Ob Bildung, Gesundheit oder Konsum: Über so ziemlich jeden Aspekt unserer Person und unseres Verhaltens werden inzwischen Daten gesammelt. Schritt für Schritt entsteht so eine Gesellschaft der Sternchen, Scores, Likes und Listen, in der alles und jeder ständig vermessen und bewertet wird. Das beginnt beim alljährlichen Hochschulranking, reicht über die Quantified-Self-Bewegung fitnessbegeisterter Großstädter, die über das Internet ihre Bestzeiten miteinander vergleichen, bis hin zur Beurteilung der Effizienz politischer Maßnahmen. Steffen Mau untersucht die Techniken dieser neuen Soziometrie und zeigt ihre Folgen auf. Die Bewertungssysteme der quantifizierten Gesellschaft, so sein zentraler Gedanke, bilden nicht einfach die Ungleichheiten in der Welt ab, sondern sind letztlich mitentscheidend bei der Verteilung von Lebenschancen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2017Ich bin, wie viele
Klicks ich habe
Der Soziologe Steffen Mau vermisst das digitale Wir
In Dave Eggers Roman „The Circle“ sieht sich die Protagonistin Mae gezwungen, freiwillig ihrer totalen digitalen Vermessung, Bewertung und Quantifizierung und schließlich Transparenz zuzustimmen. Wie viele dystopische Romane antizipiert dieser Elemente einer totalitären Zukunft in überzeichneter, aber eben nicht völlig unrealistischer Weise. Die imaginierte Basistechnologie im Roman ist das Unified Operating System, das alle Daten, Passwörter und Social-Media-Aktivitäten bündelt und schließlich zum Instrument der sozialen Kontrolle wird. So weit, so fiktional. Wenn da nicht die chinesische Regierung wäre, die sich anschickt, Eggers’ Fiktion zu verwirklichen. Chinas Machthaber wollen bis zum Jahr 2020 einen Social Score entwickeln, der Daten aus möglichst allen gesellschaftlichen Feldern bündelt: Kauf- und Surfverhalten, Verkehrsdelikte, juristische Streitigkeiten, Konflikte mit dem Arbeitgeber oder sogar Auffälligkeiten der Kinder. Der Social Score wiederum verschafft entsprechende Vorteile bei der Wohnungssuche, Kreditaufnahme oder beim Umgang mit Behörden, berichtet der Berliner Soziologie Steffen Mau in seinem jüngsten Buch „Das metrische Wir“. Darin beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten der sozialen Kontrolle im Zeitalter der Digitalisierung, aber soziologisch tiefergelegt, indem er die Mechanismen der zunehmenden Quantifizierung des Sozialen analysiert – und wie wir freiwillig und unfreiwillig dabei mitmachen.
Unsere Gesellschaft, so Maus These, werde zunehmend eine der Scores, Screenings, Rankings und Bewertungen. Die Quantifizierung des Sozialen führe in eine Gesellschaft, in welcher der Wettbewerb, der soziale Vergleich allgegenwärtig, ja geradezu universell werde. Sie bringe neue Formen von sozialer Unterscheidung und damit Ungleichheiten hervor.
Mau zeigt, dass die Logik der Quantifizierung fast alle gesellschaftlichen Felder erfasst hat: von öffentlichen Institutionen wie Krankenhäusern oder Universitäten, über Produktion, Handel und Konsum bis hin zur individuellen Lebensführung, zu Hobbys, Liebesleben, Geldverhältnissen oder sportlichen Aktivitäten, bis hin sogar zu den Emotionen. Überall entstehen kalkulative Vergleichspraktiken, die gesellschaftliche Teilbereiche zu einem Quasi-Markt werden lassen, in denen Werte nicht in Preisen, sondern in Wertungen ausgedrückt werden.
Es gibt kein Entkommen aus der Quantifizierung. Die meisten machen freiwillig mit, die anderen können sich kaum entziehen. Man würde sich aus den Kanälen der sozialen Kommunikation ausschließen. Schließlich verstrickt das Netz aus Rankings und Ratings uns alle derart, dass wir unsere Autonomie und Subjektivität in den metrischen Fremd- und Eigenerwartungen verlieren. Das Leben findet nur noch im Komparativ statt. Richard David Precht hatte in seinem Bestseller noch gefragt, „Wer bin ich, und wenn ja wie viele?“ Die Sinnsuche hat nach Mau ein Ende, denn der kompetitive Mensch kennt nur noch eine Wertigkeit, die zählt: Ich bin, wie viele Klicks und Sternchen ich habe.
