Mit »jenem Alphabet genannten Spiel« vergleicht Proust in einer Agenda-Notiz seine Schreibarbeit, als er sich im Herbst 1914 entschließt, den Namen Albertine über den Namen Gilberte zu legen. Zuvor schon hatte er das kleine p und das kleine m der petites madeleines in Majuskeln verwandelt und so sein zukünftiges Werk signiert: Proust Marcel. Dasselbe tut er später, wenn er aus einem Quartett ein Septett macht; septuor enthält alle Buchstaben von proust.So spielerisch Proust sich des Alphabets bedient, so systematisch wie unterhaltsam führt uns Luzius Keller in über tausend Stichwörtern durch Prousts Welt. Man begegnet Prousts Familie, seinen Freunden und Bekannten. In ausführlichen Zitaten »hört« man Prousts Sprache, seine Sätze, seine Pointen; man »sieht« seine Figuren mit den oft merkwürdigen Namen: Swann, Charlus, Morel, Saint-Euverte, Simonet, Elstir. Man wird Zeuge sehenswerter Szenen: Lektüreszenen, Begegnungsszenen, Badeszenen, Voyeurszenen, Todesszenen. Und man erfährt, womit und mit wem sich Proust und wer sich mit Proust beschäftigt hat. So tut sich ein literarisches Panorama auf, erleuchtet von Strahlen, die von einem intertextuellen und intermedialen Horizont aus auf Prousts uvre fallen, sowie von Strahlen, die von Prousts uvre aus einen jeden von uns treffen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Lothar Müller sucht den ein oder anderen Eintrag vergebens in Luzius Kellers auf der "Marcel Proust Enzyklopädie" von 2009 basierendem Proust Alphabet. Die Personen- und Themenfülle aus Prousts Leben und Werk, die ihm der Band erschließt, findet Müller dennoch beachtlich. Sowohl die technischen Errungenschaften der Epoche als auch Schriftstellerkollegen kommen laut Müller vor. Warum er keine Einträge zu "Aktien" und "Börse" findet, sehr wohl aber einen zu "Geld", kann sich der Rezensent nicht so recht erklären. Ebensowenig das Fehlen eines Eintrags "Erster Weltkrieg".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.11.2022Proust auf dem Balkan
Nie weiß man genug über ihn: Beiträge von Nachfahren und Zeitgenossen
Als Marcel Proust am 18. November 1922, einem Samstag, in seiner Wohnung in der Rue Hamelin gestorben war, verbreitete sich die Todesnachricht unter seinen Freunden und Bekannten schnell. Die Maler Paul Helleu und André Dunoyer de Segonzac fertigten Porträtzeichnungen am Totenbett an, Man Ray kam mit der Kamera in die Rue Hamelin. Der Figaro brachte auf der ersten Seite der Sonntagsausgabe eine längere Meldung. Jacques Rivière, Lektor bei Gallimard und Chefredakteur der Zeitschrift Nouvelle Revue Francaise, brachte Anfang 1923 eine Sondernummer „Hommage à Marcel Proust. 1871-1922“ heraus. Unter den Beiträgern waren Maurice Barrès, Joseph Conrad, Ernst Robert Curtius, Paul Valéry und andere. Im „Schreibheft. Zeitschrift für Literatur“ sind nun in deutscher Erstübersetzung die Texte von Jean Cocteau, Valery Larbaud und Paul Morand aus dieser Sondernummer erschienen.
Larbaud blickt auf die Zeit zurück, als Proust in den Literatenkreisen von Paris vor allem der Übersetzer John Ruskins war. Paul Morand, der gern preziöse Pointen produzierte, schrieb: „Was mich am stärksten frappierte, als ich Proust kennenlernte, war die Begegnung mit jemandem, der so früh zu leben aufgehört hatte.“ Jean Cocteau verteidigte das Interesse Prousts am mondänen Leben nicht zuletzt in eigener Sache. In seinem Porträt der Stimme Prousts aber trifft er eine Dimension des Werks: „Es fällt mir schwer, sein Werk zu lesen statt es zu hören.“ Cocteaus Proust kann lachen: „Marcel Proust liebte das Lachen. Er schwamm darin wie im Entwicklerbad.“ Jürgen Ritte hat die Texte nicht nur übersetzt, sondern mit biografischen Skizzen und einer Nachbemerkung versehen. Sie erwägt den Gedanken, in den Passagen über das Sterben des (fiktiven) Schriftstellers Bergotte in seinem großen Roman habe sich Proust selbst den schönsten Nachruf geschrieben.
