Gert Heidenreichs poetisches Werk Das Meer - Atlantischer Gesang ist ein Epos über die See und die berühmten Kreidefelsen der Côte d'Albâtre in der Normandie. Seit 1976 ist die französische Küste zwischen Le Havre und Calais die zweite Heimat des Schriftstellers. Sie bestimmt seine Impressionen, Erzählungen und Reflexionen, die sich in seinem Atlantischen Gesang zu einer eigenen lyrischen Form verbinden: eine große Ode auf das Meer und eine dichterische Reise zum Ursprung des Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2023Vom Meer - und vom Innenmeer der Seele
Der Schnabelhai schnappt sich den Hasenwurm: Gert Heidenreichs vielgestaltiger und polyrhythmischer "Atlantischer Gesang"
Gert Heidenreich, Jahrgang 1944, war ein gefragter (Reise-)Journalist und beliebter Radiosprecher; man kennt seine Stimme aus Hörspielen und gut sechzig Hörbüchern. Und seinen Ton und seine Themen aus vielen Romanen. Geprägt durch die Lebenskultur der Achtundsechziger wie durch die folgenden ökologischen Bewegungen, schreibt er als ein Autor der Aufklärung, die gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch unhintergehbar schien.
"Das Meer - Atlantischer Gesang" ist das Alterswerk eines Mannes, der zu einer Generation gehört, die sich vielleicht als erste dem Altern verweigerte. Diese Kohorte brachte keine Greise hervor. Sondern eher den Typ des "uralten Jünglings", wie sich das lyrische Ich einmal nicht nur selbstironisch bezeichnet: dynamisch, liebesgewillt dem absehbaren Lebenshorizont zu. Manche dieser jungen Alten mögen sich heute, angesichts der Feuerwerke von MeToo- Aktivistinnen, die Augen reiben. Die wiederum könnten den Kopf schütteln über Heidenreichs erotische Anverwandlungen der See.
Geboren im brandenburgischen Eberswalde, lebt Heidenreich am Ostufer des bayrischen Pilsensees und seit 1976 auch jeweils mehrere Monate im Jahr an der Alabasterküste der Normandie zwischen Étretat und Dieppe. Diese legendäre Passage mit ihren bis zu hundert Meter hohen hellen Kalkfelsen, Gesteinsnasen und Höhlungen, die jeden Moment anders leuchten können, vielbesungen und immer wieder gemalt, spielt in Heidenreichs Romanen eine Rolle und wird nun zum poetischen Zentrum eines furiosen Daseinsrauschs und Lebensrückblicks. Ausgehend von Alltagsnotaten, zeigen sich das atlantische Meer und die normannische Küste impressionsstark und symbolbereit.
Die Natur ist da in der Spanne von Verheißung und Schrecken, aber im lustvollen Singen des Autors erscheint sie auch als Maskenball, als ein salznasses barockes Welttheater. Gleich im ersten der 28 (mal kürzeren oder längeren) Gesänge spricht ein Ich, "als Verseschmied verkleidet", das Meer mit "Madame" an. "Madame" wird "Dame in schwappender Robe, / die mit Spitzenbesatz nach mir leckt"; dann wieder ist sie die "alte Atlantika", die ihm "die schwere Hüfte ans Knie" drängt und so "Verneigung" gebietet. Oder, im lautmalerischen Sprachsprudelbad, "Meeresmadame", deren "klapperndes Schmatzen" erklingt, "als schlappte ihre weiße Prothese, wenn sie knabbert am Land". Der Radiomann Gert Heidenreich kommt vom Sound und orchestriert vielstimmige Gesänge, er lässt uns hören die "trostlosen Oden der Gurken am Grund, / die Choräle aller Korallen, / der Sandwürmer längliche Aphorismen". Und kokett fragt er seine Frau Meer: "Mit wem haben Sie sich hinterm Horizont gewälzt, / dass Sie so zerwühlt auf den Strand gerollt kommen?" Und wieder ganz anders im kurzen zweiten Gesang: "Mädchenhaft rennst du im Morgen an Land, / vor mir springt dein Schaum auf, als wär ich dir neu." Das Meer ist weiblich, ist "bleisilbern und faul", ist "dösendes Weib auf dem Rücken", ist vielgestaltiges Gegenüber und Seelenspiegel des Ich, dem es oder besser in dem es sich selbst (seinem "Innenmeer") in wechselvollen Wassermomenten begegnet.
