Hanns Zischlers großartiges literarisches Debüt über das Erinnern, den Verlust und das Weitergehen.
Es ist eine Geschichte, so zart, schimmernd und fragil wie ein Orangenpapier: Sie handelt von Elsa, einem Mädchen, das es Mitte der 50er- Jahre mit seinem Vater von Dresden nach Bayern verschlagen hat. Obwohl Elsa erst kurze Zeit in der kleinen Stadt an der Ache ist und sie von vielen wegen ihres Dialekts belächelt wird, hat sie schon Freunde: Asampauli, mit dem sie den Schulweg teilt; der Lehrer Kapuste, der seinen Schülern seltsame Rätsel aufgibt; und die Obsthändlerin, die für Elsa die exotischen Papiere auf bewahrt, in denen die Orangen eingeschlagen sind. Auf die Idee, Orangenpapiere zu sammeln, hat Kapuste Elsa gebracht. Vielleicht, weil er ahnt, dass sie einen Fluchtpunkt benötigt, und eine Brücke, mit anderen über die Dinge zu sprechen, die sie tief in sich verschlossen hält. Und tatsächlich, als eine Neue in die Klasse kommt, beginnt für Elsa - langsam und tastend -ein Aufbruch ...Hanns Zischlers Erzählung ist ein literarisches Kleinod von enormer erzählerischer Kraft. Durch die Genauigkeit der Beobachtung und die Konzentration auf das Einzelne gelingt es Hanns Zischler, die Atmosphäre einer Zeit einzufangen, in der sich - trotz Traumatisierung und Verlust - eine tiefe Würde und Stärke verbarg.
Es ist eine Geschichte, so zart, schimmernd und fragil wie ein Orangenpapier: Sie handelt von Elsa, einem Mädchen, das es Mitte der 50er- Jahre mit seinem Vater von Dresden nach Bayern verschlagen hat. Obwohl Elsa erst kurze Zeit in der kleinen Stadt an der Ache ist und sie von vielen wegen ihres Dialekts belächelt wird, hat sie schon Freunde: Asampauli, mit dem sie den Schulweg teilt; der Lehrer Kapuste, der seinen Schülern seltsame Rätsel aufgibt; und die Obsthändlerin, die für Elsa die exotischen Papiere auf bewahrt, in denen die Orangen eingeschlagen sind. Auf die Idee, Orangenpapiere zu sammeln, hat Kapuste Elsa gebracht. Vielleicht, weil er ahnt, dass sie einen Fluchtpunkt benötigt, und eine Brücke, mit anderen über die Dinge zu sprechen, die sie tief in sich verschlossen hält. Und tatsächlich, als eine Neue in die Klasse kommt, beginnt für Elsa - langsam und tastend -ein Aufbruch ...Hanns Zischlers Erzählung ist ein literarisches Kleinod von enormer erzählerischer Kraft. Durch die Genauigkeit der Beobachtung und die Konzentration auf das Einzelne gelingt es Hanns Zischler, die Atmosphäre einer Zeit einzufangen, in der sich - trotz Traumatisierung und Verlust - eine tiefe Würde und Stärke verbarg.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hymnisch bespricht Rezensent Christoph Bartmann diese kleine und "kultivierte" Erzählung des Schauspielers, Essayisten und nun auch Schriftstellers Hanns Zischler, die nun unter dem schönen Titel "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" erschienen ist. Der Kritiker begleitet hier die kleine und scheue Außenseiterin Elsa, die in den fünfziger Jahren allein mit ihrem Vater in einem oberbayrischen Dorf lebt und ihre ganze Sehnsucht und Leidenschaft in das Sammeln von bunt bedruckten Orangenpapieren steckt. Bartmann glaubt fast das Knistern der exotischen Papiere zu vernehmen und lässt sich schnell von den poetischen Tagträumen Elsas anstecken. Ganz verzaubert zeigt sich der Rezensent von Zischlers "Proust'scher Ding- und Trägerhaftigkeit", taucht tief in die sanft heraufbeschworenen Stimmungen ein und erlebt hier etwas fast Vergessenes: "Herzensbildung".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2014Heiße Schokolade
Hanns Zischler schreibt eine zauberhafte Erzählung
"Ich zog da aus, / wo Lumpen einkehrten, / zog in ein Haus, / bewohnt von Gelehrten": Wilhelm Bertas Rätselreime auf das Papier, das seinen Weg aus der Holz- und Lumpenmühle in die Bibliothek findet, eröffnet eine Erzählung des Filmlieblings und Literaturenthusiasten Hanns Zischler. Papier steht in ihrem Zentrum, bedruckt aber nicht für die Gelehrten, sondern zum Schutz reifer Zitrusfrüchte auf ihrem einst weiten Land- und Seeweg aus dem Süden. Die Werbebildchen auf seidigem Untergrund fanden seit je ihre Liebhaber und Sammler. Auf den Seiten des Orangenpapiermuseums in Salzgitter formieren sie sich zu einer reich ornamentierten Motivwelt zwischen Frauen und Fabelwesen, Ätna und Olymp, Tieren und Pflanzen, Robinson und Struwwelpeter.
