Märchenhaft und berührend
Irgendwo in einer großen Stadt, in Westeuropa. Ein kleines Mädchen kommt auf den Markt, hat Hunger. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand »Polizei« sagt, beginnt sie zu schreien. Woher sie kommt? Warum sie hier ist? Wie sie heißt? Sie weiß es nicht. Michael Köhlmeier erzählt von einem Leben am Rande, von der kindlichen Kraft des Überlebens, von unserer Gegenwart.
Irgendwo in einer großen Stadt, in Westeuropa. Ein kleines Mädchen kommt auf den Markt, hat Hunger. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand »Polizei« sagt, beginnt sie zu schreien. Woher sie kommt? Warum sie hier ist? Wie sie heißt? Sie weiß es nicht. Michael Köhlmeier erzählt von einem Leben am Rande, von der kindlichen Kraft des Überlebens, von unserer Gegenwart.
Berührend ist dieser Roman, ein starker Text mit Aussagekraft! bookreviews.at 20190107
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Das Titelbild, also der erste Eindruck von Michael Köhlmeiers kleinem Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" trügt, warnt Rezensent Hubert Winkels. Das ist kein Roman über ein erbarmungswürdiges kleines Mädchen. Es ist auch kein Märchen oder ein Flüchtlingsroman. Man könne es zwar so lesen, doch die Intensität, die Köhlmeier hier wortkarg entfaltet, bekommt man mit solchen Einordnungen nicht zu fassen, findet Winkels. Dieser Roman ist grausam. Das Mädchen und zwei andere Kinder verweigern jede Kommunikation, eine Frau, die das Kind erziehen will, wird umgebracht. Humane Integration? Wird von den Kindern nicht mal als Möglichkeit erkannt. Diese Botschaft wird noch stärker durch den super reduzierten Stil Köhlmeier, lobt Winkels. Da bleibt kein Auge trocken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2016Die Ungerührten
Michael Köhlmeier erzählt die Geschichte
eines Flüchtlingskinds als modernes Märchen
VON INSA WILKE
Michael Köhlmeier ist ein stiller Mann. Und dies ist ein stilles Buch: Sein Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ beschreibt einen großen, lautlosen Raum und ein Kind, das sich durch diesen Raum bewegt und überlebt. Im Moment werden viele dieses Buch ganz konkret lesen und vermuten: Michael Köhlmeier hat sich ein sechsjähriges Flüchtlingsmädchen vorgestellt, das allein in einem reichen Land zurückgelassen wird, dessen Sprache es nicht spricht. Das hungert und gefährlich erkrankt, das Freunde findet und verliert, von der Polizei aufgegriffen und in ein Heim gebracht wird, aus dem Heim ausbüxt und vagabundiert, bis eine böse, alte Frau es in ihrem Knusperhäuschen einsperrt.
Aber so – als Abenteuergeschichte, Märchen oder Rührstück – erzählt Michael Köhlmeier die Geschichte nicht. Er erzählt sie so: „Der Boden unter dem Zaun war weich und uneben. An einer Stelle konnte man hindurchkriechen. Wenn man klein war. Und wenn man mager war. Das waren sie. Und wenn man Laub und Erde mit den Händen beiseite schaufelte. Das taten sie.“ Aus größtmöglicher Nähe und zugleich mit größtmöglicher Distanz protokolliert der Erzähler die Bewegungen der Kinder, als müsse er die Sprache ausnüchtern, von allem Gefühl befreien: „Das Kind ging an einem Kaffeehaus vorbei, gerade in dem Moment, als ein Mann und eine Frau heraustraten. Er hielt die Tür auf, um höflich zu sein, was ihm seine Frau dankte. (. . .) Vielleicht hätten sie das Kind in der heißen Schleuse sitzen lassen. Vielleicht nicht.“
Eine Tür geht auf, Licht und Wärme fallen heraus, und sichtbar wird eine Welt mit sicheren Abläufen und klaren Regeln. Yiza, so nennt sich das Mädchen später, ist hingegen in den Fängen des Zufalls. Das Gefühl für ihre Wahrnehmung vermittelt Köhlmeier gerade durch die Abwesenheit von Gefühl. Ein Effekt, der besonders stark wirkt, weil seine Helden Kinder sind. Den eher üblichen Impuls, sie einzusetzen, um Mitleid und Rührung auszulösen, lässt diese Erzählweise ins Leere laufen.