„Bergottes Witwe“ heißt die Proust-Hommage des serbischen Schriftstellers Bora Ćosić , die das Schreibheft den Reminiszenzen der Zeitgenossen an die Seite stellt. Ćosić, inzwischen neunzig Jahre alt, hat in jungen Jahren Prousts Recherche gelesen. Die 1994 skizzierte Idee zu „Bergottes Witwe“ hat er im Jahr 2021 realisiert. Er holt Figuren und Handlungselemente aus Prousts Romanzyklus in sein eigenes Werk, taucht sie ein in den Stil der Burleske. Aus Paris wird eine Kleinstadt an der Donau, aus den aristokratischen Guermantes eine reiche Metzgersfamilie, aus Swann ein etwas wunderlicher Herr Tatalović. Sie alle steigen aus der Erinnerung des Erzählers an seine Kindheit auf, in der ihm der Prokurist der Firma Ševčik & Co. eine literarische Karriere prophezeite.
Die Figuren des Mini-Romans leben nicht von den Proust-Bezügen, die Alida Bremer in einer Nachbemerkung erläutert, sondern von ihrer Verwurzelung in ihrem eigenen Kosmos, in derben Alltagsgesprächen, die so unablässig rauschen wie bei Proust die Salonkonversation, ob es um technische Neuerungen geht, die Zeitgeschichte oder den Tratsch über sexuelle Orientierungen. Das Ganze ist in der Zwischenkriegszeit angesiedelt, öffnet sich aber auf den Zweiten Weltkrieg hin, auf die Okkupation durch die Deutschen. Anders als der antisemitisch ausgegrenzte Swann bei Proust stirbt der jüdische Herr Tatalović nicht an einer auszehrenden Krankheit, sondern wird ermordet. Der von Mirjana und Klaus Wittmann ins Deutsche übersetzte schmale Roman ist das Musterbeispiel einer eigenständigen Hommage.
Nach dem konzisen, klug komponierten „Proust-ABC“ der Romanistin Ulrike Sprenger, das 2021 eine erweiterte Neuausgabe erlebte, hat nun Luzius Keller, der Herausgeber der Frankfurter Proust-Ausgabe, ein voluminöses „Marcel Proust Alphabet“ herausgebracht. Es ähnelt der „Marcel Proust Enzyklopädie“ von 2009, an deren deutscher Ausgabe Keller nicht nur als Herausgeber, sondern zugleich als Autor oder Ko-Autor von weit mehr als 200 Einträgen beteiligt war. In das neue Werk hat er viele dieser – und einiger Beiträge anderer Autoren – aus der Enzyklopädie übernommen, die als „Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung“ gelesen werden wollte.
Diesen Charakter hat auch das „Alphabet“, das eine Fülle von Personen aus Prousts Leben, die Figuren des Werks umfasst, dieses Werk über die „Recherche“ hinaus in allen Facetten erschließt, den Weißdorn wie die Gelehrsamkeit, die technischen Neuerungen der Epoche wie die „Geschlechtsverschiebungen“ kommentiert. Angesichts der Fülle fällt auf, dass zwar Holland und die Normandie, nicht aber Algerien und Ägypten einen Eintrag erhalten, dem Schriftsteller Bergotte nicht der General Boulanger folgt. Der Konversation geht hier nicht der Kolonialismus der Dritten Republik voraus, der summarische Eintrag „Geld“ kann die Abwesenheit der „Aktien“ und der „Börse“ so wenig kompensieren wie der knappe Eintrag „Militärwesen“ die Abwesenheit eines Eintrags „Erster Weltkrieg“ als Gegenüber zur ausführlich dargestellten „Dreyfus-Affäre“.
LOTHAR MÜLLER
Luzius Keller:
Das Marcel Proust Alphabet. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und
Deutung. Friedenauer Presse, Berlin 2022.
976 Seiten, 68 Euro.
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 99. Rigodon, Essen 2022.
180 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nie weiß man genug über ihn: Beiträge von Nachfahren und Zeitgenossen
Als Marcel Proust am 18. November 1922, einem Samstag, in seiner Wohnung in der Rue Hamelin gestorben war, verbreitete sich die Todesnachricht unter seinen Freunden und Bekannten schnell. Die Maler Paul Helleu und André Dunoyer de Segonzac fertigten Porträtzeichnungen am Totenbett an, Man Ray kam mit der Kamera in die Rue Hamelin. Der Figaro brachte auf der ersten Seite der Sonntagsausgabe eine längere Meldung. Jacques Rivière, Lektor bei Gallimard und Chefredakteur der Zeitschrift Nouvelle Revue Francaise, brachte Anfang 1923 eine Sondernummer „Hommage à Marcel Proust. 1871-1922“ heraus. Unter den Beiträgern waren Maurice Barrès, Joseph Conrad, Ernst Robert Curtius, Paul Valéry und andere. Im „Schreibheft. Zeitschrift für Literatur“ sind nun in deutscher Erstübersetzung die Texte von Jean Cocteau, Valery Larbaud und Paul Morand aus dieser Sondernummer erschienen.
