Der Vater, Jahrgang 1893, kleiner Angestellter bei einer großen Wirtschaftsprüfungsfirma, dokumentiert zwischen 1951 und 1973 sein Arbeitsleben in einer Serie von Notizkalendern. Zunächst bleibt rätselhaft, wozu er sie braucht: Um seinen Vorgesetzten jederzeit Auskunft über seine Arbeitsorte und -zeiten geben zu können? Um seine Einnahmen und Ausgaben unter Kontrolle zu halten? Oder gar, um sich des Aufschwungs zu vergewissern, den die junge Bundesrepublik unverkennbar nimmt? Und dann wirken sich die Merkbücher des Vaters auch noch als Vorbilder in seiner Familie aus. Mutter und Sohn beginnen ebenfalls, in Notizkalendern ihren Alltag aufzuschreiben, sogar ausführlicher als der Vater. Das Büchlein funktioniert als eine Art Tagebuch vor dem Tagebuch, als Literatur vor der Literatur. Michael Rutschky rekonstruiert anhand der Notizen einer Familie deren Leben in der frühen Bundesrepublik. Doch er liefert mehr: Die Notizen über Zugabfahrtszeiten, Wocheneinkäufe und Klassenarbeiten ergeben nach und nach nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern, im Zusammenhang betrachtet, eine eindrucksvolle und anrührende Frühgeschichte der Bundesrepublik.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein bisschen merkwürdig ist das schon, in der Beziehung zum Vater den Saldo aufzurechnen, wie Hannes Hintermeier das macht, zumal es um Michael Rutschkys Vater geht. Dessen Merkbücher, Buchprüfer-Notizen aus der Wirtschaftswunderzeit, nichts von Belang eigentlich, nobilitiert der Sohn hier zum Anstoß für das eigene literarische Schaffen, wie Hintermeier feststellt, und zur kleinen Weltgeschichte. Von daher grüßt nicht nur der Vater aufgrund von dürrer Datenbasis (Spesenrechnung, Abfahrtszeiten etc.) aus den 50ern herüber, sondern auch Kuba-Krise, Nixon, ApO. Dazwischen wird für Hintermeier etwas zu viel montiert und spekuliert vom Autor - über amouröse Verhältnisse des Vaters und anderes Romanhafte mehr.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2012Das verschwiegene Jahr
Der Autor Michael Rutschky hat das Notizbuch seines Vaters gefunden. Es ist ein sprödes Dokument über
den Alltag eines Buchprüfers – aber wenn der Sohn es liest, wird daraus ein ungeschriebener Roman
VON WILLI WINKLER
Der letzte Romancier von Bedeutung war Sigmund Freud, und auch er verzweifelte bereits an der Form, wenn er den Familienroman seiner Patienten erzählen sollte. „Was für Pfuschereien sind unsere Reproduktionen“, schreibt er 1909, während der Arbeit an der Krankengeschichte des „Rattenmannes“, an C. G. Jung, „wie jämmerlich zerpflücken wir diese großen Kunstwerke der psychischen Natur!“ Der Roman ist seither alles und nichts geworden, ein Nikolaussack voller Überraschungen im günstigen Fall, manchmal doch bloß eine schlecht geschriebene Geschichte, die alles andere als unerhört, sondern schon viel zu oft erzählt ist.
Im Geheimfach des Sekretärs findet der Sohn eine Reihe von Taschenkalendern, die sein Vater über die Jahre geführt hat. Wo sonst zerfallende Rosenblätter über blass-blau umbänderte Liebesbriefe rieseln, steckt, in Kunstleder eingebunden, ein mustergültig geführtes, also ein vollkommen unpoetisches Arbeitsleben. In dürftigsten Worten hat der Vater seine wenigen Termine verzeichnet, die Abfahrtszeiten der Züge notiert, Krankheiten und Urlaubstage festgehalten. Eine Kalenderwoche beansprucht zwei gegenüberliegende Seiten mit jeweils vier und drei Tagen. Wenn noch Platz ist, werden Auslagen abgerechnet, die Spesen für Bahn, Logis, Essen, Reinigung.
Das ist nichts weniger als ein Roman und doch ein ganzes Leben, verbracht in Arbeit und bürokratischer Mühsal. Buchprüfer ist der Vater und kontrolliert im Auftrag seiner Firma andere Firmen. Die „Tätigkeits- und Geschäftsberichte“ beginnen 1951. Die Karriere stockt, der spät gezeugte Sohn wird acht und kein Ersatz für den ausbleibenden beruflichen Erfolg. Aber so deutet es der Sohn; der Vater bleibt stumm. Der Kalender gibt kein Gefühl, keine Reflexion preis, er bietet aber Raum für Notizen, Träume, längere Gedankenspiele.