Für ihre Parallel-Welt muss Yiza die Regeln erst finden. Solche zum Beispiel: „Sie mögen Kinder nicht, die Augenbrauen haben wie du. Ich weiß, dass es so ist.“ Oder die Regel vom nützlichen Mitglied der Gesellschaft, dessen Maske Unsichtbarkeit garantiert: „Sie trugen die Plane, und die Menschen dachten, diese Kinder seien gebeten worden, eine Plane zu tragen, man darf sie nicht daran hindern. Das sah Arian in den Gesichtern, die sich ihnen zuwandten.“ Michael Köhlmeiers Kinder sind auch Reflexionsflächen, in denen sich die Welt der Götter spiegelt, als die ihnen die Bewohner dieses Landes erscheinen müssen. – Unsere Welt also, in der gute Menschen ihr böses Gesicht zeigen, wenn Flüchtlinge nicht nur niedlich und hilfsbedürftig sind, also nicht nur weiße Blätter, die sich von hiesigen Wünschen und Bedürfnissen beschreiben lassen. Kinder sind die Zukunft, heißt es immer. Welcher Zukunft sehen also Köhlmeiers Leserinnen und Leser beim Entstehen zu, fragt man sich schon während der Lektüre.
In Österreich ist der Romancier Köhlmeier auch als Nacherzähler von Sagen des klassischen Altertums, als Kenner von Mythen und Legenden bekannt. Er hat ein Gespür für die Urkräfte des Erzählens, die aus der Stille kommen und zeitlos wirken. Wie Hans Christian Andersen, dessen „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ schon im Titel mitklingt, nutzt er die sprachbildende Kraft von Volkserzählungen, um eine Sozialreportage in eine Geschichte zu verwandeln, die in den Grund einsickert, auf dem wir stehen.
Sein Buch wird zwar jetzt häufig in einem Atemzug mit anderen Romanen „zur Flüchtlingsdebatte“ genannt, aber eigentlich ist es dem abgelauscht, was unter den aktuellen politischen Debatten liegt. Den Verschiebungen der Kontinentalplatten des europäischen Zusammenlebens. Wenn das stimmt, wird „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ einmal als düstere Urgeschichte einer neuen Zeit gelesen werden, und man wird sich hoffentlich nicht fragen müssen, an welcher Stelle man die Entstehung dieser neuen Menschen, die man die Ungerührten nennen wird, hätte verhindern können. Oder ist es mit ihnen eher so, wie Christoph Ransmayr diese schon bei Ovid auftauchenden Wesen in „Die letzte Welt“ deutet? Kündigen sie eine zwiespältige Utopie an, weil mit den Gefühlen auch Hass und Angst verschwunden sind und man wieder das Gesetz achtet, Hilfesuchenden ganz rational Schutz zu gewähren, anstatt sie mit wenig stabilen Gefühlen zu bedrängen?
„Das Mädchen mit dem Fingerhut“ gibt auf all diese Fragen keine Antworten. Michael Köhlmeier beschreibt nur, was er sich an der Seite von Yiza vorstellt zu sehen und nimmt dabei doch die Gegenposition zu den Ungerührten ein. Überhaupt ist der Umgang mit Gefühlen und ihrer Abwesenheit kompliziert, weil er auf der Ebene der Erzählweise eine andere Bedeutung hat und anders beurteilt werden muss als auf der Ebene der Figuren, auf der dann noch einmal zu unterscheiden ist zwischen Yiza und den Menschen, die ihr helfen und helfen könnten.
Nachdenklich bleibt man nach der Lektüre zurück. Diese Nachdenklichkeit wird der Maßstab sein, an dem sich andere Autorinnen und Autoren, die von Fremde und Überleben erzählen und sich dabei auf ihre Vorstellungskraft und nicht auf Erfahrungen berufen, messen lassen müssen.
