Edmund Stoiber legt die Voraussetzungen seines Denkens, seines Handelns und seiner Überzeugungen offen. Im Gespräch mit Friedrich Kabermann wird ein neuer, ein nachdenklicher Ton vernehmbar, der in den politischen Debatten des Tages sonst nicht zu hören ist. Ein Buch, das wohltuend anders ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2002Stoibers Wanderung durch Raum und Zeit
Wer sich für die Kanzlerkandidatur rüstet, tut gut daran, erst einmal sein Bildungsbürgertum nachzuweisen
Edmund Stoiber/Friedrich Kabermann: Das Maß der Dinge. Über die Kunst, das politisch Notwendige zu tun. Droemersche Verlagsanstalt, München 2001. 285 Seiten, 19,90 Euro.
Jedes Gesprächsbuch ist nur so gut wie der zweite Partner, jeder Wahlkampf nur so gut wie der Herausforderer. Was gäbe es in diesen Tagen also Aufschlußreicheres, ja Aufregenderes als ein Buch, auf dessen Einband Edmund Stoibers Bild und Name prangen. Der Titel selbst ist darunter nur noch in kleinen Buchstaben gedruckt: "Das Maß der Dinge - Über die Kunst, das politisch Notwendige zu tun". Und zwischen Stoiber und dem Titel gibt es dann, ziemlich blaß getönt, einen zweiten Namen, den es für ein sogenanntes Gesprächsbuch nun einmal braucht.
Friedrich Kabermann, Stoibers Partner, ist kein alter Weggefährte des bayerischen Juristen und CSU-Vorsitzenden, sondern ein Autor wissenschaftlicher und belletristischer Bücher. Laut Klappentext ist er in diesem Fall jedoch schlicht "ein Bürger, der das Gespräch mit einem Spitzenpolitiker sucht". Stoiber hatte Glück, denn der Bürger ist diesmal der Prototyp des deutschen Bildungsbürgers, bewandert in Geschichte und Philosophie und bestens gerüstet mit Anekdoten aus Rom, Zitaten aus der Bibel und Merksätzen Kants. Da der vielgelobte "Einser-Jurist" Stoiber da mithalten kann, entwickelte sich im vergangenen Jahr zwischen den beiden Männern ein Gespräch. Es ist ein über mehrere Gelegenheiten und wahrscheinlich über Wochen geführtes echtes Zwiegespräch mit Einwürfen und Monologen, Fragen und Widerworten. Das zumindest macht das Buch lesenswert.
Woher kommt eigentlich das überhebliche Vorurteil von Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten, daß Politiker mit ihnen nicht mithalten könnten? Kabermann ist gewiß ein Intellektueller, aber das einzige, was ihn von Stoiber unterscheidet, ist, daß letzterer näher an der Wirklichkeit und somit "an den Menschen" dran ist als der pessimistische, zu Zen und Buddhismus neigende Schöngeist, den an der Berechtigung seiner Zukunftsängste und seiner Gesellschafts-, erst recht Politikkritik keinerlei Zweifel überkommen.
Stoiber war in den Tagen des Dialogs anscheinend noch weit davon entfernt, die Kanzlerkandidatur nicht nur der CSU (den Anspruch zu erheben, ihr regionaler Spitzenmann sei auch für die Bundesrepublik gut, gehört seit je zum Ritual der CSU vor Bundestagswahlen), sondern von CDU und CSU insgesamt an sich zu reißen. Denn er enthielt sich jeglicher Wahlkampftöne und -floskeln. Deshalb ist das Buch auch keine geeignete Quelle für jene im Unionshauptquartier, die nun für den Kandidaten Losungen und Kampfrufe erfinden oder finden sollen.