Der Blick kann auch von der See auf die Klippen treffen. Auf die kalkigen Bibliotheken der Vorzeit, in die sich die Meerestiere vor Millionen von Jahren eingeschrieben haben, damals, als das, was nun als Land aufragt, unter Wasser war. "Beharrlich das Schweigen der Ammoniten / tief in der Steilwand: Sterbend vertrauten sie ihre / schöngeschwungenen Hörnergehäuse dem Riff an, / als sie den unwiderruflichen Untergang spürten."
Und wie bei allen Meerstücken ziehen die Wolken vorbei, die Wolken, die das schauende Ich "als ihre willige Feder" wiegen, sie sind das "Bettzeug" des Himmels. Aber auch wolkig verzogen kommen sie vorbei als "phantasmagorische Tiere (. . .) / der Schnabelhai schnappt sich den Hasenwurm"; und das Ich "verblickt" sich im "windgewischten Zoo". Auch Menschen gibt es. Neben Frau Meer lockt die vertraute Schöne aus Fleisch und Blut zum Liebesspiel. Und in Gesang XVII kommt Sigmund Freud mit aufs Boot und geht weinselig im Traum mit dem Sänger unter. Ja, die Psychoanalyse ist so alt wie die Entdeckung der Tiefsee, eine Koinzidenz, aus der Gert Heidenreich ein heiteres Kabinettstück macht.
In diesen Gesängen hat vieles Platz, sie bergen das Strandgut eines langen Lebens. Momente von Kindheit blitzen auf ("Wir Mitgeborenen des Kriegs / haben in Trümmern den Tod verspielt, / wo Ziegelstaub uns Patronen, / messingschimmernde, preisgab, / die wir in Hosentaschen heimtrugen") ebenso wie Augenblicke gegenwärtiger Wut über den "schamlosen Weißhauslump" an der "anderen Küste des Ozeans". Der lange Gesang XXIV widmet sich, in Referenz auf Jonas im Bauch des Wals, dem Wahnsinn von Giftmüll und Plastik, die aus dem Meer eine Mülldeponie machen. Und kathartisch erscheint eine überstandene Unwetternacht "Mein Glück war jener atlantische Sturm / an der Côte d'Albâtre".
Immer wieder gibt es, ohne Didaktik, ohne symbolische Aufladung, so in Gesang IX, der einen Tageslauf am Meer umgreift, frische Naturbilder, etwa wenn Heidenreich die Gipfelzüge der Wellenberge aufruft: "nur auf den Kämmen, die jetzt Schäume tragen, / liegt noch helles Grün: wie Erbsen grün sind, / wenn sie aus den Schoten platzen", aber wenige Zeile später kippt die Szene in Kitsch, wo "der letzte, selbstverlorene Held / im Sonnenuntergang verbrennt".
Und wo sich einer vielleicht am rilkisierend Gefühligen stört oder an den Echos des Lyrik-Nachtstudios der Fünfziger oder an den vielen, oft kaum eingebundenen Bildungs-Einsprengseln aus Literatur und Malerei, findet ein anderer das schön und klug. Fraglos ist, dass sich Gert Heidenreich als ein Meister der rhythmischen Form erweist. Die Tonlagen wechseln, sind heftiger oder zart, komisch oder melancholisch, behauptend oder verführend. Der Sound wechselt ständig, aber er stimmt. Hier klappert nichts, nichts ist unbeholfen. Vielleicht sollten wir diese Atlantischen Gesänge in der Stimme und mit dem Atem des Autors hören und uns, wie von Wind und Meereswellen, im Singen mitnehmen lassen. Das Licht "tauschte am Horizont Himmel und Meer. / Und ich begriff: Es ist weder Teilchen noch Welle. / Es ist seit Anfang ein Klang." ANGELIKA OVERATH
Gert Heidenreich: "Das Meer - Atlantischer Gesang". Gedichte.
Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2023. 122 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schnabelhai schnappt sich den Hasenwurm: Gert Heidenreichs vielgestaltiger und polyrhythmischer "Atlantischer Gesang"
Gert Heidenreich, Jahrgang 1944, war ein gefragter (Reise-)Journalist und beliebter Radiosprecher; man kennt seine Stimme aus Hörspielen und gut sechzig Hörbüchern. Und seinen Ton und seine Themen aus vielen Romanen. Geprägt durch die Lebenskultur der Achtundsechziger wie durch die folgenden ökologischen Bewegungen, schreibt er als ein Autor der Aufklärung, die gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch unhintergehbar schien.
"Das Meer - Atlantischer Gesang" ist das Alterswerk eines Mannes, der zu einer Generation gehört, die sich vielleicht als erste dem Altern verweigerte. Diese Kohorte brachte keine Greise hervor. Sondern eher den Typ des "uralten Jünglings", wie sich das lyrische Ich einmal nicht nur selbstironisch bezeichnet: dynamisch, liebesgewillt dem absehbaren Lebenshorizont zu. Manche dieser jungen Alten mögen sich heute, angesichts der Feuerwerke von MeToo- Aktivistinnen, die Augen reiben. Die wiederum könnten den Kopf schütteln über Heidenreichs erotische Anverwandlungen der See.
Geboren im brandenburgischen Eberswalde, lebt Heidenreich am Ostufer des bayrischen Pilsensees und seit 1976 auch jeweils mehrere Monate im Jahr an der Alabasterküste der Normandie zwischen Étretat und Dieppe. Diese legendäre Passage mit ihren bis zu hundert Meter hohen hellen Kalkfelsen, Gesteinsnasen und Höhlungen, die jeden Moment anders leuchten können, vielbesungen und immer wieder gemalt, spielt in Heidenreichs Romanen eine Rolle und wird nun zum poetischen Zentrum eines furiosen Daseinsrauschs und Lebensrückblicks. Ausgehend von Alltagsnotaten, zeigen sich das atlantische Meer und die normannische Küste impressionsstark und symbolbereit.
Die Natur ist da in der Spanne von Verheißung und Schrecken, aber im lustvollen Singen des Autors erscheint sie auch als Maskenball, als ein salznasses barockes Welttheater. Gleich im ersten der 28 (mal kürzeren oder längeren) Gesänge spricht ein Ich, "als Verseschmied verkleidet", das Meer mit "Madame" an. "Madame" wird "Dame in schwappender Robe, / die mit Spitzenbesatz nach mir leckt"; dann wieder ist sie die "alte Atlantika", die ihm "die schwere Hüfte ans Knie" drängt und so "Verneigung" gebietet. Oder, im lautmalerischen Sprachsprudelbad, "Meeresmadame", deren "klapperndes Schmatzen" erklingt, "als schlappte ihre weiße Prothese, wenn sie knabbert am Land". Der Radiomann Gert Heidenreich kommt vom Sound und orchestriert vielstimmige Gesänge, er lässt uns hören die "trostlosen Oden der Gurken am Grund, / die Choräle aller Korallen, / der Sandwürmer längliche Aphorismen". Und kokett fragt er seine Frau Meer: "Mit wem haben Sie sich hinterm Horizont gewälzt, / dass Sie so zerwühlt auf den Strand gerollt kommen?" Und wieder ganz anders im kurzen zweiten Gesang: "Mädchenhaft rennst du im Morgen an Land, / vor mir springt dein Schaum auf, als wär ich dir neu." Das Meer ist weiblich, ist "bleisilbern und faul", ist "dösendes Weib auf dem Rücken", ist vielgestaltiges Gegenüber und Seelenspiegel des Ich, dem es oder besser in dem es sich selbst (seinem "Innenmeer") in wechselvollen Wassermomenten begegnet.
Der Blick kann auch von der See auf die Klippen treffen. Auf die kalkigen Bibliotheken der Vorzeit, in die sich die Meerestiere vor Millionen von Jahren eingeschrieben haben, damals, als das, was nun als Land aufragt, unter Wasser war. "Beharrlich das Schweigen der Ammoniten / tief in der Steilwand: Sterbend vertrauten sie ihre / schöngeschwungenen Hörnergehäuse dem Riff an, / als sie den unwiderruflichen Untergang spürten."