Schicksale wie dieses sind
der Stoff für die Volkserzählungen
einer neuen Zeitrechnung
„Der Boden unter dem Zaun war weich und uneben. An einer Stelle konnte man hindurchkriechen.“
Foto: Regina Schmeken
Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016. 144 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Köhlmeier erzählt die Geschichte
eines Flüchtlingskinds als modernes Märchen
VON INSA WILKE
Michael Köhlmeier ist ein stiller Mann. Und dies ist ein stilles Buch: Sein Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ beschreibt einen großen, lautlosen Raum und ein Kind, das sich durch diesen Raum bewegt und überlebt. Im Moment werden viele dieses Buch ganz konkret lesen und vermuten: Michael Köhlmeier hat sich ein sechsjähriges Flüchtlingsmädchen vorgestellt, das allein in einem reichen Land zurückgelassen wird, dessen Sprache es nicht spricht. Das hungert und gefährlich erkrankt, das Freunde findet und verliert, von der Polizei aufgegriffen und in ein Heim gebracht wird, aus dem Heim ausbüxt und vagabundiert, bis eine böse, alte Frau es in ihrem Knusperhäuschen einsperrt.
Aber so – als Abenteuergeschichte, Märchen oder Rührstück – erzählt Michael Köhlmeier die Geschichte nicht. Er erzählt sie so: „Der Boden unter dem Zaun war weich und uneben. An einer Stelle konnte man hindurchkriechen. Wenn man klein war. Und wenn man mager war. Das waren sie. Und wenn man Laub und Erde mit den Händen beiseite schaufelte. Das taten sie.“ Aus größtmöglicher Nähe und zugleich mit größtmöglicher Distanz protokolliert der Erzähler die Bewegungen der Kinder, als müsse er die Sprache ausnüchtern, von allem Gefühl befreien: „Das Kind ging an einem Kaffeehaus vorbei, gerade in dem Moment, als ein Mann und eine Frau heraustraten. Er hielt die Tür auf, um höflich zu sein, was ihm seine Frau dankte. (. . .) Vielleicht hätten sie das Kind in der heißen Schleuse sitzen lassen. Vielleicht nicht.“
Eine Tür geht auf, Licht und Wärme fallen heraus, und sichtbar wird eine Welt mit sicheren Abläufen und klaren Regeln. Yiza, so nennt sich das Mädchen später, ist hingegen in den Fängen des Zufalls. Das Gefühl für ihre Wahrnehmung vermittelt Köhlmeier gerade durch die Abwesenheit von Gefühl. Ein Effekt, der besonders stark wirkt, weil seine Helden Kinder sind. Den eher üblichen Impuls, sie einzusetzen, um Mitleid und Rührung auszulösen, lässt diese Erzählweise ins Leere laufen.
Für ihre Parallel-Welt muss Yiza die Regeln erst finden. Solche zum Beispiel: „Sie mögen Kinder nicht, die Augenbrauen haben wie du. Ich weiß, dass es so ist.“ Oder die Regel vom nützlichen Mitglied der Gesellschaft, dessen Maske Unsichtbarkeit garantiert: „Sie trugen die Plane, und die Menschen dachten, diese Kinder seien gebeten worden, eine Plane zu tragen, man darf sie nicht daran hindern. Das sah Arian in den Gesichtern, die sich ihnen zuwandten.“ Michael Köhlmeiers Kinder sind auch Reflexionsflächen, in denen sich die Welt der Götter spiegelt, als die ihnen die Bewohner dieses Landes erscheinen müssen. – Unsere Welt also, in der gute Menschen ihr böses Gesicht zeigen, wenn Flüchtlinge nicht nur niedlich und hilfsbedürftig sind, also nicht nur weiße Blätter, die sich von hiesigen Wünschen und Bedürfnissen beschreiben lassen. Kinder sind die Zukunft, heißt es immer. Welcher Zukunft sehen also Köhlmeiers Leserinnen und Leser beim Entstehen zu, fragt man sich schon während der Lektüre.
In Österreich ist der Romancier Köhlmeier auch als Nacherzähler von Sagen des klassischen Altertums, als Kenner von Mythen und Legenden bekannt. Er hat ein Gespür für die Urkräfte des Erzählens, die aus der Stille kommen und zeitlos wirken. Wie Hans Christian Andersen, dessen „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ schon im Titel mitklingt, nutzt er die sprachbildende Kraft von Volkserzählungen, um eine Sozialreportage in eine Geschichte zu verwandeln, die in den Grund einsickert, auf dem wir stehen.
