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In erster Linie ist dies Lexikon für den Märchenliebhaber bestimmt, ist aber gleichzeitig ein zuverlässiges Nachschlagewerk.Rund 500 Märchen werden nacherzählt und interpretiert, es finden sich Hinweise zur Überlieferungsgeschichte, Literaturangaben und ein reichhaltiges Register. Ein Vademecum, das einlädt, neue Entdeckungen zu machen, aber auch Vertrautes wiederzufinden.

Produktbeschreibung
In erster Linie ist dies Lexikon für den Märchenliebhaber bestimmt, ist aber gleichzeitig ein zuverlässiges Nachschlagewerk.Rund 500 Märchen werden nacherzählt und interpretiert, es finden sich Hinweise zur Überlieferungsgeschichte, Literaturangaben und ein reichhaltiges Register. Ein Vademecum, das einlädt, neue Entdeckungen zu machen, aber auch Vertrautes wiederzufinden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.1996

Die Wahrheit über Rotkäppchen
Nicht deuten, sondern nachschlagen: Walter Scherfs Märchenlexikon

Zum Gehalt und zur Rezeption ihrer Märchen- und Sagensammlungen haben die Brüder Grimm angemerkt, hier seien "Gedanken über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt, daher sich auch die natürliche Neigung äußert, das von der Überlieferung Empfangene, aber halb Unverständliche nach der Weise der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen". An letzterem lassen es die gegenwärtigen Zeitläufte durchaus nicht fehlen. Im Gegenteil: Das Deuten und Deuteln der Märchen will nun schon seit zwanzig Jahren nicht enden, und es mühen sich vor allem die Tiefenpsychologen, zunehmend aber auch selbstbewußte Esoteriker, dem mit Staunen oder auch mit Konfusion reagierenden Publikum immer neue Sinnschichten der altüberkommenen Texte zu offenbaren.

Dabei werden die Märchen selbst oft nur als willkommener, weil allbekannter Materialsteinbruch für die eigenen Thesen genutzt. Die Märchen selbst geraten häufig aus dem Blick, und die Fakta und Realia ihrer Herkunft sowie ihre Aufarbeitung durch die Sammler werden so gut wie nie zur Kenntnis genommen. Eugen Drewermann hat das bündig ins Bild gefaßt: Die tiefsinnigen Deuter der Märchen behandeln diese wie einen voraussetzungslosen, ganzheitlichen und von jedem schnöden philologischen und literarhistorischen Ballast freien Traum, stellen sich immer erneut tapfer dem Rätsel der Sphinx, statt in Steinbrüchen Spuren ihrer Herkunft und ihrer tatsächlichen Beschaffenheit zu untersuchen.

Wer mit solch bewußt unhistorischer Interpretationsmethode leben oder wer deren Ergebnissen etwas für den eigenen Seelenhaushalt abgewinnen kann, hat natürlich jedes Recht dazu, denn gerade für den derzeit in vieler Hinsicht überbordenden Umgang mit Märchen gilt das Wort, daß auch in dieses Vaters Hause viele Wohnungen sind.

In diesem Haus der Märchenforschung hat nun Walter Scherf, ehemaliger Direktor der internationalen Jugendbibliothek in München, ein überwiegend standfestes und zumeist solides Mobiliar aufgestellt. Er präsentiert in etwa fünfhundert monographischen Artikeln im Umfang von zwei bis fünf Seiten ebenso viele Märchen (das Gros natürlich aus der Grimmschen Sammlung), und zwar ihre Überlieferungs- und Druckgeschichte sowie ihre Varianten; dann folgt eine hinreichend ausführliche, präzise Inhaltswiedergabe des als für einen Märchentypus repräsentativ gewählten Texts, die sich wiederum durch umfassende Berücksichtigung verwandter Stoffe und Motive in anderen Sammlungen auszeichnet; wichtige Illustrationen sind in sachgerechter Auswahl genannt, und die abschließenden bibliographischen Angaben gestatten dem Benutzer, etwas über die Herkunft der Scherfschen Ausführungen zu erfahren oder diese selbst zu ergänzen.

Auf solche Weise ergibt sich im Meer der Märchenanalysen erfreulicherweise einmal wieder ein fester Standort. Scherf weiß, wovon er handelt, und der Benutzer des Lexikons, der sich dank der vielen Querverweise wohl meist unversehens zu einem Leser entwickelt, fühlt sich zuverlässig informiert und in die Lage versetzt, die Faktenlage selbständig nachzuprüfen. Dazu verhelfen auch und gerade die Dokumentationen des Anhangs, die ihrerseits auf nicht weniger als 140 Seiten unter anderen Erzähltypen, Personen- und Motivregister bieten. Diese sind dank ihrer Übersichtlichkeit hilfreich, während man sich bei der Aufzählung der Kurztitel und der ausgewerteten Sammelwerke zuweilen unnötig hin- und hergeschickt sieht.

