Die zwölfjährige Ji-li scheint als herausragende Schülerin und Klassensprecherin eine glänzende Zukunft vor sich zu haben. Da beginnt in China die Kulturrevolution. Von einem Tag auf den anderen sind gute Noten eine Schande, ehemals schlechte Schüler werden zu Wortführern, auch außerhalb der Schule. Als begeisterte Anhängerin Maos setzt Ji-li alles daran, bei der Umsetzung seiner Ideen zu helfen. Doch sie und ihre Familie besitzen den falschen Klassenstatus, sie sind wohlhabend. Ji-li wird deshalb von früheren Freunden gedemütigt, ihre Familie von Nachbarn denunziert. Als eines Tages sogar ihr Vater verhaftet wird, steht Ji-li vor einer großen Gewissensfrage: Wird sie ihren eigenen Vater verraten und damit die ganze Familie? Oder wird sie die Kraft haben, sich diesem Druck zu widersetzen, und ihre eigene Zukunft in der Kommunistischen Partei auf Spiel setzen?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2001Wenn sich die Erde auftut
Ein junges Mädchen erlebt die chinesische Kulturrevolution – ihre Familie wird zerstört und ihr Weltbild zerbricht
JI-LI JIANG: Das Mädchen mit dem roten Tuch, Thienemann Verlag, Stuttgart 2001. 315 Seiten, 29,97 Mark.
Für Jugendliche, die in einer Demokratie aufwachsen, dürfte es nicht leicht sein, das Buch von Ji-li Jiang zu lesen, zu verstehen – und zu ertragen. Nicht nur, weil die chinesische Kulturrevolution lange her ist und die Voraussetzungen zum Verständnis für eine der schrecklichsten Phasen kommunistischer Herrschaft in China auch in der Kenntnis der politischen Zusammenhänge liegen. Dass Hunderttausende sterben mussten, Millionen in Umerziehungslager gesteckt wurden, dass ungebildete, hasserfüllte Proleten plötzlich auf Straßen und in Betrieben das Sagen hatten, dass eine traditionsreiche, blühende Kultur willkürlich zerstört wurde – all das ist Teil jener Kulturrevolution gewesen, die China vermutlich mehr geschadet, die Seele des Landes mehr verletzt hat als etwa der „Große Sprung nach vorn” Ende der 50er Jahre, der eine grauenhafte Hungersnot zur Folge hatte.
Aber aus einem zweiten Grund noch ist dieses politische Jugendbuch schwere Kost: Jugendliche, die Politik nur aus der Tagesschau und eventuell aus dem Gemeinderat kennen, werden schwerlich verstehen, wie die Macht politischer Führer nicht nur dazu führen kann, Menschen zu demütigen, eine Familie zu zerstören und Unschuldige ins Gefängnis werfen zu lassen, sondern die Zuversicht einer ganzen Generation zunichte zu machen. All das erzählt die chinesische Emigrantin Ji-li Jiang am Beispiel der 12-jährigen Ji-li und damit am Beispiel der eigenen Lebenswelt, der eigenen Familie. Die Autorin lebt heute in den USA. Im Nachwort ihres Buches stellt sie fest, wie sehr es sie nach der Emigration nach Amerika verblüffte, unbeschwerte Menschen zu sehen. „Sie hatten keine Angst, von ihren Vorgesetzten kritisiert oder von der Regierung festgenommen zu werden.” So einfach kann das Konzept von Freiheit begreifbar gemacht werden.
Ideale der Revolution
Zu Beginn der Kulturrevolution ist Ji-li ein zuversichtlicher, begabter Teenager, der die Ideale der chinesischen Revolution hoch hält und an den Großen Führer Mao glaubt. Doch dann wird alles anders: Die „vier Alten”, alte Ideen, alte Kulturen, alte Bräuche und alte Gewohnheiten, werden bekämpft. So genannte Klassenfeinde, Großgrundbesitzer und Rechtsabweichler, werden in aller Öffentlichkeit vorgeführt und gequält, auf Wandzeitungen werden Menschen moralisch hingerichtet. Das geschieht auch der kleinen Ji-li, die aus einer ehemals wohlhabenden, kultivierten Familie stammt; ihr Vater ist Schauspieler. Sie wird für die Aufnahmeprüfung zu einer Sportschule ausgewählt, doch der Vater rät zu ihrer großen Enttäuschung, nicht hinzugehen – sie würde letztlich doch nicht genommen. Auf einer Wandzeitung wird dem jungen Mädchen die Beziehung zu einem Lehrer unterstellt. Eines Tages wird der Vater von einem Onkel bezichtigt, er höre ausländische Radiosender. Er wird verhaftet und mit schwerer körperlicher Arbeit „umerzogen”. Erst jetzt erfährt das Mädchen, dass auch ihrer Familie einst ein großes Stück Land gehörte, dass ihre Vorfahren Großgrundbesitzer waren. „Ich hasse Großgrundbesitzer”, platzt es aus ihr heraus, denn ihr „Familienhintergrund” erscheint ihr als die einzige, schreckliche Ursache für all das Unglück, die Armut, die Trauer, den Streit. Die Mutter bricht entsetzt in Tränen aus.
