Wer wahrnimmt, weiß, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage ist das Thema einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jede Modellbildung zu verzichten. Gerade wenn sich die traditionellen Modelle der Wahrnehmung als Mythen erweisen, muß die Erfahrung des Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Diese Erfahrung erlaubt nicht länger, das Ich der Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken und Wahrnehmung als Produkt des Subjekts zu denken. Sie verlangt vielmehr, die Abhängigkeiten umzukehren und die Folgen der Wirklichkeit der Wahrnehmung für das Subjekt zu beschreiben. Nicht das Ich, das die Wahrnehmung hervorbringt, wird thematisiert, sondern die Wahrnehmung, die mich hervorbringt und in der Welt sein läßt. Dieses Mich der Wahrnehmung gilt es zu beschreiben: Zu welchem Dasein, zu welcher Art der Weltpartizipation zwingt mich meine Wahrnehmung? Und inwiefern erlaubt etwa die Bildwahrnehmung eine Pause von dieser Partizipation? Das sind Grundfragen eines philosophischen Entwurfs über den Menschen, dem es über das Thema der Wahrnehmung hinaus um die Möglichkeit des phänomenologischen Philosophierens geht: um die Möglichkeit einer Philosophie ohne Modell.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2009Die Höflichkeit der Bilder
Von Präsenzpflicht, Wahrnehmungsstress und Pausen an der Weltteilhabe: Lambert Wiesing philosophiert von Grund auf.
Schlaf und Bilder haben, folgt man Lambert Wiesing, etwas gemeinsam. Beide befreien von den Zumutungen des üblichen Wahrnehmens mit all seinen Unverfügbarkeiten. Während aber der Schlaf eine Unterbrechung des Wahrnehmens darstellt, wird es beim Betrachten von Bildern "in entlasteter Form fortgesetzt". Man macht dann gleichsam eine Pause, darf etwas anschauen, ohne direkt involviert sein zu müssen. Bilder entbinden von "leiblicher Teilnahme"; sie erlösen den Betrachter von der "anstrengenden Daueranwesenheit in der wahrgenommenen Welt". Man könnte auch sagen: Bilder sind das Höflichste, was Menschen widerfahren kann.
Bildtheoretische Erörterungen bilden den Schlussteil - auch die Schlusspointe - von Lambert Wiesings wahrnehmungsphilosophischer Studie, mit welcher der in Jena lehrende Philosoph dem phänomenologischen Denken eine eindrucksvolle Renaissance beschert. Mit dem Untertitel "Eine Autopsie" erhebt er den Anspruch, "selbst zu sehen, um zu sehen, wie man selbst ist". Nicht der Wahrnehmende, sondern die Wahrnehmung selbst bildet dabei die Basis von Wiesings Reflexionen, könne man doch deren Realität - ebenso wenig wie die Realität der eigenen Gedanken oder Schmerzen - nicht bezweifeln.
Dass seinem an Gewissheiten orientierten Impetus etwas Unzeitgemäßes anhaftet, ist Wiesing durchaus bewusst. Doch das scheint ihn zu anzuregen. So ist der erste Teil seines Buchs eine fulminante Abrechnung mit vorherrschenden Strömungen der Philosophie, mit diversen Formen von Repräsentationalismus und Interpretationismus. Ihnen allen sind höchst vage Annahmen über das Verhältnis von Subjekt und Objekt gemeinsam; sie entwickeln also lediglich - jeweils bezweifelbare - Vorstellungen und Konzepte davon, wie sich Wirklichkeit im Wahrnehmenden konstituiert. Damit jedoch, so Wiesings Vorwurf, machen sie nichts anderes als die Vertreter der Wissenschaften, die auf ihren Feldern ebenfalls mit mehr oder weniger brauchbaren, letztlich aber immer austauschbaren Modellen operieren. Das sei jedoch ein Verrat an der Philosophie, die nichts als selbstverständlich voraussetzen dürfe.
Wiesings vorbildlich klare Analyse, die Schritt für Schritt Hypothesen dekonstruiert und zur Selbstreflexion animiert, schafft ein Bewusstsein für das "Mich der Wahrnehmung", das dem Buch seinen Titel gibt. Wer von der Wahrnehmung als dem Gewissen und Primären ausgeht, dem erscheint das Subjekt als ein "nachgängiges" Objekt. Statt von einem "Ich", das wahrnimmt, spricht man dann davon, dass die Wahrnehmung ein Subjekt - mich - "macht"; dies allerdings nicht als Tätigkeit, sondern in der Weise, in der ein Kind einen Mann zum Vater macht. Die Wahrnehmung verleiht mir also die Gewissheit, dass es mich gibt, während sie über die Substanz eines Ich nichts auszusagen erlaubt.
