"Diese Stadt diese Stadt" - ratlos und empört, fasziniert und entsetzt sieht man mit Altaf Tyrewala auf seine Heimat Mumbai und die 18 Millionen Menschen, die hier tagtäglich versuchen, sich ein Leben im Chaos zu erkämpfen. Und oft genug verlieren. Der Teeverkäufer Ganesh zum Beispiel, dessen Straßenstand einer Bushaltestelle Platz machen muss und der sogar beim Selbstmord noch Pech hat. Oder Bhanu, eine Dalit, die in einer Hütte neben dem Luxushochhaus ihres Herrn verreckt. Tyrewala lässt sie in seinem zornigen Langgedicht atemlos vorüberziehen und schafft eine einzigartiges Panoptikum des Lebens in einer entfesselten Metropole unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus; in einem Land, das sämtliche Widersprüche dieser schönen neuen Welt auf sich vereinigt. Ein "Waste Land" für unsere Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Höchst beeindruckt berichtet Rezensent Jan Volker Röhnert über dieses Langgedicht, das er als einen "Episodenfilm in Stakkatoversen", eine atemlose, alptraumhafte und apokaplyptische Vision anpreist, die gar keine andere Form mehr finden konnte als ein an Eliots "Wasteland" erinnerndes poetisches Innehalten und Herausschreien. Schuld an allem Übel in der wuchernden Metropole ist dabei nach Auskunft des Rezensenten der übliche Verdächtige - das Kapital. Ob auch der zynische Horror des Kastenwesens und des religiösen Hasses in Tyrewalas Visionen einfließen, lässt der Rezensent offen. Faszinierend ist die Lektüre, die sowohl alte indische als auch neue Pulp-Fiction-Vorbilder einbindet, für ihn allemal - um so mehr, als man parallel zur deutschen Übersetzung das englische Original mitsamt Glossar der indischen Ausdrücke mitlesen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2014Als Revolution geht hier gerade mal das Drehen der Räder durch
Der indische Schriftsteller Altaf Tyrewala verdichtet die Megametropole des einundzwanzigsten Jahrhunderts, Bombay, in einem apokalyptischen Langgedicht.
Wie kann man als Dichter mit dem Moloch von Bombay (Mumbai) fertig werden? Der Inder Altaf Tyrewala, Jahrgang 1977, hat es in einem Langgedicht versucht, das in hyperbolischen Bilderfolgen die Hybris des indischen Stadtgiganten, Bombay, einzuholen sucht.
Herausgekommen ist ein Episodenfilm in Stakkatoversen, deren Furor ihresgleichen sucht: Hier kommt ein bislang unerhörtes Bombay zu Wort, und es scheint, als habe der Millionenkehlenchor der Stadt in Tyrewala sein Sprachrohr gefunden, um alles, was an unverdauten Gefühlen, Aggression, Widersprüchen, Pein und Niedertracht darin brodelt, aus ihm herauszuschreien. Für Lobpreis und Ruhm der Stadt gibt sich ihr lyrischer Stenograph schwerlich her, Glanz und Herrlichkeit wird man in seinem Bombay kaum begegnen. Dafür jedoch entführt er uns in eine Gegenwart, deren albtraumartige Fremdheit nur der absolute Schattenpol eines entfesselten Geld- und Warenkreislaufs ist, der uns seit den Tagen des Kolonialismus an Indien bindet. Der studierte Betriebswirt Tyrewala weiß, wovon er spricht, wenn bei ihm die brutale Logik des Kapitals der rote Faden ist, über den die Splitter seiner Megalopole miteinander verknüpft sind.
Das Überraschende am atemlosen Plot des Langgedichts ist die hypnotische Zielstrebigkeit, mit der der Dichter an der Hand seiner namenlosen Protagonisten (einem ständig wechselnden "Du") von Erscheinung zu Erscheinung steuert, ohne dass man selbst sofort weiß, ob man sich noch im gleichen Film oder in welchem Film man sich überhaupt befindet - es bleibt die gleiche Stadt, die von einem zum nächsten Augenblick ihr Antlitz verändert; hat man erst einmal erfolgreich eine der albtraumartigen Szenen zwischen Bahnhof, Deponie und Wolkenkratzern überwunden, wächst, ähnlich der antiken Hydra, gleich wieder eine Serie monsterhafter neuer Szenen daraus hervor.
Doch nicht Mythologie ist Tyrewalas Anliegen, sondern Anatomie des Jetzt: "Hinter mitgefühlsicheren Skodafenstern / Fahren diamantenbesetzte brüchige Egos / Schneid ihnen den Weg ab und sie schneiden dir was ab / Und entsorgen dich am Straßenrand / Gleich neben dem, was vom schon geschundenen Marx noch übrig ist / Dem Philosophen fehlt der Mund, umso mehr dozieren seine Körperöffnungen / Über den Highway als Klassenkampf im Höllentempo / Als Revolution geht hier gerade mal das Drehen der Räder durch."
