Mittagszeit im Kindergarten. Hoffnungen auf Omelett mit Fischstäbchen oder Puddingsuppe mit Erdbeeren oder Hefeklöße und rote Soße keimen auf.
Aber es gibt - oh Graus! - Mohrrübeneintopf! Und mit einem Mal balanciert über Suses Suppe eine Trapezkünstlerin - Moritz findet einen klitschnassen Engel in seinem Teller ... Nils entdeckt eine Flaschenpost mit Liebesbrief ... und aus Huberts Suppe taucht ein Monster auf ... Jedem Kind fällt etwas Besonders ein, um die Suppe nicht auslöffeln zu müssen.
Eine nicht ganz ernst gemeinte kulinarische Exkursion, die natürlich gut ausgeht.
Aber es gibt - oh Graus! - Mohrrübeneintopf! Und mit einem Mal balanciert über Suses Suppe eine Trapezkünstlerin - Moritz findet einen klitschnassen Engel in seinem Teller ... Nils entdeckt eine Flaschenpost mit Liebesbrief ... und aus Huberts Suppe taucht ein Monster auf ... Jedem Kind fällt etwas Besonders ein, um die Suppe nicht auslöffeln zu müssen.
Eine nicht ganz ernst gemeinte kulinarische Exkursion, die natürlich gut ausgeht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2012So hungrig sind die Kinder nach Abenteuern
In Deutschland Bilderbücher zu machen ist ein Kampf gegen die Erwartungen der Verlage. Julia Friese aber hat in Frankreich gesehen, was möglich ist, und zeichnet unbeirrt Geschichten, die anders sind als das, was man sonst geboten bekommt. Der Erfolg bei Kindern gibt ihr recht.
Von Tilman Spreckelsen
Eine Geschichte, die Theodor Storm aus dem alten Husumer Schloss erzählt, geht so: Im großen Saal hing zwischen vielen Ahnenbildern auch eines, das einen schüchternen Ritter zeigte. Schaute man dieses Bild zu lange an, wurde der Ritter rot.
Nachprüfen lässt sich das nicht mehr. Das Bild ist heute verschollen, wahrscheinlich einem Brand zum Opfer gefallen. Die Vorstellung aber, dass sich ein Bild verändert, wenn wir es ausgiebig betrachten, ist quicklebendig. Nicht nur Kinder fragen sich, was aus den Abbildungen in Büchern wird, wenn man den Deckel schließt, und ganze Romane leben von der Vorstellung, dass man Bilder betreten und in ihnen verschwinden kann - das Spektrum reicht etwa von Arno Schmidts "Julia" über J. K. Rowlings "Harry Potter"-Serie bis zu Alina Bronskys jüngst erschienenem "Spiegelkind". Doch sosehr dabei das Eigenleben der Bilder beschworen werden mag, die Hierarchie der künstlerischen Ausdrucksformen ist im Roman glasklar: Es ist die Sprache, von der alles abhängt und die alles hervorbringt - auch das als autonom entworfene Bild. Das aber muss sich nicht vor dem Auge des Lesers beweisen, weil es allein in der Vorstellung existiert.
Geht es ums Bilderbuch, werden die Karten neu gemischt. Wer hier als Illustrator am Text klebt und ihm nichts entgegensetzt, hat schon verloren. Nichts langweilt junge und ältere Betrachter so zuverlässig wie Bilder, die exakt umsetzen, was der nebenstehende Text vorschreibt, die kein Geheimnis in sich bergen und keinen Erzählstrang, der über die Worte des Autors hinausgeht. Warum sollte man sich, beispielsweise, als Erstklässler mit einem Text abmühen, wenn man das dort Erzählte eins zu eins in den Buchillustrationen wiederfindet?
Die Berliner Künstlerin Julia Friese beschreibt sich selbst als "ungeduldig", und man nimmt es ihr sofort ab. Das gilt besonders, wenn es um Gepflogenheiten des Kinderbuchmarkts geht, um empiriefrei tradierte Überzeugungen und vermeintliche goldene Regeln, wie denn Werke für junge Leser auszusehen hätten: vor allem lieb. Als sie ihre ersten Bücher deutschen Verlagen anbot, sagt die 1979 in Leipzig geborene Friese, hätte man sie wegen ihres expressiven Stils denn auch gefragt, warum "das alles so unordentlich" sei und ob sie denn überhaupt "richtig zeichnen" könne?