Und wie bei allen Meerstücken ziehen die Wolken vorbei, die Wolken, die das schauende Ich "als ihre willige Feder" wiegen, sie sind das "Bettzeug" des Himmels. Aber auch wolkig verzogen kommen sie vorbei als "phantasmagorische Tiere (. . .) / der Schnabelhai schnappt sich den Hasenwurm"; und das Ich "verblickt" sich im "windgewischten Zoo". Auch Menschen gibt es. Neben Frau Meer lockt die vertraute Schöne aus Fleisch und Blut zum Liebesspiel. Und in Gesang XVII kommt Sigmund Freud mit aufs Boot und geht weinselig im Traum mit dem Sänger unter. Ja, die Psychoanalyse ist so alt wie die Entdeckung der Tiefsee, eine Koinzidenz, aus der Gert Heidenreich ein heiteres Kabinettstück macht.
In diesen Gesängen hat vieles Platz, sie bergen das Strandgut eines langen Lebens. Momente von Kindheit blitzen auf ("Wir Mitgeborenen des Kriegs / haben in Trümmern den Tod verspielt, / wo Ziegelstaub uns Patronen, / messingschimmernde, preisgab, / die wir in Hosentaschen heimtrugen") ebenso wie Augenblicke gegenwärtiger Wut über den "schamlosen Weißhauslump" an der "anderen Küste des Ozeans". Der lange Gesang XXIV widmet sich, in Referenz auf Jonas im Bauch des Wals, dem Wahnsinn von Giftmüll und Plastik, die aus dem Meer eine Mülldeponie machen. Und kathartisch erscheint eine überstandene Unwetternacht "Mein Glück war jener atlantische Sturm / an der Côte d'Albâtre".
Immer wieder gibt es, ohne Didaktik, ohne symbolische Aufladung, so in Gesang IX, der einen Tageslauf am Meer umgreift, frische Naturbilder, etwa wenn Heidenreich die Gipfelzüge der Wellenberge aufruft: "nur auf den Kämmen, die jetzt Schäume tragen, / liegt noch helles Grün: wie Erbsen grün sind, / wenn sie aus den Schoten platzen", aber wenige Zeile später kippt die Szene in Kitsch, wo "der letzte, selbstverlorene Held / im Sonnenuntergang verbrennt".
Und wo sich einer vielleicht am rilkisierend Gefühligen stört oder an den Echos des Lyrik-Nachtstudios der Fünfziger oder an den vielen, oft kaum eingebundenen Bildungs-Einsprengseln aus Literatur und Malerei, findet ein anderer das schön und klug. Fraglos ist, dass sich Gert Heidenreich als ein Meister der rhythmischen Form erweist. Die Tonlagen wechseln, sind heftiger oder zart, komisch oder melancholisch, behauptend oder verführend. Der Sound wechselt ständig, aber er stimmt. Hier klappert nichts, nichts ist unbeholfen. Vielleicht sollten wir diese Atlantischen Gesänge in der Stimme und mit dem Atem des Autors hören und uns, wie von Wind und Meereswellen, im Singen mitnehmen lassen. Das Licht "tauschte am Horizont Himmel und Meer. / Und ich begriff: Es ist weder Teilchen noch Welle. / Es ist seit Anfang ein Klang." ANGELIKA OVERATH
Gert Heidenreich: "Das Meer - Atlantischer Gesang". Gedichte.
Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2023. 122 S., geb., 18,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Meister der rhythmischen Form" erweist sich Gert Heidenreich in seinem neuen Lyrik-Band, findet Rezensentin Angelika Overath. Ausdrucksstark verarbeitet der Autor lyrisch den Atlantik und die Küste der Normandie, wo er selbst lebte. Dass das Meer bei Heidenreich weiblich und erotisch konnotiert ist, könnte heutige "MeToo-Aktivistinnen" verprellen, auch das "rilkisierende Gefühlige" ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber die Rezensentin liest hier einfach kluge und schöne Lyrik. Heidenreich dichtet in unterschiedlichen Tonlagen, mal humorvoll, mal melancholisch, souverän ist er dabei immer, bewundert die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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