Sein Buch wird zwar jetzt häufig in einem Atemzug mit anderen Romanen „zur Flüchtlingsdebatte“ genannt, aber eigentlich ist es dem abgelauscht, was unter den aktuellen politischen Debatten liegt. Den Verschiebungen der Kontinentalplatten des europäischen Zusammenlebens. Wenn das stimmt, wird „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ einmal als düstere Urgeschichte einer neuen Zeit gelesen werden, und man wird sich hoffentlich nicht fragen müssen, an welcher Stelle man die Entstehung dieser neuen Menschen, die man die Ungerührten nennen wird, hätte verhindern können. Oder ist es mit ihnen eher so, wie Christoph Ransmayr diese schon bei Ovid auftauchenden Wesen in „Die letzte Welt“ deutet? Kündigen sie eine zwiespältige Utopie an, weil mit den Gefühlen auch Hass und Angst verschwunden sind und man wieder das Gesetz achtet, Hilfesuchenden ganz rational Schutz zu gewähren, anstatt sie mit wenig stabilen Gefühlen zu bedrängen?
„Das Mädchen mit dem Fingerhut“ gibt auf all diese Fragen keine Antworten. Michael Köhlmeier beschreibt nur, was er sich an der Seite von Yiza vorstellt zu sehen und nimmt dabei doch die Gegenposition zu den Ungerührten ein. Überhaupt ist der Umgang mit Gefühlen und ihrer Abwesenheit kompliziert, weil er auf der Ebene der Erzählweise eine andere Bedeutung hat und anders beurteilt werden muss als auf der Ebene der Figuren, auf der dann noch einmal zu unterscheiden ist zwischen Yiza und den Menschen, die ihr helfen und helfen könnten.
Nachdenklich bleibt man nach der Lektüre zurück. Diese Nachdenklichkeit wird der Maßstab sein, an dem sich andere Autorinnen und Autoren, die von Fremde und Überleben erzählen und sich dabei auf ihre Vorstellungskraft und nicht auf Erfahrungen berufen, messen lassen müssen.
Schicksale wie dieses sind
der Stoff für die Volkserzählungen
einer neuen Zeitrechnung
„Der Boden unter dem Zaun war weich und uneben. An einer Stelle konnte man hindurchkriechen.“
Foto: Regina Schmeken
Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016. 144 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2016Wolfskinder und Mitleidshexen
Michael Köhlmeiers Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" macht aus dem Flüchtlingsthema eine höchst ambivalente Märchenparabel.
Zu den wichtigen Kunstgriffen des Erzählens gehört die Einstellung des Realienpegels, also die Sättigung eines Textes mit Informationen, empirischen Sachverhalten, Wer-wo-was-Wissen. Wird der Pegel hoch angesetzt, kommt Doku-Fiktion heraus, eine Reportage oder ein tatsachengesättigter Roman, der mit seiner realistischen Konkretion das Unwahrscheinlichste verbürgen kann - wie Michael Köhlmeiers Epos "Abendland". Wird er niedrig eingestellt, verflüchtigt sich das Erzählte aus den festen Koordinaten von Raum und Zeit, bekommt dadurch aber die Reize des Mythischen und Märchenhaften - wie Köhlmeiers neuer und sehr viel schmalerer Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut".
Es spricht für das hohe handwerkliche Können dieses Autors, dass er mit solchen Variationen zu arbeiten versteht und sich zudem nicht auf einen Stil festlegen lässt, sondern die Schreibweise den Erfordernissen anpasst: ein komplexer, elaborierter Satzbau in "Abendland", ein schlichter, zurückgenommener, andeutender Duktus in "Das Mädchen mit dem Fingerhut". Dass sich Michael Köhlmeier lange Jahre profiliert hat als saalfüllender Nacherzähler von Mythen und Märchen, ist da natürlich kein Nachteil.
Sechs Jahre alt ist das Mädchen, Yiza womöglich ihr Name. Geflohen oder zugewandert ist sie in eine vermutlich mitteleuropäische Stadt, mitten in einem kalten, schneereichen Winter. Ein "Onkel" schickt sie zum Betteln und holt sie abends ab. Und warnt sie vor dem Wort "Polizei". Fast alles in der ungewohnten Umgebung ist dem Mädchen fremd und kaum verständlich, sogar ein süßer Genuss, von dem Kinder sonst selten genug bekommen: "Sie mochte nicht, wie Schokolade roch, auch die Farbe mochte sie nicht, auch nicht, dass sie hart war wie ein Holz." Von welchem Stern voller Bitterstoffe ist dieses Mädchen auf die Erde gefallen?