Während die Befürworter der zahlengesteuerten Performancemessung deren Neutralität und Objektivität betonen, zeigt Mau, wie es sich bei der Quantifizierung im doppelten Sinne um ein Vermessen handelt. Es wird zwar gemessen, aber gleichzeitig immer ein wenig „falsch“ gezählt. Die Reduktion von komplexen Zusammenhängen in Indikatoren und Kennziffern lässt darin die Welt in eine Zahl schrumpfen, die ebenso viel offenlegt, wie sie unsichtbar werden lässt. Denn es kommt schließlich darauf an, welcher Faktor wie stark gewichtet wird und welche Faktoren man überhaupt berücksichtigt. Hinter dem Schleier der Neutralität stehen handfeste, häufig ökonomische Interessen. So schneiden etwa Staaten, die ihre Arbeitsmärkte liberalisieren, bei den internationalen Ratingagenturen besser ab.
Bei den populär gewordenen Rankings findet derweil eine Reputationszuweisung statt, die dem Prinzip folgt: Wer hat, dem wird gegeben. Was einmal in einem Ranking oben steht, das wird auch als Spitzenklasse wahrgenommen und zieht weitere Ressourcen an. Die amerikanischen Eliteuniversitäten ziehen deshalb immer weiter Spitzenleute an, sodass die Rankings im Grunde keine Bewegung erfahren. Wissenschaftler, die sich einmal einen guten Ruf erarbeitet haben, werden auch in der Zukunft häufiger zitiert.
Der Effekt wirkt gleichzeitig in die andere Richtung, und die Metrik kann bestehende Ungleichheiten und Diskriminierungen verstärken. So werden Afroamerikaner in algorithmisierten Bewertungssystemen häufig systematisch schlechter eingeordnet.
Metrische Performancemessungen können zudem falsche Anreize setzen. In wissenschaftlichen Evaluierungen, teilweise sogar in Berufungskommissionen, verlässt man sich zunehmend auf eine quantifizierte Größe, den sogenannten Impact-Faktor. Dieser sagt etwas darüber aus, wie häufig man in den anerkannten Journalen publiziert hat und zitiert wurde. Es sagt aber wenig darüber aus, inwiefern die Forschung wirklich interessant oder relevant ist. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, dass Wissenschaftler, die eine systematisch andere Sichtweise vertreten, in den Rankings schlechter abschneiden, weil Gutachter dazu neigen, vor allem Beiträge, die ihrer eigenen Sichtweise entsprechen, positiv einzustufen – was umgekehrt dazu führt, dass die intellektuelle Kreativität in den Wissenschaften nachlässt, weil man die Forschung bereits auf eine positive Begutachtung ausrichtet.
Darüber hinaus verlieren Bücher, gerade auch in der Welt der Sozialwissenschaften, an Reputation, da sie für den Impact-Factor nur unter bestimmten Bedingungen eine Rolle spielen. Soziologen wie Mau, die in Fachzeitschriften hochformalisierte Aufsätze veröffentlichen und thesenstarke, an ein größeres Publikum gerichtete Bücher schreiben, sind deshalb immer seltener zu finden.
Manch einen Punkt in diesem Buch hätte man sich ausführlicher ausgeführt gewünscht und dafür auf die ein oder andere argumentative Redundanz gern verzichtet. Historische Entwicklungslinien werden zwar mit-, aber nicht ausgeführt. Mau nennt die doppelte Buchführung und die Erfindung der Statistik als bedeutende Schritte in der historischen Quantifizierung der Gesellschaft. Unerwähnt bleibt ausgerechnet die Entstehung der wissenschaftlichen Betriebsführung, der sogenannte Taylorismus, der doch die beiden Grundmomente der Quantifizierung idealtypisch enthält: Man zerlegt den Arbeitsprozess in seine Einzelteile und misst die Zeit.
Dennoch können sowohl die Fachkollegen als auch das interessierte Publikum dieses instruktive Buch über einen zentralen Wandlungsprozess der Gegenwart mit Gewinn lesen. Man ist nach der Lektüre nicht nur schlauer, sondern auch gewarnt. Aber auch die Warnung hätte systematischer ausfallen können. Die zunehmende Transparenz der Individuen und die gleichzeitig wachsende Intransparenz der Datenerfassung und Kontrollpraktiken ermöglichen neue Form der sozialen Herrschaft.