So hybrid wie die Gesichter und Geschichten der Zwanzigmillionenagglomeration, die jeden herkömmlichen Begriff von Stadt sprengt, ist auch Tyrewalas Gedicht, das der Berenberg Verlag im einer deutschen Übersetzung von Beatrice Faßbender, parallel zum sprachlich schmatzenden und krachenden englischen Original laufend, nebst einem kleinen Glossar indischer Ausdrücke jetzt herausgebracht hat. Tyrewala, von dem 2006 bei Suhrkamp der Roman "Kein Gott in Sicht" erschien, verdankt Quentin Tarantinos "Pulp Fiction", dem Sarkasmus der Splatter- und Horrorfilme und einer gegen den Strich gebürsteten Bollywood-Romantik mindestens ebenso viel wie den indischen Veden mit ihren Göttergenealogien, Apollinaires oder T.S. Eliots Montagen von Stimmen und Bildern, die durch die Wahrnehmung des Dichters prasseln, oder Allen Ginsbergs Howl mit seiner zornig anklagenden Rhetorik, die dem Zynismus der Zustände Beteiligtsein entgegensetzt und das Gedicht damit zu einer eminent politischen Anprangerung macht: Wo das Gesetz deregulierter Märkte das soziale Leben diktiert, sind Moral und Miteinander suspendiert.
Wo zusätzlich die Grenze zwischen Fiktion und Realität gar nicht mehr wahrgenommen werden kann, weil sich die Wirklichkeit immer schon in Echtzeit auf Bildschirmen und im Netz vervielfacht und verselbständigt, und wo schließlich Kampf ums Dasein und Recht des Stärkeren anstelle von Mitgefühl getreten sind, ist das Amüsement der einen notwendig die Folter der anderen: "Durch den Dampf eines Fünf-Rupien-Bechers Cutting betrachtet / Flattert die Zukunft umher wie ein kopfloses Huhn / Versprüht iPods und Hi-Speed-Treibstoff / Je mehr du trinkst desto schneller geht's / Und du stehst da und sinnierst über den Teestaub am Boden deines weißen Plastikbechers."
Tyrewala, der längere Zeit in New York gelebt hat, dessen transatlantische Kulisse wiederholt in sein westindisches wasteland hineinspukt, und als Künstlerstipendiat auch Berlin kennenlernte, hat den delirierenden Albtraum einer Großstadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Sprache gebannt, den Albtraum einer Stadt, die alle Brücken zum "natürlichen Leben" hinter sich gelassen hat. Ihr lässt sich höchstens mit der Halluzination eines Langgedichts beikommen, das sein Bilderecho mit verstörender Intensität auf der inneren Leinwand hinterlässt. Ob man die geplante Urlaubsreise nach Bombay nach dieser Lektüre antritt, steht auf einem anderen Blatt. Das Megagedicht über die Megacity sollte man jedenfalls lesen, wenn man nicht nur wissen will, wie es sich anderswo lebt, sondern auch, was die Poesie anderswo antreibt: "Vergiss Shanti, Eliot, was du willst, ist Geetha / Nicht die Baghavad, sondern die Nachtschwester aus Kerala / Von der Intensivstation im Jaslok-Krankenhaus / Geetha kümmert sich um wüste Länder in Rückenlage, gänzlich unpoetisch / Deren Todesangst sich in stinkenden Bettpfannen sammelt / Wie Gespött flitzt sie über die Station / Ihre übereifrigen Brüste knapp in die weiße Uniform gezwängt."
JAN VOLKER RÖHNERT
Altaf Tyrewala: "Das Ministerium der verletzten
Gefühle". Gedicht.
Zweisprachig. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Berenberg Verlag, Berlin 2013. 96 S., br., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der indische Schriftsteller Altaf Tyrewala verdichtet die Megametropole des einundzwanzigsten Jahrhunderts, Bombay, in einem apokalyptischen Langgedicht.
Wie kann man als Dichter mit dem Moloch von Bombay (Mumbai) fertig werden? Der Inder Altaf Tyrewala, Jahrgang 1977, hat es in einem Langgedicht versucht, das in hyperbolischen Bilderfolgen die Hybris des indischen Stadtgiganten, Bombay, einzuholen sucht.
Herausgekommen ist ein Episodenfilm in Stakkatoversen, deren Furor ihresgleichen sucht: Hier kommt ein bislang unerhörtes Bombay zu Wort, und es scheint, als habe der Millionenkehlenchor der Stadt in Tyrewala sein Sprachrohr gefunden, um alles, was an unverdauten Gefühlen, Aggression, Widersprüchen, Pein und Niedertracht darin brodelt, aus ihm herauszuschreien. Für Lobpreis und Ruhm der Stadt gibt sich ihr lyrischer Stenograph schwerlich her, Glanz und Herrlichkeit wird man in seinem Bombay kaum begegnen. Dafür jedoch entführt er uns in eine Gegenwart, deren albtraumartige Fremdheit nur der absolute Schattenpol eines entfesselten Geld- und Warenkreislaufs ist, der uns seit den Tagen des Kolonialismus an Indien bindet. Der studierte Betriebswirt Tyrewala weiß, wovon er spricht, wenn bei ihm die brutale Logik des Kapitals der rote Faden ist, über den die Splitter seiner Megalopole miteinander verknüpft sind.