Larbaud blickt auf die Zeit zurück, als Proust in den Literatenkreisen von Paris vor allem der Übersetzer John Ruskins war. Paul Morand, der gern preziöse Pointen produzierte, schrieb: „Was mich am stärksten frappierte, als ich Proust kennenlernte, war die Begegnung mit jemandem, der so früh zu leben aufgehört hatte.“ Jean Cocteau verteidigte das Interesse Prousts am mondänen Leben nicht zuletzt in eigener Sache. In seinem Porträt der Stimme Prousts aber trifft er eine Dimension des Werks: „Es fällt mir schwer, sein Werk zu lesen statt es zu hören.“ Cocteaus Proust kann lachen: „Marcel Proust liebte das Lachen. Er schwamm darin wie im Entwicklerbad.“ Jürgen Ritte hat die Texte nicht nur übersetzt, sondern mit biografischen Skizzen und einer Nachbemerkung versehen. Sie erwägt den Gedanken, in den Passagen über das Sterben des (fiktiven) Schriftstellers Bergotte in seinem großen Roman habe sich Proust selbst den schönsten Nachruf geschrieben.
„Bergottes Witwe“ heißt die Proust-Hommage des serbischen Schriftstellers Bora Ćosić , die das Schreibheft den Reminiszenzen der Zeitgenossen an die Seite stellt. Ćosić, inzwischen neunzig Jahre alt, hat in jungen Jahren Prousts Recherche gelesen. Die 1994 skizzierte Idee zu „Bergottes Witwe“ hat er im Jahr 2021 realisiert. Er holt Figuren und Handlungselemente aus Prousts Romanzyklus in sein eigenes Werk, taucht sie ein in den Stil der Burleske. Aus Paris wird eine Kleinstadt an der Donau, aus den aristokratischen Guermantes eine reiche Metzgersfamilie, aus Swann ein etwas wunderlicher Herr Tatalović. Sie alle steigen aus der Erinnerung des Erzählers an seine Kindheit auf, in der ihm der Prokurist der Firma Ševčik & Co. eine literarische Karriere prophezeite.
Die Figuren des Mini-Romans leben nicht von den Proust-Bezügen, die Alida Bremer in einer Nachbemerkung erläutert, sondern von ihrer Verwurzelung in ihrem eigenen Kosmos, in derben Alltagsgesprächen, die so unablässig rauschen wie bei Proust die Salonkonversation, ob es um technische Neuerungen geht, die Zeitgeschichte oder den Tratsch über sexuelle Orientierungen. Das Ganze ist in der Zwischenkriegszeit angesiedelt, öffnet sich aber auf den Zweiten Weltkrieg hin, auf die Okkupation durch die Deutschen. Anders als der antisemitisch ausgegrenzte Swann bei Proust stirbt der jüdische Herr Tatalović nicht an einer auszehrenden Krankheit, sondern wird ermordet. Der von Mirjana und Klaus Wittmann ins Deutsche übersetzte schmale Roman ist das Musterbeispiel einer eigenständigen Hommage.
Nach dem konzisen, klug komponierten „Proust-ABC“ der Romanistin Ulrike Sprenger, das 2021 eine erweiterte Neuausgabe erlebte, hat nun Luzius Keller, der Herausgeber der Frankfurter Proust-Ausgabe, ein voluminöses „Marcel Proust Alphabet“ herausgebracht. Es ähnelt der „Marcel Proust Enzyklopädie“ von 2009, an deren deutscher Ausgabe Keller nicht nur als Herausgeber, sondern zugleich als Autor oder Ko-Autor von weit mehr als 200 Einträgen beteiligt war. In das neue Werk hat er viele dieser – und einiger Beiträge anderer Autoren – aus der Enzyklopädie übernommen, die als „Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung“ gelesen werden wollte.
Diesen Charakter hat auch das „Alphabet“, das eine Fülle von Personen aus Prousts Leben, die Figuren des Werks umfasst, dieses Werk über die „Recherche“ hinaus in allen Facetten erschließt, den Weißdorn wie die Gelehrsamkeit, die technischen Neuerungen der Epoche wie die „Geschlechtsverschiebungen“ kommentiert. Angesichts der Fülle fällt auf, dass zwar Holland und die Normandie, nicht aber Algerien und Ägypten einen Eintrag erhalten, dem Schriftsteller Bergotte nicht der General Boulanger folgt. Der Konversation geht hier nicht der Kolonialismus der Dritten Republik voraus, der summarische Eintrag „Geld“ kann die Abwesenheit der „Aktien“ und der „Börse“ so wenig kompensieren wie der knappe Eintrag „Militärwesen“ die Abwesenheit eines Eintrags „Erster Weltkrieg“ als Gegenüber zur ausführlich dargestellten „Dreyfus-Affäre“.
LOTHAR MÜLLER
Luzius Keller:
Das Marcel Proust Alphabet. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und
Deutung. Friedenauer Presse, Berlin 2022.
976 Seiten, 68 Euro.
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 99. Rigodon, Essen 2022.
180 Seiten, 15 Euro.
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