Ein längeres Gedankenspiel gilt der Liebe. Der Teil der „Familiengeschichte, die sich von selbst versteht“, bleibt in diesen Merkbüchern unerwähnt. Aber steckt im Verschwiegenen nicht noch ein besonderes Geheimnis? Für 1953 fehlt die Vorlage, der Kalender ist verloren oder vernichtet. Stellvertretend für den Vater träumt der Sohn einen Roman, den Ausbruch aus der Familie.
Dafür rekonstruiert er das Jahr, in dem Stalin starb und die Bauarbeiter in der Stalinallee sich erhoben. Die Verzweiflung des nicht gelebten Lebens („Das alte Thomas-Mann-Motiv!“ würde Rutschky jetzt unter Berufung auf seine Thomas Mann lesende Mutter sagen) lichtet sich für einen Moment, ohne dass es sich grundlegend änderte. Neue Namen tauchen auf, Ruth, Amelie, Toni, doch die vermeintlichen Frauengeschichten sind keine und waren niemals welche. Der Plan, die Familie (die Frau, den Sohn, die Schwiegermutter, bald das Haus) zu verlassen, wird, wenn er denn je bestand, nie verwirklicht. Liebesgeschichten gehören in die Literatur, ins Reich der Frauen, und Literatur kommt im Merkbuch nur vor, wenn der Vater seiner Frau ein Buch zum Geschenk macht.
Das Feld des Mannes ist die objektive Welt. Beständig strebt er hinaus ins feindliche Leben. Der Prüferalltag ist die Zuflucht vor der keifenden Schwiegermutter, auch vor der Belastung der Familie, der er seine Tätigkeit doch nicht erklären kann. Der Sohn, „begierig auf Einzelheiten über Vaters Arbeit dort draußen“, unterstellt ihm den Wunsch, die Bücher nicht nur zu prüfen, sondern selber welche zu schreiben. Es ist aber nur eine Phantasie, die sich Jahrzehnte später der Sohn erfüllen wird.
Über dem Vater schlagen die Anforderungen der Gewöhnlichkeit zusammen; der Broterwerb, das täglich-graue Geschäft mit den Zahlen, abrechnen, verzeichnen. Die Fünfzigerjahre drücken durch die Seiten, aber ohne Brentano-Fliege, auch ohne Nitribitt-Verruchtheit. Ein Telefon wird an-, dann doch wieder abgemeldet. Ein Bausparvertrag abgeschlossen, ein neues Haus bezogen. Das Telefon kommt wieder. Rutschky holt viel unbehandeltes, eben prosaisches Material aus dieser Nach-kriegszeit. Ausflüge erscheinen als Zeichen kleinen Wohlstands; der Sohn flieht in atomgetriebenen Luftschiffen aus der hessischen Kleinstadt. Die Eintragungen des Vaters werden ihm zur Konkreten Poesie, er heftet den Blick auf das Grauen im Alltäglichen wie der Sammler Walter Kem-powski und montiert die Bilder nach der Art von Alexander Kluge.
Ungewöhnlich ist dies Leben nur insofern, als der Vater ein finsterer Adenauer-Gegner ist und ihm verübelt, dass er das Deutschland jenseits der Zonengrenze ver-raten habe, später mit der Mutter zusam-men die atomare Aufrüstung fürchtet und naturgemäß für Willy Brandt schwärmt, den „deutschen Kennedy“.
Die Zukunft kommt nach Deutschland, aus dem die Vergangenheit nicht weichen will. „Spinnfaser, Kassel“ verzeichnet das Merkbuch als Auftrag. Das ist ein großer Betrieb, der bald wieder zweitausenddrei-hundert Kräfte beschäftigt, aber die ganze Gegend mit Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff verpestet.
„Es drängt sich die Erinnerung auf, dass Schwefel der Gestank der Hölle ist. Es drängt sich als Allegorese auf“ – eine hermeneutische Kunst, in der sich Rutschky seit dem „Erfahrungshunger“ (1980) beschlagen zeigt wie kein Zweiter – „1951 sind wir der Hölle erst sechs Jahre entronnen, aber ihr Gestank dringt weiterhin durch, kräftig, süß, ekelhaft.“ Ein Geschäft, eines von vielen, und der Vater wirkt beiläufig an der Transformation von Geschichte mit. Der Sohn folgt ihm, wenn er den Surplus-Handel mit Armeebeständen zur soziologischen Metapher für die dialektisch verlaufende Nachkriegsgeschichte erhebt: Was von der Armee zurückbleibt, wird verramscht, die Friedensdividende geht an die Generation, die zum politischen Bewusstsein erst in den billigen Klamotten der amerikanischen Soldaten findet, gegen deren Einsatz in Vietnam sie protestiert.