In "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" entdeckt Zischler diese kleinen, meist achtlos behandelten Artefakte, die wir alle seit unserer Kindheit kennen, als exotischen Erzählgegenstand. So kann er mit Charme beweisen, dass auch nichtigste Kleinigkeiten bestens zum Fabulieren taugen, dass Schlichtes und Schönes nahe verwandt sind. Die kurze Geschichte spielt 1958 in einem kleinen Ort hoch über dem Chiemsee und handelt von der Schülerin Elsa Wyborny. Ihre Mutter ist kürzlich verstorben, nachdem die Familie aus der jungen DDR nach Bayern entkam. Dort lachen die Kinder über Elsas fremd klingende Sprache und vielleicht auch über einen Hüftschaden, durch den sie beim Gehen auffällt. Elsa wird ihrem Nachnamen, dem polnischen Wort für "hervorragend", anders gerecht: Sie ist wach und musikalisch, spürt der Bedeutung von Wörtern nach und scrabbelt gern mit Buchstaben, liest "Robinson Crusoe" und lernt auch fern des Unterrichts viel von ihrem Lieblingslehrer Kapuste.
Dazu gehört die Faszination für Orangenpapiere, die sie aus Dresden nicht kannte, nun aber ständig von der Obsthändlerin bekommt. Keiner versteht die aufgedruckten bunten Bilder dieses "Papiertheaters" so kundig zu deuten wie Kapuste. Mit seinen Geschichten über Sizilien oder Robinson hilft er Elsa aus der Isolation. Bald schließt sie sich mit einer anderen "Externen", Saskia Rigby aus dem südenglischen Devon, zusammen. Vor allem hat es ihr der Mitschüler Pauli angetan, den sie erst mit dem klassischen Apfel, dann mit einem ihrer Blättchen umgarnt: "Ein wildes Mischwesen, halb Mänadin, halb Pegasus mit schwarz geschecktem Pferdeleib, entblößten Brüsten und stürmisch wehendem Haar springt und fliegt es mit schmetternder Fanfare durch einen roten Kreis."
Nicht nur was hier erzählt wird, ist wichtig, sondern wie es geschieht. Die zarte Schülerliebe Elsas und Paulis oder ihre Luftfahrt über den Chiemgau sind schon an sich verlockende Imaginationsräume, bemerkenswert werden sie aber erst durch Zischlers Beobachtungsgabe und geschmeidige sprachliche Auskleidung. Der schattenwerfende Fesselballon "treidelt seine flüchtige Spur über das Schilf längs des Flusses", heißt es da. Oder: "Ein Windstoß fegt durch eine große Pfütze und riffelt das Spiegelbild einer Marmorstatue." Die Lust, mit Sprache schlichte, klare Formen ohne Schnörkel und Zierrat zu modellieren, zeichnet diesen Text aus. Wer hätte gedacht, dass jene hauchdünnen, knisternden Blättchen, die wir so oft übergangen haben, um rascher an die Frucht zu gelangen, eine so wunderbare Idee anregen könnten? Kleiner Anlass, große Wirkung - das scheint Zischlers poetisches Credo zu sein.
ALEXANDER KOSENINA
Hanns Zischler:
"Das Mädchen mit den
Orangenpapieren".
