend so: "Vergnüglich zu lesen, ohne unnötigen Tiefsinn." Auch "voller Sympathie über den jüdischen Rechtsanwalt Max Alsberg". Der - um wenigstens noch eines der vielen Fallbeispiele zu nennen - als Jude im Deutschland Hitlers und seiner Richter keinen Mieterschutz genossen hätte gegenüber einem arischen Kläger. Weil, so ein richterlicher Ausleger des geltenden Mieterschutzgesetzes, dieses nach Sinn und Zweck und dem gesunden Rechtsempfinden des Volkes nicht auf Personen Anwendung finden darf, die "außerhalb der Gemeinschaft des deutschen Volkes stehen und auch nie zu ihr gehören können". Offenbar sind es doch allein die Menschen, auf die es ankommt. Innig zu wünschen, die Zeiten mögen so bleiben, daß dies kein schwacher Trost ist. WALTER GRASNICK

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Winfried Seibert zeigt in fesselnder Lektüre eine "exemplarische Geschichte" auf, die Einblicke in das Dritte Reich gewährt und dabei die Rolle der Justiz beleuchtet. Er wagt zu fragen, wie die Juden in Deutschland hätten leben dürfen, "wenn die NS-Diktatur die Vernichtung nicht gewagt hätte". Außerdem unternimmt er einen Exkurs in die Geschichte jüdischer Vornamen unter den Aspekten der Nürnberger Rassengesetze. Ostthüringer Zeitung