Die Mutter weiß nichts davon oder nur das, was der Vater ihr schreibt. Sie liest, was der Sohn als eine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg erkennt und ihr dabei folgt. Mit Hilfe von Zeit- und Lesezeugen – Thomas Mann, John Updike, Ernst Jünger, Martin Heidegger, Jürgen Habermas – wird die eigene Geschichte rekonstruiert; das „Merkbuch“ ist auch ein verdeckter Entwicklungsroman des Autors, der 1943 in Berlin geboren wurde, in Hessen aufwuchs und als Student in die Frankfurter Schule ging.
Doch obwohl alle Ingredienzien des Romans da sind – ein Manuskriptfund, eine Liebesgeschichte, Geldnot, ein bisschen Zeitkolorit, Aufstieg, Verwirrungen, Tod –, will und soll dieses Stendhal’sche Programm doch nicht zu dem Lebensroman zusammenschießen, auf den der Leser seit (sagen wir) Wilhelm Meisters Affäre mit Philine ein Anrecht zu haben glaubt. Rutschky erspart sich und den Lesern die Banalität des Ausschreibens und liefert doch ein gewaltiges zeithistorisches Epos.
Die Angst, die mit dem bescheidenen Wohlstand einherging, dass es jederzeit aus sein könnte, erfüllt sich in der „Manager-Krankheit“. Das Herz kommt nicht mehr mit; der Vater hat wie die ganze Bun-desrepublik zugenommen. Ein tödlicher Satz: „Das Unglück west im Hintergrund und kann jederzeit krass hervorbrechen.“ Das Unglück ist ein weiteres, die Demenz des Vaters, die an einem Tag begann, als er, als Pensionär nur noch auftragsweise be-schäftigt, nicht mehr zwei und zwei zu-sammenzählen kann. Wie soll er da weiter seiner Arbeit nachgehen können?
Davon berichtet jetzt die Mutter, die aber im Buch des Vaters weiterschreibt: von seinem befremdlichen Verhalten, seinem Niedergang. Der Sohn macht ihn, nachgetragene Liebe vielleicht, zu einem „Mann der See“, einem verhinderten Kapitän, der aber nur auf der Havel kreuzte und sich in seinen letzten Jahren darauf beschränkte, Ferien auf Helgoland zu machen, allein, allein mit sich und dem Meer.
Das Ende ist wieder romanhaft und nicht unerwartet. Mit Fieber beginnt die Agonie, gefolgt von tiefer Bewusstlosigkeit. Die Mutter schreibt den Roman zu Ende, stenografisch wie ihr Mann: „4.55 Uhr tot. Heimfahrt und Überführung. Friedhofskapelle. Anzeigen bestellt, geschrieben und zur Post gebracht. Eingekauft. Telefonat Michael, Frau Mänz.“
Sachlich und für jeden Prüfer nachvollziehbar, wird das Merkbuch von der Witwe zum Abschluss geführt. Mit dem Unterschied natürlich, dass ihrem Mann niemals die epische Aufschäumung durch ein „und“ in den Sinn gekommen wäre.
Der Kalender gibt kein Gefühl
preis, bietet aber Raum für
Notizen, Träume, Gedankenspiele
„Der Gestank der Hölle
dringt weiterhin durch,
kräftig, süß, ekelhaft“
Das eigene Auto erlaubt kleine Fluchten aus dem Muff der Fünfzigerjahre. Aber im geteilten Deutschland kann man schon mal die Orientierung verlieren, wie dieser Mann auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1956 am Rande der nach Osten führenden Abzweigung der Kasseler Autobahn.
FOTO: AP
Michael Rutschky:
Das Merkbuch.
Eine Vatergeschichte.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2012. 276 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Autor Michael Rutschky hat das Notizbuch seines Vaters gefunden. Es ist ein sprödes Dokument über
den Alltag eines Buchprüfers – aber wenn der Sohn es liest, wird daraus ein ungeschriebener Roman
VON WILLI WINKLER
Der letzte Romancier von Bedeutung war Sigmund Freud, und auch er verzweifelte bereits an der Form, wenn er den Familienroman seiner Patienten erzählen sollte. „Was für Pfuschereien sind unsere Reproduktionen“, schreibt er 1909, während der Arbeit an der Krankengeschichte des „Rattenmannes“, an C. G. Jung, „wie jämmerlich zerpflücken wir diese großen Kunstwerke der psychischen Natur!“ Der Roman ist seither alles und nichts geworden, ein Nikolaussack voller Überraschungen im günstigen Fall, manchmal doch bloß eine schlecht geschriebene Geschichte, die alles andere als unerhört, sondern schon viel zu oft erzählt ist.
