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Produktdetails
  • dtv Taschenbücher
  • Verlag: DTV
  • Abmessung: 179mm x 109mm x 8mm
  • Gewicht: 140g
  • ISBN-13: 9783423071031
  • ISBN-10: 3423071036
  • Artikelnr.: 24020036
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2008

Fluch der alten Tanten
Selma Lagerlöfs Geschichten über die Liebe

Eine der beiden unheimlichsten Liebesgeschichten Selma Lagerlöfs geht so: Eine junge Frau lebt bei zwei älteren Tanten und ist mit einem nicht mehr ganz jungen Arzt verlobt, bald soll geheiratet werden. Sie ist in einem Zimmer untergebracht, in dem es spukt - wann immer jemand falsch spielt, zeigt sich eine Geisterhand, die einer alten Frau gehört und dem Betrüger droht. Als das Mädchen einen Brief an ihren Verlobten schreibt, kommt sie gerade bis zu den Worten "Mein geliebter . . ." - in diesem Moment sieht sie die vor boshafter Freude zitternde Hand erscheinen und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Dem Verlobten gesteht sie nun, dass sie ihn nur heiraten wollte, um den Tanten zu entkommen, und gibt ihm den Ring zurück.

So weit wäre die Sache noch im Rahmen einer gut erzählten, aber konventionellen Geistergeschichte, wie sie im Entstehungsjahr 1898 keine Seltenheit war. Doch die damals vierzigjährige Autorin führt das in einer Weise fort, die noch heute verstört, wenn man sie etwa im jüngst erschienenen Lagerlöf-Sammelband "Liebesgeschichten" liest. Der Arzt nämlich erkennt, welche Chance ihm der Spuk eröffnet. Er, unter dessen Kälte seine Verlobte zuvor gelitten hatte, gibt sich Mühe, bestürmt und wirbt um sie, bis sie die Verlobung zögerlich erneuert: "Nur mit einer einzigen Anstrengung hatte er sich ihre Liebe ersprochen. Sie hatte ja nur gebraucht, dass er zeigte, dass er sie liebhatte. Er nahm den Verlobungsring und steckte ihn ihr ruhig wieder an den Ringfinger: ,Keine Torheiten', sagte er, als sie die Hand wieder wegziehen wollte." Später verabschiedet er sich von ihr mit den Worten: "Bist jetzt wie gebunden und gefesselt, mich zu lieben, sollte ich meinen. Sonst kommt noch die Hand dort und presst dir das Leben aus."

Sonst kommt die Hand: Selma Lagerlöf, die heute vor hundertfünfzig Jahren auf dem värmländischen Gut Mårbacka geboren wurde, hat lieber nie geheiratet; sie hat ihre Selbständigkeit in jeder Hinsicht verteidigt und konnte sich schon früh sicher sein, dass sie sich alles, was sie besaß und was sie war, selbst erarbeitet hatte. Sogar das Anwesen ihrer Kindheit, das sie so sehr liebte und das ihr Vater verloren hatte, konnte sie durch den spektakulären Erfolg ihrer Bücher zurückkaufen und ausbauen. Sie erhielt 1909 als erste Frau den Literaturnobelpreis und wurde fünf Jahre später ebenfalls als erste Frau in die schwedische Akademie aufgenommen, sie wirkte als Unternehmerin und mahnte Sozialreformen an, kämpfte für die Gleichberechtigung der Frauen und half in den Dreißigern Verfolgten wie etwa Nelly Sachs.

Dass ihre Literatur unter ihrem Engagement gelitten hätte, wird man nicht unbedingt sagen können, denn ihre späten Romane und vor allem ihre dreibändigen Erinnerungen zeigen mitunter eine hart erarbeitete, lakonische Meisterschaft - und doch konnte sie an die beiden großen Würfe "Gösta Berling" und "Nils Holgersson" nicht mehr anknüpfen, nicht an den emphatischen und doch so klugen Roman um den Sagenkreis ihrer Heimat und nicht an das Werk, das Schulkindern mit Schwedens Vergangenheit und Gegenwart vertraut machen sollte und das zum Großartigsten gehört, was je aus einem pädagogischen Impuls heraus entstanden ist.

Dass sie in beiden Romanen ihrem Hang zum Unheimlichen Zügel anlegte, kann man wirklich nicht sagen, und auch nicht ihrer Bereitschaft, aus der Geschichte einer Region deren heutige Beschaffenheit zu begründen. Beides kommt in jener anderen der beiden unheimlichsten Liebesgeschichten Lagerlöfs zusammen, in "Herrn Arnes Schatz" aus dem Jahr 1904. Ein Waisenmädchen muss mit ansehen, wie drei Strauchdiebe den Hof überfallen, auf dem es Unterschlupf gefunden hat, und alle Anwesenden bis auf das Kind ermorden. Später trifft es auf einen der Räuber, ohne ihn zu erkennen; er macht ihm den Hof, während es zugleich von den Geistern der Ermordeten aufgesucht und um Unterstützung bei der Rache gebeten wird. Irgendwann kann es nicht anders, als die fest zugekniffenen Augen vor der Realität zu öffnen, dass der Freier, der vornehme Sir Archie, der Mörder seiner Wohltäter ist.

Wie Lagerlöf diesen Zwiespalt schildert, wie sie mit leichter Hand die gesamte Winterlandschaft in das Rachewerk der Geister mit einbezieht, dieses dichte, anspielungsreiche Gewebe in betont nüchterner Sprache - all dies macht ihr so schnell keiner nach. Und so ist, neben der Neuübersetzung von "Gösta Berling", dieser schmale Band ein ebenso willkommener Beitrag zum Lagerlöf-Jahr. Nur eine solide deutschsprachige Biographie, die etwa die in den letzten Jahren neuedierten Quellen zum Leben der Autorin berücksichtigte, fehlt noch immer. Vielleicht gibt es die ja im Jahre 2010, zum siebzigsten Todestag.

TILMAN SPRECKELSEN

Selma Lagerlöf: "Liebesgeschichten". Herausgegeben von Holger Wolandt. Aus dem Schwedischen übersetzt von Marie Franzos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 224 S., br., 8,90 [Euro].

Selma Lagerlöf: "Herrn Arnes Schatz". Aus dem Schwedischen übersetzt von Marie Franzos. Manesse Verlag, Zürich 2008. 120 S., geb., 12,90 [Euro].

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