Galiani Verlag, Berlin 2014. 112 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanns Zischler schreibt eine zauberhafte Erzählung
"Ich zog da aus, / wo Lumpen einkehrten, / zog in ein Haus, / bewohnt von Gelehrten": Wilhelm Bertas Rätselreime auf das Papier, das seinen Weg aus der Holz- und Lumpenmühle in die Bibliothek findet, eröffnet eine Erzählung des Filmlieblings und Literaturenthusiasten Hanns Zischler. Papier steht in ihrem Zentrum, bedruckt aber nicht für die Gelehrten, sondern zum Schutz reifer Zitrusfrüchte auf ihrem einst weiten Land- und Seeweg aus dem Süden. Die Werbebildchen auf seidigem Untergrund fanden seit je ihre Liebhaber und Sammler. Auf den Seiten des Orangenpapiermuseums in Salzgitter formieren sie sich zu einer reich ornamentierten Motivwelt zwischen Frauen und Fabelwesen, Ätna und Olymp, Tieren und Pflanzen, Robinson und Struwwelpeter.
In "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" entdeckt Zischler diese kleinen, meist achtlos behandelten Artefakte, die wir alle seit unserer Kindheit kennen, als exotischen Erzählgegenstand. So kann er mit Charme beweisen, dass auch nichtigste Kleinigkeiten bestens zum Fabulieren taugen, dass Schlichtes und Schönes nahe verwandt sind. Die kurze Geschichte spielt 1958 in einem kleinen Ort hoch über dem Chiemsee und handelt von der Schülerin Elsa Wyborny. Ihre Mutter ist kürzlich verstorben, nachdem die Familie aus der jungen DDR nach Bayern entkam. Dort lachen die Kinder über Elsas fremd klingende Sprache und vielleicht auch über einen Hüftschaden, durch den sie beim Gehen auffällt. Elsa wird ihrem Nachnamen, dem polnischen Wort für "hervorragend", anders gerecht: Sie ist wach und musikalisch, spürt der Bedeutung von Wörtern nach und scrabbelt gern mit Buchstaben, liest "Robinson Crusoe" und lernt auch fern des Unterrichts viel von ihrem Lieblingslehrer Kapuste.
Dazu gehört die Faszination für Orangenpapiere, die sie aus Dresden nicht kannte, nun aber ständig von der Obsthändlerin bekommt. Keiner versteht die aufgedruckten bunten Bilder dieses "Papiertheaters" so kundig zu deuten wie Kapuste. Mit seinen Geschichten über Sizilien oder Robinson hilft er Elsa aus der Isolation. Bald schließt sie sich mit einer anderen "Externen", Saskia Rigby aus dem südenglischen Devon, zusammen. Vor allem hat es ihr der Mitschüler Pauli angetan, den sie erst mit dem klassischen Apfel, dann mit einem ihrer Blättchen umgarnt: "Ein wildes Mischwesen, halb Mänadin, halb Pegasus mit schwarz geschecktem Pferdeleib, entblößten Brüsten und stürmisch wehendem Haar springt und fliegt es mit schmetternder Fanfare durch einen roten Kreis."
Nicht nur was hier erzählt wird, ist wichtig, sondern wie es geschieht. Die zarte Schülerliebe Elsas und Paulis oder ihre Luftfahrt über den Chiemgau sind schon an sich verlockende Imaginationsräume, bemerkenswert werden sie aber erst durch Zischlers Beobachtungsgabe und geschmeidige sprachliche Auskleidung. Der schattenwerfende Fesselballon "treidelt seine flüchtige Spur über das Schilf längs des Flusses", heißt es da. Oder: "Ein Windstoß fegt durch eine große Pfütze und riffelt das Spiegelbild einer Marmorstatue." Die Lust, mit Sprache schlichte, klare Formen ohne Schnörkel und Zierrat zu modellieren, zeichnet diesen Text aus. Wer hätte gedacht, dass jene hauchdünnen, knisternden Blättchen, die wir so oft übergangen haben, um rascher an die Frucht zu gelangen, eine so wunderbare Idee anregen könnten? Kleiner Anlass, große Wirkung - das scheint Zischlers poetisches Credo zu sein.
ALEXANDER KOSENINA
Hanns Zischler:
"Das Mädchen mit den
Orangenpapieren".