Im Geheimfach des Sekretärs findet der Sohn eine Reihe von Taschenkalendern, die sein Vater über die Jahre geführt hat. Wo sonst zerfallende Rosenblätter über blass-blau umbänderte Liebesbriefe rieseln, steckt, in Kunstleder eingebunden, ein mustergültig geführtes, also ein vollkommen unpoetisches Arbeitsleben. In dürftigsten Worten hat der Vater seine wenigen Termine verzeichnet, die Abfahrtszeiten der Züge notiert, Krankheiten und Urlaubstage festgehalten. Eine Kalenderwoche beansprucht zwei gegenüberliegende Seiten mit jeweils vier und drei Tagen. Wenn noch Platz ist, werden Auslagen abgerechnet, die Spesen für Bahn, Logis, Essen, Reinigung.
Das ist nichts weniger als ein Roman und doch ein ganzes Leben, verbracht in Arbeit und bürokratischer Mühsal. Buchprüfer ist der Vater und kontrolliert im Auftrag seiner Firma andere Firmen. Die „Tätigkeits- und Geschäftsberichte“ beginnen 1951. Die Karriere stockt, der spät gezeugte Sohn wird acht und kein Ersatz für den ausbleibenden beruflichen Erfolg. Aber so deutet es der Sohn; der Vater bleibt stumm. Der Kalender gibt kein Gefühl, keine Reflexion preis, er bietet aber Raum für Notizen, Träume, längere Gedankenspiele.
Ein längeres Gedankenspiel gilt der Liebe. Der Teil der „Familiengeschichte, die sich von selbst versteht“, bleibt in diesen Merkbüchern unerwähnt. Aber steckt im Verschwiegenen nicht noch ein besonderes Geheimnis? Für 1953 fehlt die Vorlage, der Kalender ist verloren oder vernichtet. Stellvertretend für den Vater träumt der Sohn einen Roman, den Ausbruch aus der Familie.
Dafür rekonstruiert er das Jahr, in dem Stalin starb und die Bauarbeiter in der Stalinallee sich erhoben. Die Verzweiflung des nicht gelebten Lebens („Das alte Thomas-Mann-Motiv!“ würde Rutschky jetzt unter Berufung auf seine Thomas Mann lesende Mutter sagen) lichtet sich für einen Moment, ohne dass es sich grundlegend änderte. Neue Namen tauchen auf, Ruth, Amelie, Toni, doch die vermeintlichen Frauengeschichten sind keine und waren niemals welche. Der Plan, die Familie (die Frau, den Sohn, die Schwiegermutter, bald das Haus) zu verlassen, wird, wenn er denn je bestand, nie verwirklicht. Liebesgeschichten gehören in die Literatur, ins Reich der Frauen, und Literatur kommt im Merkbuch nur vor, wenn der Vater seiner Frau ein Buch zum Geschenk macht.
Das Feld des Mannes ist die objektive Welt. Beständig strebt er hinaus ins feindliche Leben. Der Prüferalltag ist die Zuflucht vor der keifenden Schwiegermutter, auch vor der Belastung der Familie, der er seine Tätigkeit doch nicht erklären kann. Der Sohn, „begierig auf Einzelheiten über Vaters Arbeit dort draußen“, unterstellt ihm den Wunsch, die Bücher nicht nur zu prüfen, sondern selber welche zu schreiben. Es ist aber nur eine Phantasie, die sich Jahrzehnte später der Sohn erfüllen wird.
Über dem Vater schlagen die Anforderungen der Gewöhnlichkeit zusammen; der Broterwerb, das täglich-graue Geschäft mit den Zahlen, abrechnen, verzeichnen. Die Fünfzigerjahre drücken durch die Seiten, aber ohne Brentano-Fliege, auch ohne Nitribitt-Verruchtheit. Ein Telefon wird an-, dann doch wieder abgemeldet. Ein Bausparvertrag abgeschlossen, ein neues Haus bezogen. Das Telefon kommt wieder. Rutschky holt viel unbehandeltes, eben prosaisches Material aus dieser Nach-kriegszeit. Ausflüge erscheinen als Zeichen kleinen Wohlstands; der Sohn flieht in atomgetriebenen Luftschiffen aus der hessischen Kleinstadt. Die Eintragungen des Vaters werden ihm zur Konkreten Poesie, er heftet den Blick auf das Grauen im Alltäglichen wie der Sammler Walter Kem-powski und montiert die Bilder nach der Art von Alexander Kluge.
