Aris Fioretos, Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter, geboren und aufgewachsen in Schweden, lebt heute in Deutschland, öffnet in seinem neuen Buch eine wahre Wunderkammer voller kluger Geschichten und Essays, die den Geist auf lustvolle Weise beweglich halten: Neben anatomischen Feldstudien und einer Exkursion ins Innere des menschlichen Schädels stehen Kindheitserinnerungen,"Bulletins aus der Geschichte des Herzens"und eine"Liebeserklärung an Fräulein Uhr". So entsteht Literatur, die das scheinbar Disparate und Gegensätzliche zusammenbringt. Auf der Grenze zwischen Fiktion und Essay balancierend, sind Fioretos Texte ein Lesevergnügen auf hohem Niveau.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2008Verkühlt
Ein deutschsprachiger Russe, auf der Parteischule "Karl Marx" in Dialektik geschult und als Stasi-Spitzel tätig, wird eines Tages im Jahr 1955 von der "formidablen Ahnung" überfallen, dass es als Gegensatz zum Licht die Dunkelheit als eine Art selbständiger Substanz gebe, was ihm deutlich macht, dass auch "Abgründe der Dunkelheit" existieren müssen. Welche Wirkung das auf seine weitere Tätigkeit hat, erfahren wir nicht. Dunkelheit erlebt auf andere Art ein ghanaischer Schauspieler, der komatös als vermeintlicher Toter in das Kühlfach eines Leichenschauhauses in Accra gelegt wird und dort elendiglich erfriert. Anna B. hingegen, die schwedische Medizinstudentin, ertrinkt zwar bei einem Skiausflug unter dem Eis eines Flusses, aber überlebt mit 13,7 Grad Körpertemperatur als kältester Mensch der Welt. Kältetod in Zentralafrika oder konserviertes Leben im norwegischen Eis: überall scheint die Dialektik der Natur wirksam zu sein. Solche und eine ganze Menge weiterer Geschichten von der Nachtseite des Daseins enthält der Band "Das Maß eines Fußes" von Aris Fioretos. "Probebohrungen", Versuche, sich nicht mit dem "Druck von außen" abzufinden und stattdessen den "Letzten Dingen" nachzuspüren, nennt das der Verfasser, der als Diplomat in Berlin lebt und auf Schwedisch schreibt. Literatur driftet hier ins Philosophieren und zur Neigung, sich "über fast alles zwischen Himmel und Erde zu äußern", was zumeist auch dort anregend bleibt, wo hinter dem Dunklen kein Licht aufscheint. (Aris Fioretos: "Das Maß eines Fußes". Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2008. 366 S., geb., 21,50 [Euro].) GS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein deutschsprachiger Russe, auf der Parteischule "Karl Marx" in Dialektik geschult und als Stasi-Spitzel tätig, wird eines Tages im Jahr 1955 von der "formidablen Ahnung" überfallen, dass es als Gegensatz zum Licht die Dunkelheit als eine Art selbständiger Substanz gebe, was ihm deutlich macht, dass auch "Abgründe der Dunkelheit" existieren müssen. Welche Wirkung das auf seine weitere Tätigkeit hat, erfahren wir nicht. Dunkelheit erlebt auf andere Art ein ghanaischer Schauspieler, der komatös als vermeintlicher Toter in das Kühlfach eines Leichenschauhauses in Accra gelegt wird und dort elendiglich erfriert. Anna B. hingegen, die schwedische Medizinstudentin, ertrinkt zwar bei einem Skiausflug unter dem Eis eines Flusses, aber überlebt mit 13,7 Grad Körpertemperatur als kältester Mensch der Welt. Kältetod in Zentralafrika oder konserviertes Leben im norwegischen Eis: überall scheint die Dialektik der Natur wirksam zu sein. Solche und eine ganze Menge weiterer Geschichten von der Nachtseite des Daseins enthält der Band "Das Maß eines Fußes" von Aris Fioretos. "Probebohrungen", Versuche, sich nicht mit dem "Druck von außen" abzufinden und stattdessen den "Letzten Dingen" nachzuspüren, nennt das der Verfasser, der als Diplomat in Berlin lebt und auf Schwedisch schreibt. Literatur driftet hier ins Philosophieren und zur Neigung, sich "über fast alles zwischen Himmel und Erde zu äußern", was zumeist auch dort anregend bleibt, wo hinter dem Dunklen kein Licht aufscheint. (Aris Fioretos: "Das Maß eines Fußes". Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2008. 366 S., geb., 21,50 [Euro].) GS
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2009Wohin die Sonne nicht scheint
Aris Fioretos über die Biologie der Literatur: „Das Maß eines Fußes”
Der Fuß im Titel dieses Buches, in dem der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos einige seiner Essays, Erinnerungen, Gedichte und Aphorismen gesammelt hat, stammt aus einem Fragment des griechischen Philosophen Heraklit. Die Sonne, heißt es darin, habe das Maß eines menschlichen Fußes. Darüber lässt sich lange grübeln. Fioretos macht es kurz: „Am einfachsten wäre es sicher, den Text beim Wort zu nehmen. Denn genügt es nicht, selber einmal am Ufer gelegen, die allerorten gegenwärtige Sonne genossen zu haben und von ihr gleichzeitig gestört worden zu sein? Wenn man mit Hand oder Fuß den Platz des Himmelskörpers einnimmt, entsteht der Lichtkranz, welcher der physischen Welt ihren Nimbus verleiht.”
Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter, die gemeinsam nach Schweden einwanderten, verfolgt in diesem Buch eine fixe Idee: dass die Literatur nicht lediglich die Einbildungskraft beschäftigt, sondern mit möglichst großer Intensität den gesamten Körper des Lesenden ergreift. Der Leser Fioretos hält den Fuß in die Sonne, um das Fragment des Heraklit besser lesen zu können. Und der Autor Fioretos notiert: „Eine seltsame Vorstellung: sich einem Text hinzugeben, wie der Epileptiker einen Anfall durchleidet.”
Schon nach wenigen Essays sind die Hausgötter versammelt, denen sich diese Vorstellung der Lektüre als eines epileptischen Anfalls verdankt. Es sind die großen Gewährsmänner der Ästhetik des Schocks und des beunruhigenden Details von Baudelaire und Poe über den Comte de Lautréamont und seine Bewunderer, die Surrealisten, bis hin zu Walter Benjamin und Wladimir Nabokov. Ihnen entrichtet der Leser Fioretos gelegentlich ein wenig mehr Opfersteuern, als dem Autor Fioretos gut tut – etwa, wenn er eine seiner präzisen Kindheitserinnerungen, die von einer Holzpuppe handelt, mit einem Passepartout Marke Benjamin versieht: „Die ersten Puppen sind Schutzgeister von einem unbekannten Kontinent, Wesen aus einer Zeit, einem Ort vor der Schöpfung. Mit ihnen führt das Kind alleine Mythen auf.”
Für solche Entrückungen ins Nebulose entschädigt die Hartnäckigkeit, mit der Fioretos seiner fixen Idee in den Regionen des Kuriosen, des Trivialen und des Physiologisch-Medizinischen nachjagt. Er bringt von dieser Jagd Bilder der Trepanation mit, auf den sich neugierige Selbsterforscher ihres Gehirns ein Loch in die Schädeldecke bohren, als ihr drittes Auges; Bilder von Lesenden, die das Kleeblatt von sitzender, stehender und liegender Lektüre verkörpern; oder Beschreibungen der hyperrealistischen Körper-Skulpturen des Australiers Ron Mueck, in denen die anatomischen Präparate den Sammlungen des 19. Jahrhunderts wiederzukehren scheinen.
Man kann an diesen Essays studieren, dass die Ästhetik des Schocks es nicht verträgt, beschworen zu werden. Denn die Momente der Unruhe und des Heraustretens aus der gewöhnlichen Zeit, denen er als Autor nachjagt, weil er ihnen als Leser verfallen ist, erreicht Fioretos nicht in jenen Passagen, in denen er seine Hausgötter zitiert und kommentiert. Sondern dann, wenn er die Umrisse des Fußes beschreibend nachzeichnet, den er in die Sonne hält. LOTHAR MÜLLER
ARIS FIORETOS: Das Maß eines Fußes. Aus dem Schwedischen übersetzt von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2008. 366 Seiten, 21,50 Euro.
