Im Hochsicherheitsdepot eines der führenden Museen der Welt befindet sich ein aufsehenerregender Fund, womöglich die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung der letzten Jahre. Bis vor Kurzem wussten weniger als ein Dutzend Experten von seiner Existenz, nun wirft er völlig neues Licht auf die Ursprünge der Menschheit. Es handelt sich um ein exzellent erhaltenes Fossil eines Primaten, sensationelle 44 Millionen Jahre älter als "Lucy", der bislang berühmtesten Urahnin des Menschen. Der Fundort: Deutschland. Genauer: die Grube Messel bei Darmstadt, heute Unesco-Weltnaturerbe. "Ida" wie die Forscher, die das Fossil seit 2006 wissenschaftlich bearbeiten, das mögliche Missing Link in der Entwicklungsgeschichte von Affen und Menschen liebevoll nennen blieb lange Zeit der Weltöffentlichkeit verborgen. Jetzt wird sich an Darwinius masillae eine spannungsreiche Diskussion über unsere ältesten Vorfahren entzünden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2009In Richtung Homo sapiens war der Weg noch recht lang
Sollte Ida, das Fossil aus der Grube Messel, wirklich der berühmten Lucy den Rang ablaufen können? Das wohl nicht, aber außergewöhnlich ist dieser 47 Millionen alte weibliche Primat durchaus.
Man kann ein Fossil als achtes Weltwunder bezeichnen, wie es Jens Franzen vom Forschungsinstitut Senckenberg im Falle von "Ida" getan hat. Dann muss man sich allerdings auch den Hinweis gefallen lassen, dass die bekannten sieben Weltwunder alle vom Menschen geschaffen und somit künstlich waren. Und das achte?
Als Ida, ein Fossil aus der Grube Messel, im Mai mit lauter Begleitmusik vom norwegischen Paläontologen Jörn Hurum der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, schüttelte manch seriöser Wissenschaftler den Kopf. Ein Fossil, das von der Bedeutung her der Entdeckung Amerikas oder der ersten Mondlandung vergleichbar sein sollte? Der älteste gemeinsame Vorfahr von Affe und Mensch? Dieses Fossil werde auf Generationen hinaus das Bild von der Frühzeit unserer Evolution prägen, so wird Hurum in Colin Tudges Buch über "Ida und die Anfänge der Menschheit" zitiert.
Tatsächlich ist Ida ein weiblicher Primat, der vor 47 Millionen Jahren lebte - in der Übergangszeit vom Halbaffen zum Affen. Und sicher keine direkte Vorfahrin des Menschen, im Übrigen einem Lemuren ähnlich, gleichwohl "eine Vertreterin noch recht primitiver Primaten, die die Entwicklung in Richtung Anthropoidea bereits erahnen lässt". Die Fachleute werden noch einige Zeit darüber streiten, ob Ida mehr Richtung Plumplori oder mehr Richtung Koboldmaki tendiert.
Über den Übertreibungen dürfte vielerorts untergegangen sein, dass Ida tatsächlich ein ganz besonderes Fossil ist, über das man ins Schwärmen kommen kann. Immerhin handelt es sich um den einzigen nahezu vollständig fossilen Primaten, der jemals gefunden wurde. Sogar Idas Weichkörper ist erhalten geblieben - bis zu den Haarspitzen hin. Im Magen von Ida fand man die Reste von Früchten, Samen und Blättern. Sie geben Auskunft darüber, wie sich die Primaten in jener Zeit ernährten, als sich Halbaffen und Affen voneinander trennten.
Sieht man von dem reißerischen Titel einmal ab, stellt das Buch die "Geschichte Idas" seriös und ansprechend vor. Der Autor beschreibt ausführlich, unter welchen Umständen Ida im Jahr 1983 in der Grube Messel zutage trat und wie das Fossil zu Hurum gelangte. Er lässt den Fundort so, wie er sich vor 47 Millionen Jahren im Eozän dargestellt hat, lebendig werden, mit allem, was dort kreuchte und fleuchte; und er schildert anschaulich, warum gerade in der Grube Messel so viele guterhaltene Fossilien geborgen wurden.
Tudge vermittelt auch mit viel Feingefühl die körperlichen Merkmale des Fossils und was sie für den Stammbaum der Primaten, auf den er ebenfalls ausführlich eingeht, bedeuten könnten. Der Fachartikel, in dem Hurum und seine Kollegen Ida vorstellen, ist recht zurückhaltend formuliert. Wenn Hurum dagegen in der Öffentlichkeit äußert, Ida werde Lucy - das gut drei Millionen Jahre alte Fossil eines Primaten - an Berühmtheit ablösen, dürfte er irren. Denn Lucy, ein Australopithecus afarensis, ist schließlich ein Vormensch und kein Affe oder gar Halbaffe gewesen. Näher an der Realität als Hurum bewegt sich seine Tochter Ida, die offenbar schon frühzeitig im Kindergarten erzählt hat, man werde einen toten Affen nach ihr benennen.