Eines Abends kommt der "Onkel" nicht, und das Mädchen ist auf sich selbst angewiesen. Sie verläuft sich in der Stadt, wo sie die Sprache der Menschen nicht versteht, leidet Hunger, friert, und weil sie einmal beobachtet hat, wie Frauen "gute Sachen" aus einem Container gefischt haben, klettert sie bald in einen solchen Container, nährt und wärmt sich im Müll. Über Nacht schneit es. Schlafend wird sie am nächsten Tag im Windfang eines Kaffeehauses gefunden und erst zur Polizei, dann in ein Kinderheim gebracht, wo sie viel Zuwendung sprachlos und ungerührt über sich ergehen lässt. Trotzdem flieht sie bald aus dem Kinderheim, mit zwei halbwüchsigen Jungen, von denen einer, Arian, ihr einen Fingerhut schenkt, der zum Zeichen ihrer Verbundenheit wird.
Die Mechanismen des Mitleids sind ein Grundmotiv des kleinen Romans. Arian gewinnt beim Betteln in der U-Bahn die Erkenntnis, dass man mit stumm ausstreckten Händen wenig Geld bekommt, die Worte "Aspirin, bitte" aber zu einer erklecklichen Summe verhelfen. Ein niedliches sechsjähriges Mädchen ist eine Mitleidsfee, das Helferinstinkte zuverlässig auslöst; gerade deshalb wirkt Andersens Märchen vom erfrierenden kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern ja so erschütternd. Yiza ist eine durch Fieberfröste gehende Verwandte der Andersen-Figur. Weil sie zuverlässig Gefühle der Anteilnahme und Rührung triggert und überall zum "Liebling" wird, rückt das Mitleid aber auch ins Zwielicht. Was ist von einem moralischen Affekt zu halten, auf den Jugendliche wie Arian nicht mehr rechnen können, weil sie wegen üppig gewachsener Augenbrauen oder erstem Bartschatten auf den Wangen aus dem angeborenen Reiz-Reaktions-Schema fallen?
Weniger von den Geschichten unbegleiteter Flüchtlinge im heutigen Europa hat sich Michael Köhlmeier inspirieren lassen als von Berichten über die "Wolfskinder" am Ende des Zweiten Weltkriegs - Kriegswaisen, die sich in den von Flucht, Vertreibung und Hungersnot geprägten Gebieten des Ostens jahrelang allein durchschlugen, verwahrlosten und Banden bildeten. Zu solchen wölfisch-amoralischen Überlebenskämpfern entwickeln sich auch Yiza und die beiden Jungen. Sie klauen, betteln und brechen in Häuser ein, unter anderem in das eines Paares, das keine Kinder, aber ein Wohnzimmer voller Puppen hat. Diese Passagen werden nach einer Weile problematisch - weder sind die Kinder sonderlich sympathisch, noch kommt man ihnen durch Introspektion näher (Märchen sparen die Innenwelt der Figuren aus, setzen mehr auf Symbolik als auf Psychologie). Auch die Handlung gewinnt wenig Zug, sondern irrt mit den Kindern durch die kalten Tage, protokolliert ihre mal einfallsreichen, mal befremdlichen Versuche, trockene Plätze, Nahrung, Wärme und Schlaf zu finden und gelegentlich der Polizei zu entkommen.
Gegen Ende kommt aber doch Spannung auf. Yiza wird krank und von ihrem fürsorglichen Kumpan Arian getrennt. Sie landet, so ließe sich deuten, in der Villa einer Mitleidshexe, einer weiteren Repräsentantin der Welt des kinderlosen Wohlstands. Die Hexe sagt: "Meine Kleine, jetzt wird alles gut." Sie badet das Mädchen und beginnt einen forschen Willkommenskurs: "Heute schläfst du. Dann essen wir gemeinsam ... Dann ziehst du die neuen Sachen an ... Dann lernst du meine Sprache. Dann leben wir zusammen." Und: "Sag Oma zu mir ... Das ist leichter als Renate." Sie sperrt das Kind ein, mit besten Absichten, versteht sich. Nein, sie will es nicht fressen, es geht um symbolische Einverleibung. Aber dann kommt Arian zurück. Wie es sich für ein Märchen gehört, schlägt er die Mitleidshexe tot. Falls man doch eher zu einer realistischen Lesart geneigt ist, wird man denken: Unbegleitete Flüchtlingskinder sollte man auf keinen Fall unterschätzen. Wölfe sind gefährlich, Wolfskinder auch - eine "Horde von Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Mitleid und Rührung".