Das Überraschende am atemlosen Plot des Langgedichts ist die hypnotische Zielstrebigkeit, mit der der Dichter an der Hand seiner namenlosen Protagonisten (einem ständig wechselnden "Du") von Erscheinung zu Erscheinung steuert, ohne dass man selbst sofort weiß, ob man sich noch im gleichen Film oder in welchem Film man sich überhaupt befindet - es bleibt die gleiche Stadt, die von einem zum nächsten Augenblick ihr Antlitz verändert; hat man erst einmal erfolgreich eine der albtraumartigen Szenen zwischen Bahnhof, Deponie und Wolkenkratzern überwunden, wächst, ähnlich der antiken Hydra, gleich wieder eine Serie monsterhafter neuer Szenen daraus hervor.
Doch nicht Mythologie ist Tyrewalas Anliegen, sondern Anatomie des Jetzt: "Hinter mitgefühlsicheren Skodafenstern / Fahren diamantenbesetzte brüchige Egos / Schneid ihnen den Weg ab und sie schneiden dir was ab / Und entsorgen dich am Straßenrand / Gleich neben dem, was vom schon geschundenen Marx noch übrig ist / Dem Philosophen fehlt der Mund, umso mehr dozieren seine Körperöffnungen / Über den Highway als Klassenkampf im Höllentempo / Als Revolution geht hier gerade mal das Drehen der Räder durch."
So hybrid wie die Gesichter und Geschichten der Zwanzigmillionenagglomeration, die jeden herkömmlichen Begriff von Stadt sprengt, ist auch Tyrewalas Gedicht, das der Berenberg Verlag im einer deutschen Übersetzung von Beatrice Faßbender, parallel zum sprachlich schmatzenden und krachenden englischen Original laufend, nebst einem kleinen Glossar indischer Ausdrücke jetzt herausgebracht hat. Tyrewala, von dem 2006 bei Suhrkamp der Roman "Kein Gott in Sicht" erschien, verdankt Quentin Tarantinos "Pulp Fiction", dem Sarkasmus der Splatter- und Horrorfilme und einer gegen den Strich gebürsteten Bollywood-Romantik mindestens ebenso viel wie den indischen Veden mit ihren Göttergenealogien, Apollinaires oder T.S. Eliots Montagen von Stimmen und Bildern, die durch die Wahrnehmung des Dichters prasseln, oder Allen Ginsbergs Howl mit seiner zornig anklagenden Rhetorik, die dem Zynismus der Zustände Beteiligtsein entgegensetzt und das Gedicht damit zu einer eminent politischen Anprangerung macht: Wo das Gesetz deregulierter Märkte das soziale Leben diktiert, sind Moral und Miteinander suspendiert.
Wo zusätzlich die Grenze zwischen Fiktion und Realität gar nicht mehr wahrgenommen werden kann, weil sich die Wirklichkeit immer schon in Echtzeit auf Bildschirmen und im Netz vervielfacht und verselbständigt, und wo schließlich Kampf ums Dasein und Recht des Stärkeren anstelle von Mitgefühl getreten sind, ist das Amüsement der einen notwendig die Folter der anderen: "Durch den Dampf eines Fünf-Rupien-Bechers Cutting betrachtet / Flattert die Zukunft umher wie ein kopfloses Huhn / Versprüht iPods und Hi-Speed-Treibstoff / Je mehr du trinkst desto schneller geht's / Und du stehst da und sinnierst über den Teestaub am Boden deines weißen Plastikbechers."
Tyrewala, der längere Zeit in New York gelebt hat, dessen transatlantische Kulisse wiederholt in sein westindisches wasteland hineinspukt, und als Künstlerstipendiat auch Berlin kennenlernte, hat den delirierenden Albtraum einer Großstadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Sprache gebannt, den Albtraum einer Stadt, die alle Brücken zum "natürlichen Leben" hinter sich gelassen hat. Ihr lässt sich höchstens mit der Halluzination eines Langgedichts beikommen, das sein Bilderecho mit verstörender Intensität auf der inneren Leinwand hinterlässt. Ob man die geplante Urlaubsreise nach Bombay nach dieser Lektüre antritt, steht auf einem anderen Blatt. Das Megagedicht über die Megacity sollte man jedenfalls lesen, wenn man nicht nur wissen will, wie es sich anderswo lebt, sondern auch, was die Poesie anderswo antreibt: "Vergiss Shanti, Eliot, was du willst, ist Geetha / Nicht die Baghavad, sondern die Nachtschwester aus Kerala / Von der Intensivstation im Jaslok-Krankenhaus / Geetha kümmert sich um wüste Länder in Rückenlage, gänzlich unpoetisch / Deren Todesangst sich in stinkenden Bettpfannen sammelt / Wie Gespött flitzt sie über die Station / Ihre übereifrigen Brüste knapp in die weiße Uniform gezwängt."
JAN VOLKER RÖHNERT
Altaf Tyrewala: "Das Ministerium der verletzten
Gefühle". Gedicht.
Zweisprachig. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Berenberg Verlag, Berlin 2013. 96 S., br., 19,- [Euro].
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