Zwar werden die Winkel der Quantifizierung mit soziologischer Präzision ausgeleuchtet, aber den gesellschaftstheoretischen Schlussfolgerungen fehlt die letzte Verkoppelung – so bleibt das metrische Wir am Ende doch ein wenig unbestimmt. Wo liegt in der Gegenwart der qualitative Unterschied zu den historischen Formen der Quantifizierung? Ist es einfach ein Immer-mehr, das schließlich universell wird?
Obwohl das Buch das „Wir“ im Titel führt, gibt es für Mau mit der Quantifizierung des Sozialen kein gemeinschaftliches Wir mehr, schließlich zerlege die Quantifizierung die Kollektive der Gesellschaft in ihre Einzelteile, in der sich jeder nur noch als kompetitives Differenzierungssubjekt zu den anderen begreift. Damit verschwinden die Möglichkeiten für ein solidarisches Wir, auch den Konflikt der Klassen erklärt Mau für endgültig obsolet. In diesem Punkt irrt Mau sich – hoffentlich. Er über- und unterschätzt zugleich die Rolle der Technologie. Zunächst führt die Technologie nicht zu einer Auflösung von ökonomisch geprägten Klassen. Die Selbstvermesser mit der Apple Watch fliegen eher Businessclass, der Fahrer bei Uber hingegen wird fremdvermessen. Und längst haben die Gewerkschaften angefangen, Vergleichsportale für Entgelte zu schaffen, und organisieren Arbeitnehmer in der Gig-Economy über soziale Medien. Eine Hegelsche Wendung, dass die Menschen gerade in der entfremdeten und zerlegten Vereinzelung das kapitalistische Ganze erkennen könnten, ist möglich.
OLIVER NACHTWEY
Man ist nach der Lektüre
nicht nur schlauer,
sondern auch gewarnt
Für Steffen Mau gibt es mit
der Quantifizierung des Sozialen
kein gemeinschaftliches Wir mehr
Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 308 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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Der Soziologe Steffen Mau vermisst das digitale Wir
In Dave Eggers Roman „The Circle“ sieht sich die Protagonistin Mae gezwungen, freiwillig ihrer totalen digitalen Vermessung, Bewertung und Quantifizierung und schließlich Transparenz zuzustimmen. Wie viele dystopische Romane antizipiert dieser Elemente einer totalitären Zukunft in überzeichneter, aber eben nicht völlig unrealistischer Weise. Die imaginierte Basistechnologie im Roman ist das Unified Operating System, das alle Daten, Passwörter und Social-Media-Aktivitäten bündelt und schließlich zum Instrument der sozialen Kontrolle wird. So weit, so fiktional. Wenn da nicht die chinesische Regierung wäre, die sich anschickt, Eggers’ Fiktion zu verwirklichen. Chinas Machthaber wollen bis zum Jahr 2020 einen Social Score entwickeln, der Daten aus möglichst allen gesellschaftlichen Feldern bündelt: Kauf- und Surfverhalten, Verkehrsdelikte, juristische Streitigkeiten, Konflikte mit dem Arbeitgeber oder sogar Auffälligkeiten der Kinder. Der Social Score wiederum verschafft entsprechende Vorteile bei der Wohnungssuche, Kreditaufnahme oder beim Umgang mit Behörden, berichtet der Berliner Soziologie Steffen Mau in seinem jüngsten Buch „Das metrische Wir“. Darin beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten der sozialen Kontrolle im Zeitalter der Digitalisierung, aber soziologisch tiefergelegt, indem er die Mechanismen der zunehmenden Quantifizierung des Sozialen analysiert – und wie wir freiwillig und unfreiwillig dabei mitmachen.
Unsere Gesellschaft, so Maus These, werde zunehmend eine der Scores, Screenings, Rankings und Bewertungen. Die Quantifizierung des Sozialen führe in eine Gesellschaft, in welcher der Wettbewerb, der soziale Vergleich allgegenwärtig, ja geradezu universell werde. Sie bringe neue Formen von sozialer Unterscheidung und damit Ungleichheiten hervor.