Der Verlag nennt die opulent ausgestalteten Bände "vorzüglich geeignet für Märchenliebhaber": dem ist zuzustimmen. Wer sich über das bloße Vorlesen oder Zuhören hinaus informieren will, was ihn da - wie ungezählte Generationen vor ihm - so wunderbar anspricht und erfreut, der kann aus diesem Lexikon entsprechende erste Belehrungen gewinnen. Begründungen für sein Interesse oder sein Vergnügen am Märchen darf er indes nicht erwarten; Scherf enthält sich in diesem Sachbuch mit Recht bevormundender Interpretationen.

Zugleich wollen Autor und Verlag ein "umfassendes Nachschlagewerk für Sammler und Forscher" bieten, wobei man sich die erstere, weitgehend ausgestorbene Spezies allerdings nur schwerlich vorzustellen vermag. Zudem soll der Sammler sammeln, was er (heute indes weniger denn je) vorfindet, und a priori nichts ins Reagenzglas der lexikalischen Aufarbeitung füllen. Der seriöse Märchenforscher schließlich weiß zu würdigen, daß Scherf ihm die mannigfachen Informationen vorausgehender Standardwerke, vorab die immer noch kanonischen Märchen-"Anmerkungen" Boltes/ Polívkas aus den Jahren 1913 bis 1932, zusammenfassend und übersichtlich zu rascher Kenntnisnahme vorstellt.

Dabei versteht es sich von selbst, daß eine solche Fülle von Einzelnachweisen weder ganz fehlerfrei noch immer auf dem neuesten Stand sein kann, zumal der Kommentar der derzeit wohl am weitesten verbreiteten Grimmschen Märchenausgabe (Reclam-Verlag) in der veralteten Edition von 1980 und nicht in der inzwischen erheblich verbesserten und ergänzten Ausgabe von 1994 herangezogen ist. Auch wurden merkwürdigerweise die besonders wichtigen Textfassungen der zweiten Auflage der Grimmschen Märchen von 1819 nicht herangezogen, obwohl diese seit 1982 in einer zuverlässigen Ausgabe (Diederichs Verlag) vorliegt.

So erfährt man im Artikel "Fürchtenlernen" (den man unter M wie "Märchen von einem . . ." findet) nichts von einer - für die von Scherf wohl zu Unrecht vermißten Gesamtdeutung erheblichen - Textvariante, die den als Gespenst verkleideten Küster zunächst zu Tode, ihn dann aber mit einem Beinbruch davonkommen läßt. Bei der Charakterisierung der Überlieferung zeigt sich ein nicht untypisches Schwanken zwischen älteren Meinungen und neueren Forschungsergebnissen: Die Urfassung des Märchens von 1812 basiert auf mündlicher Überlieferung in Kassel; später kam unter anderem eine Version aus der Schwalm (Siebert) hinzu; das ist seit 1979 bewiesen. Obwohl der entsprechende Aufsatz genannt wird, erwägt Scherf als Einsender der Urfassung fälschlich wieder Siebert.

Das Rungesche Märchen vom "Fischer und seiner Frau" (Unter V wie "Von dem . . .") wurde nicht erst 1822, sondern bereits 1819 (hochdeutsch; durch Löhr) nachgedruckt; gravierender, daß hier genau wie in Scherfs vorausliegendem "Lexikon der Zaubermärchen" (1982) wieder unbelegt und unbewiesen behauptet wird, der Text sei bereits 1808 erschienen ("nach freundlicher Mitteilung von T. Brüggemann", was dieser dem Rezensenten gegenüber seit je bestritten hat).

Dem Forscher ist also anzuraten, nicht sämtliche Detailangaben ungeprüft zu übernehmen. Solche Unrichtigkeiten müssen den Märchenfreund indes nicht grundsätzlich verunsichern, weil sie der Funktion des Werks als einen ersten Leitfaden durch die bunte, aber eben zuweilen auch irritierende Märchenwelt keinen wesentlichen Abbruch tun. HEINZ RÖLLEKE

Walter Scherf: "Das Märchenlexikon". Verlag C. H. Beck, München 1995. 2 Bände im Schmuckschuber. Zusammen 1621 S., geb., 148,- DM.

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