Michael Köhlmeiers Märchenparabel läuft nicht auf eine einsinnige Moral hinaus, sondern betreibt ein hintergründiges Spiel mit den Ambivalenzen, die uns in Zeiten der Flüchtlingskrise alle beschäftigen und quälen. Es ist eine einfach erzählte Geschichte, man hat sie schnell gelesen, aber sie gibt lange zu denken.
WOLFGANG SCHNEIDER
Michael Köhlmeier:
"Das Mädchen mit dem
Fingerhut". Roman.
Hanser Verlag, München 2016. 140 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Köhlmeiers Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" macht aus dem Flüchtlingsthema eine höchst ambivalente Märchenparabel.
Zu den wichtigen Kunstgriffen des Erzählens gehört die Einstellung des Realienpegels, also die Sättigung eines Textes mit Informationen, empirischen Sachverhalten, Wer-wo-was-Wissen. Wird der Pegel hoch angesetzt, kommt Doku-Fiktion heraus, eine Reportage oder ein tatsachengesättigter Roman, der mit seiner realistischen Konkretion das Unwahrscheinlichste verbürgen kann - wie Michael Köhlmeiers Epos "Abendland". Wird er niedrig eingestellt, verflüchtigt sich das Erzählte aus den festen Koordinaten von Raum und Zeit, bekommt dadurch aber die Reize des Mythischen und Märchenhaften - wie Köhlmeiers neuer und sehr viel schmalerer Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut".
Es spricht für das hohe handwerkliche Können dieses Autors, dass er mit solchen Variationen zu arbeiten versteht und sich zudem nicht auf einen Stil festlegen lässt, sondern die Schreibweise den Erfordernissen anpasst: ein komplexer, elaborierter Satzbau in "Abendland", ein schlichter, zurückgenommener, andeutender Duktus in "Das Mädchen mit dem Fingerhut". Dass sich Michael Köhlmeier lange Jahre profiliert hat als saalfüllender Nacherzähler von Mythen und Märchen, ist da natürlich kein Nachteil.
Sechs Jahre alt ist das Mädchen, Yiza womöglich ihr Name. Geflohen oder zugewandert ist sie in eine vermutlich mitteleuropäische Stadt, mitten in einem kalten, schneereichen Winter. Ein "Onkel" schickt sie zum Betteln und holt sie abends ab. Und warnt sie vor dem Wort "Polizei". Fast alles in der ungewohnten Umgebung ist dem Mädchen fremd und kaum verständlich, sogar ein süßer Genuss, von dem Kinder sonst selten genug bekommen: "Sie mochte nicht, wie Schokolade roch, auch die Farbe mochte sie nicht, auch nicht, dass sie hart war wie ein Holz." Von welchem Stern voller Bitterstoffe ist dieses Mädchen auf die Erde gefallen?
Eines Abends kommt der "Onkel" nicht, und das Mädchen ist auf sich selbst angewiesen. Sie verläuft sich in der Stadt, wo sie die Sprache der Menschen nicht versteht, leidet Hunger, friert, und weil sie einmal beobachtet hat, wie Frauen "gute Sachen" aus einem Container gefischt haben, klettert sie bald in einen solchen Container, nährt und wärmt sich im Müll. Über Nacht schneit es. Schlafend wird sie am nächsten Tag im Windfang eines Kaffeehauses gefunden und erst zur Polizei, dann in ein Kinderheim gebracht, wo sie viel Zuwendung sprachlos und ungerührt über sich ergehen lässt. Trotzdem flieht sie bald aus dem Kinderheim, mit zwei halbwüchsigen Jungen, von denen einer, Arian, ihr einen Fingerhut schenkt, der zum Zeichen ihrer Verbundenheit wird.