Mau zeigt, dass die Logik der Quantifizierung fast alle gesellschaftlichen Felder erfasst hat: von öffentlichen Institutionen wie Krankenhäusern oder Universitäten, über Produktion, Handel und Konsum bis hin zur individuellen Lebensführung, zu Hobbys, Liebesleben, Geldverhältnissen oder sportlichen Aktivitäten, bis hin sogar zu den Emotionen. Überall entstehen kalkulative Vergleichspraktiken, die gesellschaftliche Teilbereiche zu einem Quasi-Markt werden lassen, in denen Werte nicht in Preisen, sondern in Wertungen ausgedrückt werden.
Es gibt kein Entkommen aus der Quantifizierung. Die meisten machen freiwillig mit, die anderen können sich kaum entziehen. Man würde sich aus den Kanälen der sozialen Kommunikation ausschließen. Schließlich verstrickt das Netz aus Rankings und Ratings uns alle derart, dass wir unsere Autonomie und Subjektivität in den metrischen Fremd- und Eigenerwartungen verlieren. Das Leben findet nur noch im Komparativ statt. Richard David Precht hatte in seinem Bestseller noch gefragt, „Wer bin ich, und wenn ja wie viele?“ Die Sinnsuche hat nach Mau ein Ende, denn der kompetitive Mensch kennt nur noch eine Wertigkeit, die zählt: Ich bin, wie viele Klicks und Sternchen ich habe.
Während die Befürworter der zahlengesteuerten Performancemessung deren Neutralität und Objektivität betonen, zeigt Mau, wie es sich bei der Quantifizierung im doppelten Sinne um ein Vermessen handelt. Es wird zwar gemessen, aber gleichzeitig immer ein wenig „falsch“ gezählt. Die Reduktion von komplexen Zusammenhängen in Indikatoren und Kennziffern lässt darin die Welt in eine Zahl schrumpfen, die ebenso viel offenlegt, wie sie unsichtbar werden lässt. Denn es kommt schließlich darauf an, welcher Faktor wie stark gewichtet wird und welche Faktoren man überhaupt berücksichtigt. Hinter dem Schleier der Neutralität stehen handfeste, häufig ökonomische Interessen. So schneiden etwa Staaten, die ihre Arbeitsmärkte liberalisieren, bei den internationalen Ratingagenturen besser ab.
Bei den populär gewordenen Rankings findet derweil eine Reputationszuweisung statt, die dem Prinzip folgt: Wer hat, dem wird gegeben. Was einmal in einem Ranking oben steht, das wird auch als Spitzenklasse wahrgenommen und zieht weitere Ressourcen an. Die amerikanischen Eliteuniversitäten ziehen deshalb immer weiter Spitzenleute an, sodass die Rankings im Grunde keine Bewegung erfahren. Wissenschaftler, die sich einmal einen guten Ruf erarbeitet haben, werden auch in der Zukunft häufiger zitiert.
Der Effekt wirkt gleichzeitig in die andere Richtung, und die Metrik kann bestehende Ungleichheiten und Diskriminierungen verstärken. So werden Afroamerikaner in algorithmisierten Bewertungssystemen häufig systematisch schlechter eingeordnet.
Metrische Performancemessungen können zudem falsche Anreize setzen. In wissenschaftlichen Evaluierungen, teilweise sogar in Berufungskommissionen, verlässt man sich zunehmend auf eine quantifizierte Größe, den sogenannten Impact-Faktor. Dieser sagt etwas darüber aus, wie häufig man in den anerkannten Journalen publiziert hat und zitiert wurde. Es sagt aber wenig darüber aus, inwiefern die Forschung wirklich interessant oder relevant ist. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, dass Wissenschaftler, die eine systematisch andere Sichtweise vertreten, in den Rankings schlechter abschneiden, weil Gutachter dazu neigen, vor allem Beiträge, die ihrer eigenen Sichtweise entsprechen, positiv einzustufen – was umgekehrt dazu führt, dass die intellektuelle Kreativität in den Wissenschaften nachlässt, weil man die Forschung bereits auf eine positive Begutachtung ausrichtet.
Darüber hinaus verlieren Bücher, gerade auch in der Welt der Sozialwissenschaften, an Reputation, da sie für den Impact-Factor nur unter bestimmten Bedingungen eine Rolle spielen. Soziologen wie Mau, die in Fachzeitschriften hochformalisierte Aufsätze veröffentlichen und thesenstarke, an ein größeres Publikum gerichtete Bücher schreiben, sind deshalb immer seltener zu finden.