Die Lektüre lohnt sich nur für den, der sich mit wohl- oder übelgemeinten Kurzzitaten in den Medien nicht zufriedengibt, sondern hinter den Tagesaussagen des Politikers und Amtsträgers den Staatsbürger, den Mitbürger, den Nachdenklichen, den in die Zukunft Lugenden, den Christen, den Vater, den Großvater, kurzum die Person Edmund Stoiber sucht. Denn um die allein geht es, wenn sich das Gespräch Themen und Dimensionen zuwendet, die nicht in der Zuständigkeit des bayerischen Ministerpräsidenten, des potentiellen Bundeskanzlers, des potentiellen EU- und G-7- und G-8-Gipfelteilnehmers, ja nicht einmal des CSU-Vorsitzenden eingeschlossen sind. "Die geschichtliche Entwicklung selbst stellt uns vor die Aufgabe, nach der Wirtschaft nun auch den Umbau der Gesellschaft vorzunehmen, nicht allein in Deutschland und Europa, sondern überall in der Welt. Und den kann bei uns nach Lage der Dinge zur Zeit nur der aufgeklärte Konservativismus vollziehen. Er darf der Gesellschaft nicht von oben verordnet werden, sondern muß von unten wachsen: angefangen beim Welt- und Menschenbild. Und es gibt noch einen dritten Punkt: Wie verstehen wir uns, wie unsere Welt? Diese Frage zielt nicht auf Theorien, sondern auf die Aufgaben, die vor uns liegen. Was der Mensch ,ist', wissen wir nicht. Aber was ihm aufgegeben ist, das können wir erkennen."
Wie alle "aufgeklärten Konservativen" ist Stoiber ständig hin- und hergerissen, zwischen dem zupackenden Verändernwollen und dem einfühlsamen Bewahrenwollen. "So hilft es nichts, den sogenannten Reformstau auf Teufel komm raus auflösen zu wollen, wenn dadurch ein Gefühlsstau aus Angst und Abwehr gegen den Modernisierungsdruck entsteht. (. . .) Frieden heißt auch sozialer Frieden, also Schutz vor Armut und Verelendung. (. . .) Was wir ebenfalls brauchen, ist eine globalisierte soziale Marktwirtschaft."
Spannende Momente gibt es in dem Gespräch viele, nicht nur formal, wenn Stoibers aufsteigende Ungeduld spürbar wird, weil er sich von Kabermann ins Ungefähre entführt fühlt und er sein Gegenüber, aber auch sich selbst barsch auf den Boden der Realpolitik zurückzwingt. Inhaltlich brisant sind neben Aussagen zur Kultur und Zukunftsfähigkeit der Spezies Mensch die Stellen, an denen Stoibers damalige - also vor dem Juli 2001, als Kabermann sein Nachwort verfaßte, dokumentierte - außenpolitische Untiefe zum Ausdruck kommt. Da lag der 11. September noch vor den Gesprächspartnern und dem Rest der Welt. Seither wird Stoiber bewußt geworden sein, welchem Trugschluß er erlegen ist, als er diese apodiktischen Sätze sprach: "Die Bezeichnungen ,West' - ,Ost' als politische Bestimmungen haben nach Beendigung des Kalten Krieges ihre Bedeutung verloren. Europa zum ,Westen' zu zählen hatte nur so lange eine Berechtigung, als die Konfrontation zwischen freier und kommunistischer Welt bestand."
Daß die Bedeutung von "West" und "Ost" weit über 1917 oder 1945 bis 1989 hinausgeht und diese Teilung beziehungsweise Unterschiedlichkeit und Konkurrenz eine Konstante der Weltgeschichte ist, scheint Stoiber in ihrer Tiefe nicht allgegenwärtig gewesen zu sein. Immerhin hatte Kabermann - wie bereits hervorgehoben: vor dem Juli 2001 - die amerikanische Geheimdienststudie "Global Trends 2015" dankenswerterweise in das Gespräch eingeführt: "Danach ergeben sich die Hauptgefahren für die Welt künftig daraus, daß Autorität und Macht der Staaten zurückgehen und ,nicht-staatliche Akteure' international vernetzter ,Terrorbanden' eine immer größere Rolle spielen: ,Demographischer Druck, soziale Unruhen, religiöse und ideologische Extreme sowie internationaler Terrorismus' werden danach die Welt destabilisieren."
Kabermann erwähnte die Ausbildung "terroristischer Kader in Afghanistan" und zitierte: ". . . die weitere Explosion der Bevölkerung in Asien, der ein Rückgang der Geburten in USA, Europa und Rußland gegenüberstehe. Dazu Massenwanderungen der Ärmsten der Armen, Hunger-, Wasser- und Klimakatastrophen." Der Ministerpräsident antwortet darauf: "Die Migrations- sowie Bevölkerungspolitik mit ihren vielschichtigen Aspekten ist in der Tat das eigentliche Thema der Zukunft, auch für die Europäer, auch für Deutschland." Nichts weiter. Kein Wort davon, daß Migration nicht nur Zufluchtsuche, sondern auch gezielte Expansion sein kann, daß Bevölkerungspolitik nicht minder offensiv wie defensiv sein kann, daß ohne Bewahrung seiner Leitkultur Europa in wenigen Jahrzehnten sein Gesicht stärker verändern wird als in der Neuzeit insgesamt. Wollte Stoiber dazu nicht mehr sagen? Oder ist ihm sein Gesprächspartner ins Wort gefallen?