Dieses "Mich" ist aber auch dazu gezwungen, Subjekt seiner Wahrnehmungszustände zu sein. Und ebendas kann als Zumutung erfahren werden. Wiesing spricht vom "phänomenologischen Schicksal", das darin besteht, dass jede Wahrnehmung für ihr Subjekt "mit einer gnadenlosen persönlichen innerweltlichen Präsenz- und Partizipationspflicht verbunden" sei. Sich von der eigenen Wahrnehmung zu distanzieren oder gar zu dispensieren ist nicht möglich. Nur jene bereits erwähnten Partizipationspausen kann man sich gönnen: wenn man Bilder betrachtet. Wiesing spricht von Bildern als einer "physikfreien Zone", was zugleich heißt, dass der Betrachter an dem Geschehen, das auf ihnen zu sehen ist, weder teilhaben muss noch teilhaben kann.
Indem er Bilder als grundsätzlich nichtimmersiv ausweist, setzt sich Wiesing klar von einer Mode ab, die in den letzten Jahren grassierte. Um ihre eigene Legitimation und Bedeutung zu erhöhen, waren nämlich viele Bildwissenschaftler darum bemüht, Bilder gerade als besonders mächtig und wirkungsvoll darzustellen, ihnen also die Fähigkeit zu unterstellen, den Betrachter ganz zu vereinnahmen. Wäre das jedoch der Fall, würde der Rezipient glauben, einem realen Geschehen beizuwohnen: Das Spezifische des Bildes, eben seine Nur-Sichtbarkeit, wäre preisgegeben. Folgt man Wiesings Argumentation, sind statische Bilder noch entlastender als etwa ein Kinofilm, stellt dieser doch insofern noch eine Zumutung dar, als er dem Rezipienten vorgibt, was zu welchem Zeitpunkt gesehen werden muss.
Überhaupt wäre es lohnend, Wiesings Theorie für verschiedene Bildformen zu differenzieren und auszuloten, was es heißt, dass nur Bilder - oder allgemeiner Formen des Fiktionalen - Pausen vom Stress der Weltteilhabe ermöglichen. Eine Philosophie der Pause wäre also das nächste Buch, das man sich von diesem Autor wünscht.
WOLFGANG ULLRICH
Lambert Wiesing: "Das Mich der Wahrnehmung". Eine Autopsie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 228 S., br., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Präsenzpflicht, Wahrnehmungsstress und Pausen an der Weltteilhabe: Lambert Wiesing philosophiert von Grund auf.
Schlaf und Bilder haben, folgt man Lambert Wiesing, etwas gemeinsam. Beide befreien von den Zumutungen des üblichen Wahrnehmens mit all seinen Unverfügbarkeiten. Während aber der Schlaf eine Unterbrechung des Wahrnehmens darstellt, wird es beim Betrachten von Bildern "in entlasteter Form fortgesetzt". Man macht dann gleichsam eine Pause, darf etwas anschauen, ohne direkt involviert sein zu müssen. Bilder entbinden von "leiblicher Teilnahme"; sie erlösen den Betrachter von der "anstrengenden Daueranwesenheit in der wahrgenommenen Welt". Man könnte auch sagen: Bilder sind das Höflichste, was Menschen widerfahren kann.
Bildtheoretische Erörterungen bilden den Schlussteil - auch die Schlusspointe - von Lambert Wiesings wahrnehmungsphilosophischer Studie, mit welcher der in Jena lehrende Philosoph dem phänomenologischen Denken eine eindrucksvolle Renaissance beschert. Mit dem Untertitel "Eine Autopsie" erhebt er den Anspruch, "selbst zu sehen, um zu sehen, wie man selbst ist". Nicht der Wahrnehmende, sondern die Wahrnehmung selbst bildet dabei die Basis von Wiesings Reflexionen, könne man doch deren Realität - ebenso wenig wie die Realität der eigenen Gedanken oder Schmerzen - nicht bezweifeln.
Dass seinem an Gewissheiten orientierten Impetus etwas Unzeitgemäßes anhaftet, ist Wiesing durchaus bewusst. Doch das scheint ihn zu anzuregen. So ist der erste Teil seines Buchs eine fulminante Abrechnung mit vorherrschenden Strömungen der Philosophie, mit diversen Formen von Repräsentationalismus und Interpretationismus. Ihnen allen sind höchst vage Annahmen über das Verhältnis von Subjekt und Objekt gemeinsam; sie entwickeln also lediglich - jeweils bezweifelbare - Vorstellungen und Konzepte davon, wie sich Wirklichkeit im Wahrnehmenden konstituiert. Damit jedoch, so Wiesings Vorwurf, machen sie nichts anderes als die Vertreter der Wissenschaften, die auf ihren Feldern ebenfalls mit mehr oder weniger brauchbaren, letztlich aber immer austauschbaren Modellen operieren. Das sei jedoch ein Verrat an der Philosophie, die nichts als selbstverständlich voraussetzen dürfe.