Und der Horror geht weiter. Ji-lis Vater soll auf einer „Kampfsitzung” als abschreckendes Beispiel für die „schmutzige Vergangenheit” bürgerlicher Familien angeprangert werden. Und Ji-li wird aufgefordert, teilzunehmen. „Wir möchten, dass Du während der Kampfsitzung gegen Deinen Vater aussagst”, lautet der Befehl eines Genossen. Soll sie ihren Vater verraten und sich als „Tochter von Mao” profilieren?
Verwirrung, Verzweiflung, tausend Fragen treiben das Mädchen um, das sich täglich der existenziellen Frage ausgesetzt sieht, ob es sich unterwerfen und anpassen soll – oder aber die Selbstachtung bewahren und ertragen, was geschieht. Doch selbst, wenn sie sich unterwerfen würde und täte, was man von ihr verlangt – würde das reichen? Könnte sie ihre Herkunft verleugnen? Ji-li geht gemeinsam mit ihrer Familie unter; der Vater bleibt verhaftet, die Großmutter muss die Straße kehren, die Mutter liegt schwer krank daheim in einer Wohnung, aus der alle Möbel weggeschleppt wurden. Keine Hoffnung nirgends, nur ein Vorsatz: „Ich werde meine Aufgabe erfüllen”, also stark sein, aushalten, den Kopf hochhalten. Überleben.
Ji-li Jiang schildert den Verlust ihrer Kindheit. Und schreibt in im Epilog ihres eindrucksvollen Buches, dass nichts, gar nichts diese „verlorenen Jahre wieder gutmachen kann.”
CATHRIN KAHLWEIT
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein junges Mädchen erlebt die chinesische Kulturrevolution – ihre Familie wird zerstört und ihr Weltbild zerbricht
JI-LI JIANG: Das Mädchen mit dem roten Tuch, Thienemann Verlag, Stuttgart 2001. 315 Seiten, 29,97 Mark.
Für Jugendliche, die in einer Demokratie aufwachsen, dürfte es nicht leicht sein, das Buch von Ji-li Jiang zu lesen, zu verstehen – und zu ertragen. Nicht nur, weil die chinesische Kulturrevolution lange her ist und die Voraussetzungen zum Verständnis für eine der schrecklichsten Phasen kommunistischer Herrschaft in China auch in der Kenntnis der politischen Zusammenhänge liegen. Dass Hunderttausende sterben mussten, Millionen in Umerziehungslager gesteckt wurden, dass ungebildete, hasserfüllte Proleten plötzlich auf Straßen und in Betrieben das Sagen hatten, dass eine traditionsreiche, blühende Kultur willkürlich zerstört wurde – all das ist Teil jener Kulturrevolution gewesen, die China vermutlich mehr geschadet, die Seele des Landes mehr verletzt hat als etwa der „Große Sprung nach vorn” Ende der 50er Jahre, der eine grauenhafte Hungersnot zur Folge hatte.
Aber aus einem zweiten Grund noch ist dieses politische Jugendbuch schwere Kost: Jugendliche, die Politik nur aus der Tagesschau und eventuell aus dem Gemeinderat kennen, werden schwerlich verstehen, wie die Macht politischer Führer nicht nur dazu führen kann, Menschen zu demütigen, eine Familie zu zerstören und Unschuldige ins Gefängnis werfen zu lassen, sondern die Zuversicht einer ganzen Generation zunichte zu machen. All das erzählt die chinesische Emigrantin Ji-li Jiang am Beispiel der 12-jährigen Ji-li und damit am Beispiel der eigenen Lebenswelt, der eigenen Familie. Die Autorin lebt heute in den USA. Im Nachwort ihres Buches stellt sie fest, wie sehr es sie nach der Emigration nach Amerika verblüffte, unbeschwerte Menschen zu sehen. „Sie hatten keine Angst, von ihren Vorgesetzten kritisiert oder von der Regierung festgenommen zu werden.” So einfach kann das Konzept von Freiheit begreifbar gemacht werden.