Jedenfalls läßt sich Stoiber auf ein anderes Thema führen und stellt einige Seiten später fest: "Die Zeit der Ideologien ist vorbei. Auch dem religiösen Fundamentalismus mit seinen politischen Ambitionen gebe ich auf Dauer keine Zukunft, obwohl er eine Region wie Zentralasien vorübergehend destabilisieren könnte. Er wird aber dem globalen Modernisierungsdruck auf Dauer nicht standhalten, und das ist gut so." Daß er viel zu optimistisch war, hat der 11. September bewiesen. Ost und West sind eben nicht nur Begriffe der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, sondern Chiffren für verschiedenartiges Denken unter verschiedenartigen Bedingungen, wobei wohl noch lange nicht klar sein wird, ob das Sein das Bewußtsein bestimmt oder umgekehrt. Daß sich Stoiber bei seiner Einschätzung der Bedrohlichkeit nicht von jedermann unterschied, ist keine Schande, aber auch kein Ruhm. Allerdings sind auch von Bundeskanzler Schröder, den Stoiber nun herausgefordert hat, keine hellsichtigeren Aussagen aus der Zeit vor den Massenmorden in Amerika überliefert. Damit stehen sich zwei zumindest ebenbürtige Wahlkämpfer gegenüber.
Vielleicht hätte Stoiber anders formuliert, wenn er nicht gegen einen - pessimistischen, geradezu apokalyptisch geneigten - Gesprächspartner anargumentiert hätte, sondern selbst sich die Fragen gestellt und über die Antworten ohne die Furcht vor Gesprächs- oder Denkpausen und langweilenden Gleichklang nachgedacht hätte. Dann wäre - so ist zu hoffen - auf viel weniger Seiten ein noch besseres Buch entstanden.
GEORG PAUL HEFTY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer sich für die Kanzlerkandidatur rüstet, tut gut daran, erst einmal sein Bildungsbürgertum nachzuweisen
Edmund Stoiber/Friedrich Kabermann: Das Maß der Dinge. Über die Kunst, das politisch Notwendige zu tun. Droemersche Verlagsanstalt, München 2001. 285 Seiten, 19,90 Euro.
Jedes Gesprächsbuch ist nur so gut wie der zweite Partner, jeder Wahlkampf nur so gut wie der Herausforderer. Was gäbe es in diesen Tagen also Aufschlußreicheres, ja Aufregenderes als ein Buch, auf dessen Einband Edmund Stoibers Bild und Name prangen. Der Titel selbst ist darunter nur noch in kleinen Buchstaben gedruckt: "Das Maß der Dinge - Über die Kunst, das politisch Notwendige zu tun". Und zwischen Stoiber und dem Titel gibt es dann, ziemlich blaß getönt, einen zweiten Namen, den es für ein sogenanntes Gesprächsbuch nun einmal braucht.
Friedrich Kabermann, Stoibers Partner, ist kein alter Weggefährte des bayerischen Juristen und CSU-Vorsitzenden, sondern ein Autor wissenschaftlicher und belletristischer Bücher. Laut Klappentext ist er in diesem Fall jedoch schlicht "ein Bürger, der das Gespräch mit einem Spitzenpolitiker sucht". Stoiber hatte Glück, denn der Bürger ist diesmal der Prototyp des deutschen Bildungsbürgers, bewandert in Geschichte und Philosophie und bestens gerüstet mit Anekdoten aus Rom, Zitaten aus der Bibel und Merksätzen Kants. Da der vielgelobte "Einser-Jurist" Stoiber da mithalten kann, entwickelte sich im vergangenen Jahr zwischen den beiden Männern ein Gespräch. Es ist ein über mehrere Gelegenheiten und wahrscheinlich über Wochen geführtes echtes Zwiegespräch mit Einwürfen und Monologen, Fragen und Widerworten. Das zumindest macht das Buch lesenswert.