Ungewöhnlich ist dies Leben nur insofern, als der Vater ein finsterer Adenauer-Gegner ist und ihm verübelt, dass er das Deutschland jenseits der Zonengrenze ver-raten habe, später mit der Mutter zusam-men die atomare Aufrüstung fürchtet und naturgemäß für Willy Brandt schwärmt, den „deutschen Kennedy“.
Die Zukunft kommt nach Deutschland, aus dem die Vergangenheit nicht weichen will. „Spinnfaser, Kassel“ verzeichnet das Merkbuch als Auftrag. Das ist ein großer Betrieb, der bald wieder zweitausenddrei-hundert Kräfte beschäftigt, aber die ganze Gegend mit Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff verpestet.
„Es drängt sich die Erinnerung auf, dass Schwefel der Gestank der Hölle ist. Es drängt sich als Allegorese auf“ – eine hermeneutische Kunst, in der sich Rutschky seit dem „Erfahrungshunger“ (1980) beschlagen zeigt wie kein Zweiter – „1951 sind wir der Hölle erst sechs Jahre entronnen, aber ihr Gestank dringt weiterhin durch, kräftig, süß, ekelhaft.“ Ein Geschäft, eines von vielen, und der Vater wirkt beiläufig an der Transformation von Geschichte mit. Der Sohn folgt ihm, wenn er den Surplus-Handel mit Armeebeständen zur soziologischen Metapher für die dialektisch verlaufende Nachkriegsgeschichte erhebt: Was von der Armee zurückbleibt, wird verramscht, die Friedensdividende geht an die Generation, die zum politischen Bewusstsein erst in den billigen Klamotten der amerikanischen Soldaten findet, gegen deren Einsatz in Vietnam sie protestiert.
Die Mutter weiß nichts davon oder nur das, was der Vater ihr schreibt. Sie liest, was der Sohn als eine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg erkennt und ihr dabei folgt. Mit Hilfe von Zeit- und Lesezeugen – Thomas Mann, John Updike, Ernst Jünger, Martin Heidegger, Jürgen Habermas – wird die eigene Geschichte rekonstruiert; das „Merkbuch“ ist auch ein verdeckter Entwicklungsroman des Autors, der 1943 in Berlin geboren wurde, in Hessen aufwuchs und als Student in die Frankfurter Schule ging.
Doch obwohl alle Ingredienzien des Romans da sind – ein Manuskriptfund, eine Liebesgeschichte, Geldnot, ein bisschen Zeitkolorit, Aufstieg, Verwirrungen, Tod –, will und soll dieses Stendhal’sche Programm doch nicht zu dem Lebensroman zusammenschießen, auf den der Leser seit (sagen wir) Wilhelm Meisters Affäre mit Philine ein Anrecht zu haben glaubt. Rutschky erspart sich und den Lesern die Banalität des Ausschreibens und liefert doch ein gewaltiges zeithistorisches Epos.
Die Angst, die mit dem bescheidenen Wohlstand einherging, dass es jederzeit aus sein könnte, erfüllt sich in der „Manager-Krankheit“. Das Herz kommt nicht mehr mit; der Vater hat wie die ganze Bun-desrepublik zugenommen. Ein tödlicher Satz: „Das Unglück west im Hintergrund und kann jederzeit krass hervorbrechen.“ Das Unglück ist ein weiteres, die Demenz des Vaters, die an einem Tag begann, als er, als Pensionär nur noch auftragsweise be-schäftigt, nicht mehr zwei und zwei zu-sammenzählen kann. Wie soll er da weiter seiner Arbeit nachgehen können?
Davon berichtet jetzt die Mutter, die aber im Buch des Vaters weiterschreibt: von seinem befremdlichen Verhalten, seinem Niedergang. Der Sohn macht ihn, nachgetragene Liebe vielleicht, zu einem „Mann der See“, einem verhinderten Kapitän, der aber nur auf der Havel kreuzte und sich in seinen letzten Jahren darauf beschränkte, Ferien auf Helgoland zu machen, allein, allein mit sich und dem Meer.
Das Ende ist wieder romanhaft und nicht unerwartet. Mit Fieber beginnt die Agonie, gefolgt von tiefer Bewusstlosigkeit. Die Mutter schreibt den Roman zu Ende, stenografisch wie ihr Mann: „4.55 Uhr tot. Heimfahrt und Überführung. Friedhofskapelle. Anzeigen bestellt, geschrieben und zur Post gebracht. Eingekauft. Telefonat Michael, Frau Mänz.“
Sachlich und für jeden Prüfer nachvollziehbar, wird das Merkbuch von der Witwe zum Abschluss geführt. Mit dem Unterschied natürlich, dass ihrem Mann niemals die epische Aufschäumung durch ein „und“ in den Sinn gekommen wäre.