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Aris Fioretos über die Biologie der Literatur: „Das Maß eines Fußes”
Der Fuß im Titel dieses Buches, in dem der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos einige seiner Essays, Erinnerungen, Gedichte und Aphorismen gesammelt hat, stammt aus einem Fragment des griechischen Philosophen Heraklit. Die Sonne, heißt es darin, habe das Maß eines menschlichen Fußes. Darüber lässt sich lange grübeln. Fioretos macht es kurz: „Am einfachsten wäre es sicher, den Text beim Wort zu nehmen. Denn genügt es nicht, selber einmal am Ufer gelegen, die allerorten gegenwärtige Sonne genossen zu haben und von ihr gleichzeitig gestört worden zu sein? Wenn man mit Hand oder Fuß den Platz des Himmelskörpers einnimmt, entsteht der Lichtkranz, welcher der physischen Welt ihren Nimbus verleiht.”
Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter, die gemeinsam nach Schweden einwanderten, verfolgt in diesem Buch eine fixe Idee: dass die Literatur nicht lediglich die Einbildungskraft beschäftigt, sondern mit möglichst großer Intensität den gesamten Körper des Lesenden ergreift. Der Leser Fioretos hält den Fuß in die Sonne, um das Fragment des Heraklit besser lesen zu können. Und der Autor Fioretos notiert: „Eine seltsame Vorstellung: sich einem Text hinzugeben, wie der Epileptiker einen Anfall durchleidet.”
Schon nach wenigen Essays sind die Hausgötter versammelt, denen sich diese Vorstellung der Lektüre als eines epileptischen Anfalls verdankt. Es sind die großen Gewährsmänner der Ästhetik des Schocks und des beunruhigenden Details von Baudelaire und Poe über den Comte de Lautréamont und seine Bewunderer, die Surrealisten, bis hin zu Walter Benjamin und Wladimir Nabokov. Ihnen entrichtet der Leser Fioretos gelegentlich ein wenig mehr Opfersteuern, als dem Autor Fioretos gut tut – etwa, wenn er eine seiner präzisen Kindheitserinnerungen, die von einer Holzpuppe handelt, mit einem Passepartout Marke Benjamin versieht: „Die ersten Puppen sind Schutzgeister von einem unbekannten Kontinent, Wesen aus einer Zeit, einem Ort vor der Schöpfung. Mit ihnen führt das Kind alleine Mythen auf.”
Für solche Entrückungen ins Nebulose entschädigt die Hartnäckigkeit, mit der Fioretos seiner fixen Idee in den Regionen des Kuriosen, des Trivialen und des Physiologisch-Medizinischen nachjagt. Er bringt von dieser Jagd Bilder der Trepanation mit, auf den sich neugierige Selbsterforscher ihres Gehirns ein Loch in die Schädeldecke bohren, als ihr drittes Auges; Bilder von Lesenden, die das Kleeblatt von sitzender, stehender und liegender Lektüre verkörpern; oder Beschreibungen der hyperrealistischen Körper-Skulpturen des Australiers Ron Mueck, in denen die anatomischen Präparate den Sammlungen des 19. Jahrhunderts wiederzukehren scheinen.
Man kann an diesen Essays studieren, dass die Ästhetik des Schocks es nicht verträgt, beschworen zu werden. Denn die Momente der Unruhe und des Heraustretens aus der gewöhnlichen Zeit, denen er als Autor nachjagt, weil er ihnen als Leser verfallen ist, erreicht Fioretos nicht in jenen Passagen, in denen er seine Hausgötter zitiert und kommentiert. Sondern dann, wenn er die Umrisse des Fußes beschreibend nachzeichnet, den er in die Sonne hält. LOTHAR MÜLLER
ARIS FIORETOS: Das Maß eines Fußes. Aus dem Schwedischen übersetzt von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2008. 366 Seiten, 21,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fasziniert hat Lothar Müller in den Essays, Kindheitserinnerungen, Gedichten und Aphorismen von Aris Fioretos gelesen und attestiert dem schwedischen Autor mit griechisch-österreichischen Wurzeln eine "fixe Idee": Dass nämlich die Literatur nicht nur den Geist des Menschen, sondern auch seinen Körper mit Macht erfasst wie ein "epileptischer Anfall", erklärt der Rezensent. Wenn der Autor seine literarischen Vorbilder wie Baudelaire, Poe oder Benjamin ehrt, tritt Aris für den Geschmack Müllers zu stark in die Rolle des ehrfürchtigen Lesers. Dass allerdings sieht der Rezensent dann wettgemacht, wenn der Autor seiner Idee fixe hartnäckig und in allerlei kuriosen Gebieten nachgeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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