Woher kommt eigentlich das überhebliche Vorurteil von Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten, daß Politiker mit ihnen nicht mithalten könnten? Kabermann ist gewiß ein Intellektueller, aber das einzige, was ihn von Stoiber unterscheidet, ist, daß letzterer näher an der Wirklichkeit und somit "an den Menschen" dran ist als der pessimistische, zu Zen und Buddhismus neigende Schöngeist, den an der Berechtigung seiner Zukunftsängste und seiner Gesellschafts-, erst recht Politikkritik keinerlei Zweifel überkommen.
Stoiber war in den Tagen des Dialogs anscheinend noch weit davon entfernt, die Kanzlerkandidatur nicht nur der CSU (den Anspruch zu erheben, ihr regionaler Spitzenmann sei auch für die Bundesrepublik gut, gehört seit je zum Ritual der CSU vor Bundestagswahlen), sondern von CDU und CSU insgesamt an sich zu reißen. Denn er enthielt sich jeglicher Wahlkampftöne und -floskeln. Deshalb ist das Buch auch keine geeignete Quelle für jene im Unionshauptquartier, die nun für den Kandidaten Losungen und Kampfrufe erfinden oder finden sollen.
Die Lektüre lohnt sich nur für den, der sich mit wohl- oder übelgemeinten Kurzzitaten in den Medien nicht zufriedengibt, sondern hinter den Tagesaussagen des Politikers und Amtsträgers den Staatsbürger, den Mitbürger, den Nachdenklichen, den in die Zukunft Lugenden, den Christen, den Vater, den Großvater, kurzum die Person Edmund Stoiber sucht. Denn um die allein geht es, wenn sich das Gespräch Themen und Dimensionen zuwendet, die nicht in der Zuständigkeit des bayerischen Ministerpräsidenten, des potentiellen Bundeskanzlers, des potentiellen EU- und G-7- und G-8-Gipfelteilnehmers, ja nicht einmal des CSU-Vorsitzenden eingeschlossen sind. "Die geschichtliche Entwicklung selbst stellt uns vor die Aufgabe, nach der Wirtschaft nun auch den Umbau der Gesellschaft vorzunehmen, nicht allein in Deutschland und Europa, sondern überall in der Welt. Und den kann bei uns nach Lage der Dinge zur Zeit nur der aufgeklärte Konservativismus vollziehen. Er darf der Gesellschaft nicht von oben verordnet werden, sondern muß von unten wachsen: angefangen beim Welt- und Menschenbild. Und es gibt noch einen dritten Punkt: Wie verstehen wir uns, wie unsere Welt? Diese Frage zielt nicht auf Theorien, sondern auf die Aufgaben, die vor uns liegen. Was der Mensch ,ist', wissen wir nicht. Aber was ihm aufgegeben ist, das können wir erkennen."
Wie alle "aufgeklärten Konservativen" ist Stoiber ständig hin- und hergerissen, zwischen dem zupackenden Verändernwollen und dem einfühlsamen Bewahrenwollen. "So hilft es nichts, den sogenannten Reformstau auf Teufel komm raus auflösen zu wollen, wenn dadurch ein Gefühlsstau aus Angst und Abwehr gegen den Modernisierungsdruck entsteht. (. . .) Frieden heißt auch sozialer Frieden, also Schutz vor Armut und Verelendung. (. . .) Was wir ebenfalls brauchen, ist eine globalisierte soziale Marktwirtschaft."
Spannende Momente gibt es in dem Gespräch viele, nicht nur formal, wenn Stoibers aufsteigende Ungeduld spürbar wird, weil er sich von Kabermann ins Ungefähre entführt fühlt und er sein Gegenüber, aber auch sich selbst barsch auf den Boden der Realpolitik zurückzwingt. Inhaltlich brisant sind neben Aussagen zur Kultur und Zukunftsfähigkeit der Spezies Mensch die Stellen, an denen Stoibers damalige - also vor dem Juli 2001, als Kabermann sein Nachwort verfaßte, dokumentierte - außenpolitische Untiefe zum Ausdruck kommt. Da lag der 11. September noch vor den Gesprächspartnern und dem Rest der Welt. Seither wird Stoiber bewußt geworden sein, welchem Trugschluß er erlegen ist, als er diese apodiktischen Sätze sprach: "Die Bezeichnungen ,West' - ,Ost' als politische Bestimmungen haben nach Beendigung des Kalten Krieges ihre Bedeutung verloren. Europa zum ,Westen' zu zählen hatte nur so lange eine Berechtigung, als die Konfrontation zwischen freier und kommunistischer Welt bestand."