Galiani Verlag, Berlin 2014. 112 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heiße Schokolade
Hanns Zischler schreibt eine zauberhafte Erzählung
"Ich zog da aus, / wo Lumpen einkehrten, / zog in ein Haus, / bewohnt von Gelehrten": Wilhelm Bertas Rätselreime auf das Papier, das seinen Weg aus der Holz- und Lumpenmühle in die Bibliothek findet, eröffnet eine Erzählung des Filmlieblings und Literaturenthusiasten Hanns Zischler. Papier steht in ihrem Zentrum, bedruckt aber nicht für die Gelehrten, sondern zum Schutz reifer Zitrusfrüchte auf ihrem einst weiten Land- und Seeweg aus dem Süden. Die Werbebildchen auf seidigem Untergrund fanden seit je ihre Liebhaber und Sammler. Auf den Seiten des Orangenpapiermuseums in Salzgitter formieren sie sich zu einer reich ornamentierten Motivwelt zwischen Frauen und Fabelwesen, Ätna und Olymp, Tieren und Pflanzen, Robinson und Struwwelpeter.
In "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" entdeckt Zischler diese kleinen, meist achtlos behandelten Artefakte, die wir alle seit unserer Kindheit kennen, als exotischen Erzählgegenstand. So kann er mit Charme beweisen, dass auch nichtigste Kleinigkeiten bestens zum Fabulieren taugen, dass Schlichtes und Schönes nahe verwandt sind. Die kurze Geschichte spielt 1958 in einem kleinen Ort hoch über dem Chiemsee und handelt von der Schülerin Elsa Wyborny. Ihre Mutter ist kürzlich verstorben, nachdem die Familie aus der jungen DDR nach Bayern entkam. Dort lachen die Kinder über Elsas fremd klingende Sprache und vielleicht auch über einen Hüftschaden, durch den sie beim Gehen auffällt. Elsa wird ihrem Nachnamen, dem polnischen Wort für "hervorragend", anders gerecht: Sie ist wach und musikalisch, spürt der Bedeutung von Wörtern nach und scrabbelt gern mit Buchstaben, liest "Robinson Crusoe" und lernt auch fern des Unterrichts viel von ihrem Lieblingslehrer Kapuste.
Dazu gehört die Faszination für Orangenpapiere, die sie aus Dresden nicht kannte, nun aber ständig von der Obsthändlerin bekommt. Keiner versteht die aufgedruckten bunten Bilder dieses "Papiertheaters" so kundig zu deuten wie Kapuste. Mit seinen Geschichten über Sizilien oder Robinson hilft er Elsa aus der Isolation. Bald schließt sie sich mit einer anderen "Externen", Saskia Rigby aus dem südenglischen Devon, zusammen. Vor allem hat es ihr der Mitschüler Pauli angetan, den sie erst mit dem klassischen Apfel, dann mit einem ihrer Blättchen umgarnt: "Ein wildes Mischwesen, halb Mänadin, halb Pegasus mit schwarz geschecktem Pferdeleib, entblößten Brüsten und stürmisch wehendem Haar springt und fliegt es mit schmetternder Fanfare durch einen roten Kreis."
Nicht nur was hier erzählt wird, ist wichtig, sondern wie es geschieht. Die zarte Schülerliebe Elsas und Paulis oder ihre Luftfahrt über den Chiemgau sind schon an sich verlockende Imaginationsräume, bemerkenswert werden sie aber erst durch Zischlers Beobachtungsgabe und geschmeidige sprachliche Auskleidung. Der schattenwerfende Fesselballon "treidelt seine flüchtige Spur über das Schilf längs des Flusses", heißt es da. Oder: "Ein Windstoß fegt durch eine große Pfütze und riffelt das Spiegelbild einer Marmorstatue." Die Lust, mit Sprache schlichte, klare Formen ohne Schnörkel und Zierrat zu modellieren, zeichnet diesen Text aus. Wer hätte gedacht, dass jene hauchdünnen, knisternden Blättchen, die wir so oft übergangen haben, um rascher an die Frucht zu gelangen, eine so wunderbare Idee anregen könnten? Kleiner Anlass, große Wirkung - das scheint Zischlers poetisches Credo zu sein.
ALEXANDER KOSENINA
Hanns Zischler:
"Das Mädchen mit den
Orangenpapieren".