Ideale der Revolution
Zu Beginn der Kulturrevolution ist Ji-li ein zuversichtlicher, begabter Teenager, der die Ideale der chinesischen Revolution hoch hält und an den Großen Führer Mao glaubt. Doch dann wird alles anders: Die „vier Alten”, alte Ideen, alte Kulturen, alte Bräuche und alte Gewohnheiten, werden bekämpft. So genannte Klassenfeinde, Großgrundbesitzer und Rechtsabweichler, werden in aller Öffentlichkeit vorgeführt und gequält, auf Wandzeitungen werden Menschen moralisch hingerichtet. Das geschieht auch der kleinen Ji-li, die aus einer ehemals wohlhabenden, kultivierten Familie stammt; ihr Vater ist Schauspieler. Sie wird für die Aufnahmeprüfung zu einer Sportschule ausgewählt, doch der Vater rät zu ihrer großen Enttäuschung, nicht hinzugehen – sie würde letztlich doch nicht genommen. Auf einer Wandzeitung wird dem jungen Mädchen die Beziehung zu einem Lehrer unterstellt. Eines Tages wird der Vater von einem Onkel bezichtigt, er höre ausländische Radiosender. Er wird verhaftet und mit schwerer körperlicher Arbeit „umerzogen”. Erst jetzt erfährt das Mädchen, dass auch ihrer Familie einst ein großes Stück Land gehörte, dass ihre Vorfahren Großgrundbesitzer waren. „Ich hasse Großgrundbesitzer”, platzt es aus ihr heraus, denn ihr „Familienhintergrund” erscheint ihr als die einzige, schreckliche Ursache für all das Unglück, die Armut, die Trauer, den Streit. Die Mutter bricht entsetzt in Tränen aus.
Und der Horror geht weiter. Ji-lis Vater soll auf einer „Kampfsitzung” als abschreckendes Beispiel für die „schmutzige Vergangenheit” bürgerlicher Familien angeprangert werden. Und Ji-li wird aufgefordert, teilzunehmen. „Wir möchten, dass Du während der Kampfsitzung gegen Deinen Vater aussagst”, lautet der Befehl eines Genossen. Soll sie ihren Vater verraten und sich als „Tochter von Mao” profilieren?
Verwirrung, Verzweiflung, tausend Fragen treiben das Mädchen um, das sich täglich der existenziellen Frage ausgesetzt sieht, ob es sich unterwerfen und anpassen soll – oder aber die Selbstachtung bewahren und ertragen, was geschieht. Doch selbst, wenn sie sich unterwerfen würde und täte, was man von ihr verlangt – würde das reichen? Könnte sie ihre Herkunft verleugnen? Ji-li geht gemeinsam mit ihrer Familie unter; der Vater bleibt verhaftet, die Großmutter muss die Straße kehren, die Mutter liegt schwer krank daheim in einer Wohnung, aus der alle Möbel weggeschleppt wurden. Keine Hoffnung nirgends, nur ein Vorsatz: „Ich werde meine Aufgabe erfüllen”, also stark sein, aushalten, den Kopf hochhalten. Überleben.
Ji-li Jiang schildert den Verlust ihrer Kindheit. Und schreibt in im Epilog ihres eindrucksvollen Buches, dass nichts, gar nichts diese „verlorenen Jahre wieder gutmachen kann.”
CATHRIN KAHLWEIT
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Cathrin Kahlweit ist das vorliegende "politische Jugendbuch" schwerverdauliche Kost: Die Autorin setze politisches Wissen voraus, das viele Jugendliche schlicht nicht hätten. Worum geht es? Ein 12-jähriges Mädchen erlebt die chinesische Kulturrevolution- zunächst als "zuversichtlicher; begabter Teenager", der dann -weil ihre Eltern über Grundbesitz verfügen- mit seiner Familie untergeht, resümiert die Rezensentin. Exemplarisch soll der dargestellte Werdegang des Mädchens laut Kahlweit aufzeigen, wie die politische Führung Chinas "die Zuversicht einer ganzen Generation" zerstört hätte. Das Gesamturteil der Rezensentin: Zwar eindrucksvoll, aber für Jugendliche wohl zu schwierig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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