Daß die Bedeutung von "West" und "Ost" weit über 1917 oder 1945 bis 1989 hinausgeht und diese Teilung beziehungsweise Unterschiedlichkeit und Konkurrenz eine Konstante der Weltgeschichte ist, scheint Stoiber in ihrer Tiefe nicht allgegenwärtig gewesen zu sein. Immerhin hatte Kabermann - wie bereits hervorgehoben: vor dem Juli 2001 - die amerikanische Geheimdienststudie "Global Trends 2015" dankenswerterweise in das Gespräch eingeführt: "Danach ergeben sich die Hauptgefahren für die Welt künftig daraus, daß Autorität und Macht der Staaten zurückgehen und ,nicht-staatliche Akteure' international vernetzter ,Terrorbanden' eine immer größere Rolle spielen: ,Demographischer Druck, soziale Unruhen, religiöse und ideologische Extreme sowie internationaler Terrorismus' werden danach die Welt destabilisieren."
Kabermann erwähnte die Ausbildung "terroristischer Kader in Afghanistan" und zitierte: ". . . die weitere Explosion der Bevölkerung in Asien, der ein Rückgang der Geburten in USA, Europa und Rußland gegenüberstehe. Dazu Massenwanderungen der Ärmsten der Armen, Hunger-, Wasser- und Klimakatastrophen." Der Ministerpräsident antwortet darauf: "Die Migrations- sowie Bevölkerungspolitik mit ihren vielschichtigen Aspekten ist in der Tat das eigentliche Thema der Zukunft, auch für die Europäer, auch für Deutschland." Nichts weiter. Kein Wort davon, daß Migration nicht nur Zufluchtsuche, sondern auch gezielte Expansion sein kann, daß Bevölkerungspolitik nicht minder offensiv wie defensiv sein kann, daß ohne Bewahrung seiner Leitkultur Europa in wenigen Jahrzehnten sein Gesicht stärker verändern wird als in der Neuzeit insgesamt. Wollte Stoiber dazu nicht mehr sagen? Oder ist ihm sein Gesprächspartner ins Wort gefallen?
Jedenfalls läßt sich Stoiber auf ein anderes Thema führen und stellt einige Seiten später fest: "Die Zeit der Ideologien ist vorbei. Auch dem religiösen Fundamentalismus mit seinen politischen Ambitionen gebe ich auf Dauer keine Zukunft, obwohl er eine Region wie Zentralasien vorübergehend destabilisieren könnte. Er wird aber dem globalen Modernisierungsdruck auf Dauer nicht standhalten, und das ist gut so." Daß er viel zu optimistisch war, hat der 11. September bewiesen. Ost und West sind eben nicht nur Begriffe der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, sondern Chiffren für verschiedenartiges Denken unter verschiedenartigen Bedingungen, wobei wohl noch lange nicht klar sein wird, ob das Sein das Bewußtsein bestimmt oder umgekehrt. Daß sich Stoiber bei seiner Einschätzung der Bedrohlichkeit nicht von jedermann unterschied, ist keine Schande, aber auch kein Ruhm. Allerdings sind auch von Bundeskanzler Schröder, den Stoiber nun herausgefordert hat, keine hellsichtigeren Aussagen aus der Zeit vor den Massenmorden in Amerika überliefert. Damit stehen sich zwei zumindest ebenbürtige Wahlkämpfer gegenüber.
Vielleicht hätte Stoiber anders formuliert, wenn er nicht gegen einen - pessimistischen, geradezu apokalyptisch geneigten - Gesprächspartner anargumentiert hätte, sondern selbst sich die Fragen gestellt und über die Antworten ohne die Furcht vor Gesprächs- oder Denkpausen und langweilenden Gleichklang nachgedacht hätte. Dann wäre - so ist zu hoffen - auf viel weniger Seiten ein noch besseres Buch entstanden.
GEORG PAUL HEFTY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Hinter den Tagesaussagen des Politikers und Amtsträgers wird hier der Mitbürger, der Nachdenkliche, der Christ, der Vater, kurzum die Person Edmund Stoiber sichtbar." (Georg Paul Hefty in der FAZ)