Wiesings vorbildlich klare Analyse, die Schritt für Schritt Hypothesen dekonstruiert und zur Selbstreflexion animiert, schafft ein Bewusstsein für das "Mich der Wahrnehmung", das dem Buch seinen Titel gibt. Wer von der Wahrnehmung als dem Gewissen und Primären ausgeht, dem erscheint das Subjekt als ein "nachgängiges" Objekt. Statt von einem "Ich", das wahrnimmt, spricht man dann davon, dass die Wahrnehmung ein Subjekt - mich - "macht"; dies allerdings nicht als Tätigkeit, sondern in der Weise, in der ein Kind einen Mann zum Vater macht. Die Wahrnehmung verleiht mir also die Gewissheit, dass es mich gibt, während sie über die Substanz eines Ich nichts auszusagen erlaubt.
Dieses "Mich" ist aber auch dazu gezwungen, Subjekt seiner Wahrnehmungszustände zu sein. Und ebendas kann als Zumutung erfahren werden. Wiesing spricht vom "phänomenologischen Schicksal", das darin besteht, dass jede Wahrnehmung für ihr Subjekt "mit einer gnadenlosen persönlichen innerweltlichen Präsenz- und Partizipationspflicht verbunden" sei. Sich von der eigenen Wahrnehmung zu distanzieren oder gar zu dispensieren ist nicht möglich. Nur jene bereits erwähnten Partizipationspausen kann man sich gönnen: wenn man Bilder betrachtet. Wiesing spricht von Bildern als einer "physikfreien Zone", was zugleich heißt, dass der Betrachter an dem Geschehen, das auf ihnen zu sehen ist, weder teilhaben muss noch teilhaben kann.
Indem er Bilder als grundsätzlich nichtimmersiv ausweist, setzt sich Wiesing klar von einer Mode ab, die in den letzten Jahren grassierte. Um ihre eigene Legitimation und Bedeutung zu erhöhen, waren nämlich viele Bildwissenschaftler darum bemüht, Bilder gerade als besonders mächtig und wirkungsvoll darzustellen, ihnen also die Fähigkeit zu unterstellen, den Betrachter ganz zu vereinnahmen. Wäre das jedoch der Fall, würde der Rezipient glauben, einem realen Geschehen beizuwohnen: Das Spezifische des Bildes, eben seine Nur-Sichtbarkeit, wäre preisgegeben. Folgt man Wiesings Argumentation, sind statische Bilder noch entlastender als etwa ein Kinofilm, stellt dieser doch insofern noch eine Zumutung dar, als er dem Rezipienten vorgibt, was zu welchem Zeitpunkt gesehen werden muss.
Überhaupt wäre es lohnend, Wiesings Theorie für verschiedene Bildformen zu differenzieren und auszuloten, was es heißt, dass nur Bilder - oder allgemeiner Formen des Fiktionalen - Pausen vom Stress der Weltteilhabe ermöglichen. Eine Philosophie der Pause wäre also das nächste Buch, das man sich von diesem Autor wünscht.
WOLFGANG ULLRICH
Lambert Wiesing: "Das Mich der Wahrnehmung". Eine Autopsie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 228 S., br., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr eingenommen ist Rezensent Wolfgang Ullrich von Lambert Wiesings wahrnehmungsphilosophischer Studie, die für ihn eine "eindrucksvolle Renaissance" des phänomenologischen Denkens darstellt. Im Zentrum der Überlegungen sieht er nicht den Wahrnehmenden, sondern die Wahrnehmung selbst, deren Realität nicht bezweifelbar ist. Überzeugend findet er die kritische Auseinandersetzung des Autors mit den dominierenden Strömungen der Philosophie in ihren diversen Formen von Repräsentationalismus und Interpretationismus, die unterschiedliche Konzepte davon entwickeln, wie die Wirklichkeit im Wahrnehmenden konstruiert wird. Ullrich attestiert Wiesing eine "vorbildlich klare Analyse", wenn dieser von der Wahrnehmung als dem Primären ausgeht, das das Subjekt als "nachgängiges" Objekt "macht". Überaus anregend scheinen ihm zudem die bildtheoretischen Reflexionen des Autors.
© Perlentaucher Medien GmbH
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