Der Kalender gibt kein Gefühl
preis, bietet aber Raum für
Notizen, Träume, Gedankenspiele
„Der Gestank der Hölle
dringt weiterhin durch,
kräftig, süß, ekelhaft“
Das eigene Auto erlaubt kleine Fluchten aus dem Muff der Fünfzigerjahre. Aber im geteilten Deutschland kann man schon mal die Orientierung verlieren, wie dieser Mann auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1956 am Rande der nach Osten führenden Abzweigung der Kasseler Autobahn.
FOTO: AP
Michael Rutschky:
Das Merkbuch.
Eine Vatergeschichte.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2012. 276 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2012Gott hat auch nur an sechs Tagen gearbeitet
Auferstanden aus Schwefeldämpfen: Michael Rutschky studiert die Notizbücher seiner Vaters und findet darin einen Arbeitsroman aus den Anfängen des deutschen Wirtschaftswunders.
Auch vermeintlich banale Existenzen bilden Ausgangspunkte für literarische oder soziologische Expeditionen. In "Das Buch der Unruhe" schreibt Fernando Pessoa: "Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem andern Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns."
Michael Rutschkys Vater war kein Hilfsbuchhalter, er war schon höher gestiegen, reiste als Externer durchs Land, um "die Bücher zu prüfen". Über seine Dienstfahrten führte er ein sehr knappes Protokoll in Notizbüchern, die er "Merkbücher" nannte. Motto: Strikte Sachlichkeit!
Zweiundzwanzig Kalender versteckte er im Geheimfach seines Biedermeier-Sekretärs. Sein Sohn hat eine Archäologie der Nachkriegszeit daraus gewonnen, die er als "eine Vatergeschichte" verstanden wissen will. Tatsächlich ist das Buch eher eine Vatersuche auf dürrer Datenbasis. Vorschüsse, Spesen, Mittagbrot, Abfahrtszeiten, Schulden, Blumen, Schokolade. Persönliches war, jenseits der Kleidergröße seiner Frau, in diesen Notizen nicht vorgesehen. Keine Erwähnung des einzigen Kindes, keine Notiz vom Tod der verhassten Schwiegermutter: "Das waren keine Daten, die der persönliche Geschäftsbericht anzuführen hätte." Man arbeitete sechs Tage: "Wie Gott!, hätte Vater gefeixt."
"Es drängt sich die Erinnerung auf, dass Schwefel der Gestank der Hölle ist." Die Firma Spinnfaser in Kassel-Bettenhausen konnte bei der geruchsintensiven Produktion von Zellwolle rasch wieder an das Vorkriegsniveau anschließen, obwohl man der Hölle erst sechs Jahre entronnen war. Rutschky senior, Jahrgang 1893, ist 1951 schon zu alt, um am Wirtschaftswunder zu partizipieren. Zwar heiratet er eine viel jüngere Frau, lässt diese aber allein in der nordhessischen Provinz sitzen, während er über Wochen, manchmal Monate, durch die junge Republik fährt und Firmen prüft, deren Namen heute verschwunden sind, die aber wichtige Rollen im Nachkriegsdeutschland spielten - und die teilweise in der Zeit der Hitlerdiktatur prächtig verdient hatten.
Etwa die Darmstädter Firma Röhm & Haas, die 1933 das Plexiglas erfand und ein wichtiger Lieferant der Luftwaffe wurde: Nach 1945 verdiente das Unternehmen prächtig an der Erschaffung der Plastikwelt, auch der Messerschmitt-Kabinenroller fuhr mit einem Dach von Röhm & Haas vor. Kühne + Nagel, Vereinigte Stahlwerk in Frankfurt am Main, ebenda Generatorkraft, Hommelwerke Mannheim, das waren andere Kunden von Franz Rutschky. Ebenso wie die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, in denen die Kunststofffasern Perlon, Nylon, Dralon und Diolen hergestellt wurden, mit denen sich die neue Zeit umgarnen lässt.
Derweil entdeckt der heranwachsende Sohn Fluchtwege in Science-Fiction-Welten ("Die Merkurianer haben angegriffen, nichts erreicht."). Und lebt doch mitten im Kalten Krieg: Churchill, de Gaulle, Kennedy, Chruschtschow, Nixon, Ungarn-Aufstand, Kuba-Krise, schließlich Vietnam und Studentenrevolte. Rutschky unterfüttert seinen Stoff mit Hilfe von weltgeschichtlichen Ereignissen und durch die Montage von Zitaten, darunter Thomas Mann, Heidegger, Camus, Benjamin, Schumpeter, Kracauer, Don De Lillo. Obendrein werden psychoanalytische Deutungen angeboten, wenn auch gelegentlich mit einem Augenzwinkern. Das erinnert an Walter Kempowskis Montageverfahren, dem hier aber vermutlich zu viel spekuliert worden wäre.