Manch einen Punkt in diesem Buch hätte man sich ausführlicher ausgeführt gewünscht und dafür auf die ein oder andere argumentative Redundanz gern verzichtet. Historische Entwicklungslinien werden zwar mit-, aber nicht ausgeführt. Mau nennt die doppelte Buchführung und die Erfindung der Statistik als bedeutende Schritte in der historischen Quantifizierung der Gesellschaft. Unerwähnt bleibt ausgerechnet die Entstehung der wissenschaftlichen Betriebsführung, der sogenannte Taylorismus, der doch die beiden Grundmomente der Quantifizierung idealtypisch enthält: Man zerlegt den Arbeitsprozess in seine Einzelteile und misst die Zeit.
Dennoch können sowohl die Fachkollegen als auch das interessierte Publikum dieses instruktive Buch über einen zentralen Wandlungsprozess der Gegenwart mit Gewinn lesen. Man ist nach der Lektüre nicht nur schlauer, sondern auch gewarnt. Aber auch die Warnung hätte systematischer ausfallen können. Die zunehmende Transparenz der Individuen und die gleichzeitig wachsende Intransparenz der Datenerfassung und Kontrollpraktiken ermöglichen neue Form der sozialen Herrschaft.
Zwar werden die Winkel der Quantifizierung mit soziologischer Präzision ausgeleuchtet, aber den gesellschaftstheoretischen Schlussfolgerungen fehlt die letzte Verkoppelung – so bleibt das metrische Wir am Ende doch ein wenig unbestimmt. Wo liegt in der Gegenwart der qualitative Unterschied zu den historischen Formen der Quantifizierung? Ist es einfach ein Immer-mehr, das schließlich universell wird?
Obwohl das Buch das „Wir“ im Titel führt, gibt es für Mau mit der Quantifizierung des Sozialen kein gemeinschaftliches Wir mehr, schließlich zerlege die Quantifizierung die Kollektive der Gesellschaft in ihre Einzelteile, in der sich jeder nur noch als kompetitives Differenzierungssubjekt zu den anderen begreift. Damit verschwinden die Möglichkeiten für ein solidarisches Wir, auch den Konflikt der Klassen erklärt Mau für endgültig obsolet. In diesem Punkt irrt Mau sich – hoffentlich. Er über- und unterschätzt zugleich die Rolle der Technologie. Zunächst führt die Technologie nicht zu einer Auflösung von ökonomisch geprägten Klassen. Die Selbstvermesser mit der Apple Watch fliegen eher Businessclass, der Fahrer bei Uber hingegen wird fremdvermessen. Und längst haben die Gewerkschaften angefangen, Vergleichsportale für Entgelte zu schaffen, und organisieren Arbeitnehmer in der Gig-Economy über soziale Medien. Eine Hegelsche Wendung, dass die Menschen gerade in der entfremdeten und zerlegten Vereinzelung das kapitalistische Ganze erkennen könnten, ist möglich.
OLIVER NACHTWEY
Man ist nach der Lektüre
nicht nur schlauer,
sondern auch gewarnt
Für Steffen Mau gibt es mit
der Quantifizierung des Sozialen
kein gemeinschaftliches Wir mehr
Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 308 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Oliver Nachtwey liest Steffen Maus Studie als Warnung vor einer totalen Wettbewerbsgesellschaft. Der Kritiker erfährt hier nicht nur, dass inzwischen fast alle gesellschaftlichen Bereiche von öffentlichen Institutionen über Produktion und Handel bis hin zu Emotionen von dem allgegenwärtigen sozialen Bewertungswahn erfasst sind, sondern liest auch, dass hinter der vorgeblichen Neutralität meist ökonomische Interessen stehen. Die Gefahren der Quantifizierung kann ihm der Autor mit "soziologischer Präzision" überzeugend vermitteln, wenngleich sich Nachtwey gerade im Hinblick auf die historische Entwicklung ein wenig mehr Ausführlichkeit gewünscht hätte. So vermisst der Kritiker etwa einen Hinweis auf den Taylorismus. Und auch wenn ihm Maus gesellschaftstheoretischen Schlussfolgerungen zu vage bleiben und er dem Autor nicht glauben mag, dass der Klassenkonflikt inzwischen "obsolet" geworden sei, kann er das Buch sowohl Fachkollegen als auch interessierten Laien empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man ist nach der Lektüre nicht nur schlauer, sondern auch gewarnt.« Oliver Nachtwey Süddeutsche Zeitung 20170725