GÜNTER PAUL
Colin Tudge: "Missing Link". Ida und die Anfänge der Menschheit. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Piper Verlag, München 2009. 304 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sollte Ida, das Fossil aus der Grube Messel, wirklich der berühmten Lucy den Rang ablaufen können? Das wohl nicht, aber außergewöhnlich ist dieser 47 Millionen alte weibliche Primat durchaus.
Man kann ein Fossil als achtes Weltwunder bezeichnen, wie es Jens Franzen vom Forschungsinstitut Senckenberg im Falle von "Ida" getan hat. Dann muss man sich allerdings auch den Hinweis gefallen lassen, dass die bekannten sieben Weltwunder alle vom Menschen geschaffen und somit künstlich waren. Und das achte?
Als Ida, ein Fossil aus der Grube Messel, im Mai mit lauter Begleitmusik vom norwegischen Paläontologen Jörn Hurum der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, schüttelte manch seriöser Wissenschaftler den Kopf. Ein Fossil, das von der Bedeutung her der Entdeckung Amerikas oder der ersten Mondlandung vergleichbar sein sollte? Der älteste gemeinsame Vorfahr von Affe und Mensch? Dieses Fossil werde auf Generationen hinaus das Bild von der Frühzeit unserer Evolution prägen, so wird Hurum in Colin Tudges Buch über "Ida und die Anfänge der Menschheit" zitiert.
Tatsächlich ist Ida ein weiblicher Primat, der vor 47 Millionen Jahren lebte - in der Übergangszeit vom Halbaffen zum Affen. Und sicher keine direkte Vorfahrin des Menschen, im Übrigen einem Lemuren ähnlich, gleichwohl "eine Vertreterin noch recht primitiver Primaten, die die Entwicklung in Richtung Anthropoidea bereits erahnen lässt". Die Fachleute werden noch einige Zeit darüber streiten, ob Ida mehr Richtung Plumplori oder mehr Richtung Koboldmaki tendiert.
Über den Übertreibungen dürfte vielerorts untergegangen sein, dass Ida tatsächlich ein ganz besonderes Fossil ist, über das man ins Schwärmen kommen kann. Immerhin handelt es sich um den einzigen nahezu vollständig fossilen Primaten, der jemals gefunden wurde. Sogar Idas Weichkörper ist erhalten geblieben - bis zu den Haarspitzen hin. Im Magen von Ida fand man die Reste von Früchten, Samen und Blättern. Sie geben Auskunft darüber, wie sich die Primaten in jener Zeit ernährten, als sich Halbaffen und Affen voneinander trennten.
Sieht man von dem reißerischen Titel einmal ab, stellt das Buch die "Geschichte Idas" seriös und ansprechend vor. Der Autor beschreibt ausführlich, unter welchen Umständen Ida im Jahr 1983 in der Grube Messel zutage trat und wie das Fossil zu Hurum gelangte. Er lässt den Fundort so, wie er sich vor 47 Millionen Jahren im Eozän dargestellt hat, lebendig werden, mit allem, was dort kreuchte und fleuchte; und er schildert anschaulich, warum gerade in der Grube Messel so viele guterhaltene Fossilien geborgen wurden.
Tudge vermittelt auch mit viel Feingefühl die körperlichen Merkmale des Fossils und was sie für den Stammbaum der Primaten, auf den er ebenfalls ausführlich eingeht, bedeuten könnten. Der Fachartikel, in dem Hurum und seine Kollegen Ida vorstellen, ist recht zurückhaltend formuliert. Wenn Hurum dagegen in der Öffentlichkeit äußert, Ida werde Lucy - das gut drei Millionen Jahre alte Fossil eines Primaten - an Berühmtheit ablösen, dürfte er irren. Denn Lucy, ein Australopithecus afarensis, ist schließlich ein Vormensch und kein Affe oder gar Halbaffe gewesen. Näher an der Realität als Hurum bewegt sich seine Tochter Ida, die offenbar schon frühzeitig im Kindergarten erzählt hat, man werde einen toten Affen nach ihr benennen.
GÜNTER PAUL
Colin Tudge: "Missing Link". Ida und die Anfänge der Menschheit. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Piper Verlag, München 2009. 304 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Angetan zeigt sich Rezensent Günter Paul von Colin Tuges' Buch "Missing Link. Ida und die Anfänge der Menschheit". Zwar scheint ihm der Titel etwas "reißerisch". Aber die Schilderung der Geschichte Idas, dem in der Grube Messel gefundenen Fossil einer 47 Millionen Jahren alten weiblichen Primatin, schätzt er als "seriös" und "ansprechend". Mit Lob bedenkt er auch die anschauliche Darstellung der Umstände des Funds, der körperlichen Merkmale des Fossils und dessen mögliche Bedeutung für den Stammbaum der Primaten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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