Denn Rutschky lässt seiner Vaterphantasie bald vierzig Jahre nach dessen Tod freien Lauf. So zeigt er den begeisterten Binnensegler als routinierten Frauenhelden, der in jedem Hafen, den er beruflich anläuft, eine andere Braut gehabt haben könnte - in jenem Jahr 1953 von dem es kein Merkbuch gibt. Das ist der angreifbarste Punkt dieser Recherche, der unbedingte Wille, "das Spiel", einen Roman herauslesen zu wollen. Das gelingt nicht ohne die Merkbücher seiner Mutter und nicht ohne seine eigenen. Die Mutter, gelernte Retuscheurin und eine Anhängerin Thomas Manns, investiert viel Geld in Bücher; und das in einem Haushalt, der auf jeden Pfennig achten muss, der sich nur mühsam aus Verhältnissen herausarbeitet, die jüngeren Lesern unvorstellbar erscheinen werden. Aber: Der Sohn besucht in Melsungen das Gymnasium, eine Aufsteigerbiographie wird angelegt. Austauschschüler in England, Busreisen der Mutter, mehrmaliger Wohnungswechsel in komfortablere Umstände.
Als das Kapital seine Kräfte wieder gebündelt, der Konsumismus seine Fühler nach der Kundschaft ausgestreckt hat, kommt der Vatergeschichte der Protagonist abhanden. Denn Rutschky senior gibt die Rolle des Merkbuch-Schreibers an Frau und Sohn ab, die sich ihm anverwandeln. Mit dem erzwungenen Ende der Berufslaufbahn - man trägt ihn fort, als er einen Kontrollverlust erleidet -, beginnt eine lange, traurige Phase des Verlusts für den Biographen, der immerhin die Merkbücher als den Auslöser seiner ersten poetische Ergüsse nobilitiert: Am Anfang aller Literatur steht die Aufzählung, die Liste.
Am 9. November 1973 stirbt Franz Rutschky in einem Pflegeheim, am deutschen Schicksalsdatum also. Dieser Umstand hebt ihn für den Sohn noch einmal heraus aus der unscheinbaren Angestelltenexistenz, die er geführt hat. Michael Rutschkys Saldo seinem Vater gegenüber spricht also nicht gegen ihn: Er hat ihn in der Rekonstruktion einer Epoche wiedergewonnen.
HANNES HINTERMEIER
Michael Rutschky: "Das Merkbuch". Eine
Vatergeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 274 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auferstanden aus Schwefeldämpfen: Michael Rutschky studiert die Notizbücher seiner Vaters und findet darin einen Arbeitsroman aus den Anfängen des deutschen Wirtschaftswunders.
Auch vermeintlich banale Existenzen bilden Ausgangspunkte für literarische oder soziologische Expeditionen. In "Das Buch der Unruhe" schreibt Fernando Pessoa: "Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem andern Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns."
Michael Rutschkys Vater war kein Hilfsbuchhalter, er war schon höher gestiegen, reiste als Externer durchs Land, um "die Bücher zu prüfen". Über seine Dienstfahrten führte er ein sehr knappes Protokoll in Notizbüchern, die er "Merkbücher" nannte. Motto: Strikte Sachlichkeit!
Zweiundzwanzig Kalender versteckte er im Geheimfach seines Biedermeier-Sekretärs. Sein Sohn hat eine Archäologie der Nachkriegszeit daraus gewonnen, die er als "eine Vatergeschichte" verstanden wissen will. Tatsächlich ist das Buch eher eine Vatersuche auf dürrer Datenbasis. Vorschüsse, Spesen, Mittagbrot, Abfahrtszeiten, Schulden, Blumen, Schokolade. Persönliches war, jenseits der Kleidergröße seiner Frau, in diesen Notizen nicht vorgesehen. Keine Erwähnung des einzigen Kindes, keine Notiz vom Tod der verhassten Schwiegermutter: "Das waren keine Daten, die der persönliche Geschäftsbericht anzuführen hätte." Man arbeitete sechs Tage: "Wie Gott!, hätte Vater gefeixt."