Die Mechanismen des Mitleids sind ein Grundmotiv des kleinen Romans. Arian gewinnt beim Betteln in der U-Bahn die Erkenntnis, dass man mit stumm ausstreckten Händen wenig Geld bekommt, die Worte "Aspirin, bitte" aber zu einer erklecklichen Summe verhelfen. Ein niedliches sechsjähriges Mädchen ist eine Mitleidsfee, das Helferinstinkte zuverlässig auslöst; gerade deshalb wirkt Andersens Märchen vom erfrierenden kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern ja so erschütternd. Yiza ist eine durch Fieberfröste gehende Verwandte der Andersen-Figur. Weil sie zuverlässig Gefühle der Anteilnahme und Rührung triggert und überall zum "Liebling" wird, rückt das Mitleid aber auch ins Zwielicht. Was ist von einem moralischen Affekt zu halten, auf den Jugendliche wie Arian nicht mehr rechnen können, weil sie wegen üppig gewachsener Augenbrauen oder erstem Bartschatten auf den Wangen aus dem angeborenen Reiz-Reaktions-Schema fallen?
Weniger von den Geschichten unbegleiteter Flüchtlinge im heutigen Europa hat sich Michael Köhlmeier inspirieren lassen als von Berichten über die "Wolfskinder" am Ende des Zweiten Weltkriegs - Kriegswaisen, die sich in den von Flucht, Vertreibung und Hungersnot geprägten Gebieten des Ostens jahrelang allein durchschlugen, verwahrlosten und Banden bildeten. Zu solchen wölfisch-amoralischen Überlebenskämpfern entwickeln sich auch Yiza und die beiden Jungen. Sie klauen, betteln und brechen in Häuser ein, unter anderem in das eines Paares, das keine Kinder, aber ein Wohnzimmer voller Puppen hat. Diese Passagen werden nach einer Weile problematisch - weder sind die Kinder sonderlich sympathisch, noch kommt man ihnen durch Introspektion näher (Märchen sparen die Innenwelt der Figuren aus, setzen mehr auf Symbolik als auf Psychologie). Auch die Handlung gewinnt wenig Zug, sondern irrt mit den Kindern durch die kalten Tage, protokolliert ihre mal einfallsreichen, mal befremdlichen Versuche, trockene Plätze, Nahrung, Wärme und Schlaf zu finden und gelegentlich der Polizei zu entkommen.
Gegen Ende kommt aber doch Spannung auf. Yiza wird krank und von ihrem fürsorglichen Kumpan Arian getrennt. Sie landet, so ließe sich deuten, in der Villa einer Mitleidshexe, einer weiteren Repräsentantin der Welt des kinderlosen Wohlstands. Die Hexe sagt: "Meine Kleine, jetzt wird alles gut." Sie badet das Mädchen und beginnt einen forschen Willkommenskurs: "Heute schläfst du. Dann essen wir gemeinsam ... Dann ziehst du die neuen Sachen an ... Dann lernst du meine Sprache. Dann leben wir zusammen." Und: "Sag Oma zu mir ... Das ist leichter als Renate." Sie sperrt das Kind ein, mit besten Absichten, versteht sich. Nein, sie will es nicht fressen, es geht um symbolische Einverleibung. Aber dann kommt Arian zurück. Wie es sich für ein Märchen gehört, schlägt er die Mitleidshexe tot. Falls man doch eher zu einer realistischen Lesart geneigt ist, wird man denken: Unbegleitete Flüchtlingskinder sollte man auf keinen Fall unterschätzen. Wölfe sind gefährlich, Wolfskinder auch - eine "Horde von Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Mitleid und Rührung".
Michael Köhlmeiers Märchenparabel läuft nicht auf eine einsinnige Moral hinaus, sondern betreibt ein hintergründiges Spiel mit den Ambivalenzen, die uns in Zeiten der Flüchtlingskrise alle beschäftigen und quälen. Es ist eine einfach erzählte Geschichte, man hat sie schnell gelesen, aber sie gibt lange zu denken.
WOLFGANG SCHNEIDER
Michael Köhlmeier:
"Das Mädchen mit dem
Fingerhut". Roman.
Hanser Verlag, München 2016. 140 S., geb., 18,90 [Euro].
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