Galiani Verlag, Berlin 2014. 112 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanns Zischler schreibt eine zauberhafte Erzählung
"Ich zog da aus, / wo Lumpen einkehrten, / zog in ein Haus, / bewohnt von Gelehrten": Wilhelm Bertas Rätselreime auf das Papier, das seinen Weg aus der Holz- und Lumpenmühle in die Bibliothek findet, eröffnet eine Erzählung des Filmlieblings und Literaturenthusiasten Hanns Zischler. Papier steht in ihrem Zentrum, bedruckt aber nicht für die Gelehrten, sondern zum Schutz reifer Zitrusfrüchte auf ihrem einst weiten Land- und Seeweg aus dem Süden. Die Werbebildchen auf seidigem Untergrund fanden seit je ihre Liebhaber und Sammler. Auf den Seiten des Orangenpapiermuseums in Salzgitter formieren sie sich zu einer reich ornamentierten Motivwelt zwischen Frauen und Fabelwesen, Ätna und Olymp, Tieren und Pflanzen, Robinson und Struwwelpeter.
In "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" entdeckt Zischler diese kleinen, meist achtlos behandelten Artefakte, die wir alle seit unserer Kindheit kennen, als exotischen Erzählgegenstand. So kann er mit Charme beweisen, dass auch nichtigste Kleinigkeiten bestens zum Fabulieren taugen, dass Schlichtes und Schönes nahe verwandt sind. Die kurze Geschichte spielt 1958 in einem kleinen Ort hoch über dem Chiemsee und handelt von der Schülerin Elsa Wyborny. Ihre Mutter ist kürzlich verstorben, nachdem die Familie aus der jungen DDR nach Bayern entkam. Dort lachen die Kinder über Elsas fremd klingende Sprache und vielleicht auch über einen Hüftschaden, durch den sie beim Gehen auffällt. Elsa wird ihrem Nachnamen, dem polnischen Wort für "hervorragend", anders gerecht: Sie ist wach und musikalisch, spürt der Bedeutung von Wörtern nach und scrabbelt gern mit Buchstaben, liest "Robinson Crusoe" und lernt auch fern des Unterrichts viel von ihrem Lieblingslehrer Kapuste.
Dazu gehört die Faszination für Orangenpapiere, die sie aus Dresden nicht kannte, nun aber ständig von der Obsthändlerin bekommt. Keiner versteht die aufgedruckten bunten Bilder dieses "Papiertheaters" so kundig zu deuten wie Kapuste. Mit seinen Geschichten über Sizilien oder Robinson hilft er Elsa aus der Isolation. Bald schließt sie sich mit einer anderen "Externen", Saskia Rigby aus dem südenglischen Devon, zusammen. Vor allem hat es ihr der Mitschüler Pauli angetan, den sie erst mit dem klassischen Apfel, dann mit einem ihrer Blättchen umgarnt: "Ein wildes Mischwesen, halb Mänadin, halb Pegasus mit schwarz geschecktem Pferdeleib, entblößten Brüsten und stürmisch wehendem Haar springt und fliegt es mit schmetternder Fanfare durch einen roten Kreis."
Nicht nur was hier erzählt wird, ist wichtig, sondern wie es geschieht. Die zarte Schülerliebe Elsas und Paulis oder ihre Luftfahrt über den Chiemgau sind schon an sich verlockende Imaginationsräume, bemerkenswert werden sie aber erst durch Zischlers Beobachtungsgabe und geschmeidige sprachliche Auskleidung. Der schattenwerfende Fesselballon "treidelt seine flüchtige Spur über das Schilf längs des Flusses", heißt es da. Oder: "Ein Windstoß fegt durch eine große Pfütze und riffelt das Spiegelbild einer Marmorstatue." Die Lust, mit Sprache schlichte, klare Formen ohne Schnörkel und Zierrat zu modellieren, zeichnet diesen Text aus. Wer hätte gedacht, dass jene hauchdünnen, knisternden Blättchen, die wir so oft übergangen haben, um rascher an die Frucht zu gelangen, eine so wunderbare Idee anregen könnten? Kleiner Anlass, große Wirkung - das scheint Zischlers poetisches Credo zu sein.
ALEXANDER KOSENINA
Hanns Zischler:
"Das Mädchen mit den
Orangenpapieren".
Galiani Verlag, Berlin 2014. 112 S., geb., 16,99 [Euro].
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