"Es drängt sich die Erinnerung auf, dass Schwefel der Gestank der Hölle ist." Die Firma Spinnfaser in Kassel-Bettenhausen konnte bei der geruchsintensiven Produktion von Zellwolle rasch wieder an das Vorkriegsniveau anschließen, obwohl man der Hölle erst sechs Jahre entronnen war. Rutschky senior, Jahrgang 1893, ist 1951 schon zu alt, um am Wirtschaftswunder zu partizipieren. Zwar heiratet er eine viel jüngere Frau, lässt diese aber allein in der nordhessischen Provinz sitzen, während er über Wochen, manchmal Monate, durch die junge Republik fährt und Firmen prüft, deren Namen heute verschwunden sind, die aber wichtige Rollen im Nachkriegsdeutschland spielten - und die teilweise in der Zeit der Hitlerdiktatur prächtig verdient hatten.
Etwa die Darmstädter Firma Röhm & Haas, die 1933 das Plexiglas erfand und ein wichtiger Lieferant der Luftwaffe wurde: Nach 1945 verdiente das Unternehmen prächtig an der Erschaffung der Plastikwelt, auch der Messerschmitt-Kabinenroller fuhr mit einem Dach von Röhm & Haas vor. Kühne + Nagel, Vereinigte Stahlwerk in Frankfurt am Main, ebenda Generatorkraft, Hommelwerke Mannheim, das waren andere Kunden von Franz Rutschky. Ebenso wie die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, in denen die Kunststofffasern Perlon, Nylon, Dralon und Diolen hergestellt wurden, mit denen sich die neue Zeit umgarnen lässt.
Derweil entdeckt der heranwachsende Sohn Fluchtwege in Science-Fiction-Welten ("Die Merkurianer haben angegriffen, nichts erreicht."). Und lebt doch mitten im Kalten Krieg: Churchill, de Gaulle, Kennedy, Chruschtschow, Nixon, Ungarn-Aufstand, Kuba-Krise, schließlich Vietnam und Studentenrevolte. Rutschky unterfüttert seinen Stoff mit Hilfe von weltgeschichtlichen Ereignissen und durch die Montage von Zitaten, darunter Thomas Mann, Heidegger, Camus, Benjamin, Schumpeter, Kracauer, Don De Lillo. Obendrein werden psychoanalytische Deutungen angeboten, wenn auch gelegentlich mit einem Augenzwinkern. Das erinnert an Walter Kempowskis Montageverfahren, dem hier aber vermutlich zu viel spekuliert worden wäre.
Denn Rutschky lässt seiner Vaterphantasie bald vierzig Jahre nach dessen Tod freien Lauf. So zeigt er den begeisterten Binnensegler als routinierten Frauenhelden, der in jedem Hafen, den er beruflich anläuft, eine andere Braut gehabt haben könnte - in jenem Jahr 1953 von dem es kein Merkbuch gibt. Das ist der angreifbarste Punkt dieser Recherche, der unbedingte Wille, "das Spiel", einen Roman herauslesen zu wollen. Das gelingt nicht ohne die Merkbücher seiner Mutter und nicht ohne seine eigenen. Die Mutter, gelernte Retuscheurin und eine Anhängerin Thomas Manns, investiert viel Geld in Bücher; und das in einem Haushalt, der auf jeden Pfennig achten muss, der sich nur mühsam aus Verhältnissen herausarbeitet, die jüngeren Lesern unvorstellbar erscheinen werden. Aber: Der Sohn besucht in Melsungen das Gymnasium, eine Aufsteigerbiographie wird angelegt. Austauschschüler in England, Busreisen der Mutter, mehrmaliger Wohnungswechsel in komfortablere Umstände.
Als das Kapital seine Kräfte wieder gebündelt, der Konsumismus seine Fühler nach der Kundschaft ausgestreckt hat, kommt der Vatergeschichte der Protagonist abhanden. Denn Rutschky senior gibt die Rolle des Merkbuch-Schreibers an Frau und Sohn ab, die sich ihm anverwandeln. Mit dem erzwungenen Ende der Berufslaufbahn - man trägt ihn fort, als er einen Kontrollverlust erleidet -, beginnt eine lange, traurige Phase des Verlusts für den Biographen, der immerhin die Merkbücher als den Auslöser seiner ersten poetische Ergüsse nobilitiert: Am Anfang aller Literatur steht die Aufzählung, die Liste.
Am 9. November 1973 stirbt Franz Rutschky in einem Pflegeheim, am deutschen Schicksalsdatum also. Dieser Umstand hebt ihn für den Sohn noch einmal heraus aus der unscheinbaren Angestelltenexistenz, die er geführt hat. Michael Rutschkys Saldo seinem Vater gegenüber spricht also nicht gegen ihn: Er hat ihn in der Rekonstruktion einer Epoche wiedergewonnen.
HANNES HINTERMEIER
Michael Rutschky: "Das Merkbuch". Eine
Vatergeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 274 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main