Ganz neu kann ihr die Frage nicht gewesen sein. Friese, die heute zu den angesehensten deutschen Kinderbuchillustratoren gehört, ging in Potsdam zur Schule. Im Kunstunterricht, erinnert sie sich, "waren die Bilder der anderen Kinder ganz bunt. Und meine Farben waren immer so zusammengematscht, weil ich es irgendwie nicht hingekriegt habe, die so sauber zu trennen. Es war frustrierend." Später wollte sie eigentlich Medizin studieren, nicht zuletzt wegen der besseren beruflichen Perspektive. Sie hing aber so sehr am Zeichnen, dass sie sich in Dublin an der Kunsthochschule bewarb - "um das abzuhaken", sagt sie. Dass sie wider Erwarten angenommen wurde, machte die Sache nicht leichter. Später studierte sie noch in Bilbao und Leipzig. Und machte dort an der Hochschule für Grafik und Buchkunst 2006 ihr Diplom.
Im Gespräch wirkt die Künstlerin pragmatisch bis in die Haarspitzen. Es passt zu ihr, dass sie sich im Studium mehr Vorbereitung auf die Arbeitswelt gewünscht hätte und weniger Elfenbeinturm - "wenn mir einer erklärt hätte, wie man Verlagen gegenüber auftritt, hätte mir das viel Lehrgeld erspart", sagt sie. Allerdings hatte sie schon früh zwei Bilderbücher in Frankreich publiziert, als Ergebnis ihrer Au-pair-Zeit, die sie vorwiegend in Pariser Bibliotheken verbrachte, um mit den ihr anvertrauten Mädchen den Kinderbuchmarkt des Gastlands zu erkunden. Die Erfahrung, wie viel man in Frankreich jungen Lesern zutraut, wie fließend der Übergang zwischen anspruchsvollen Bilderbüchern für Kinder und Erwachsene ist, scheint sie gegen Forderungen nach leichter Kost immunisiert zu haben.
Ihr deutschsprachiges Debüt jedenfalls erschien 2004 bei einer der ersten Adressen für Bilderbücher, dem Schweizer Bajazzo-Verlag, der seit kurzem zu Beltz & Gelberg gehört: "Das Mohrrübensuppen-Abenteuer" erzählt auf zwölf Doppelseiten vom Mittagessen einer Kindergartengruppe, davon, was jedes einzelne Kind auf dem Grund seiner Suppenschale wahrnimmt - Engel, Monster, Seiltänzerin, um nur einige zu nennen -, von Destruktion und aufbrechender Kreativität und ganz zum Schluss immerhin davon, dass man Mohrrübensuppe ja auch essen kann. Die Geschichte ist sparsam erzählt, das Geschehen selbst dürfte kaum mehr als zwanzig Minuten einnehmen und ufert doch mit großer Souveränität in alle Richtungen aus.
Vor allem aber sind da Frieses wuchtige, kraftstrotzende und farbsatte Bilder, die etwa den Klatschmohn aus der Suppenschale sprießen lassen, als gäbe es in diesem Moment nur ihn auf der Welt. Und wenn eine Flaschenpost herantreibt und einen Liebesbrief freigibt, dann ist das nicht irgendein Fetzen, sondern umfasst zwei riesige weiße Blätter mit einem kryptisch eingefärbten Herzchenmuster - schwer vorstellbar, dass sich der Adressat diesem Antrag verweigern wird.
Drei Jahre nach dem "Mohrrübensuppen-Abenteuer" erschien ihr Bilderbuch "Alle seine Entlein", das sie zusammen mit dem Berliner Autor Christian Duda allerdings schon 2002 geschaffen hatte. "Viele Verlage meinten, es sei ihnen zu kompliziert, zu anspruchsvoll für Kinder", sagt Friese. Als schließlich wiederum der Bajazzo-Verlag zugriff, sei dessen Programm der kommenden drei Jahre bereits voll gewesen: "Als es dann endlich rauskam, war es für uns schon sehr weit weg, weil die Arbeit daran schon ewig abgeschlossen war."
Wer "Das Mohrrübensuppen-Abenteuer" aufmerksam rezipiert hatte, konnte von der optischen Gestalt des Nachfolgers einiges erwarten: Frieses kräftigen Strich, den Perspektivenwechsel zwischen Zoom und Weitwinkel, die Farbkontraste. All dies findet sich in "Alle seine Entlein" wieder. Was das Buch aber so besonders macht, ist nicht nur die virtuos eingesetzte Skizzenästhetik, die einige Sequenzen höchst dynamisch als atemlose Folge überlagerter Entwürfe erscheinen lässt, sondern vor allem das Spiel der beiden Urheber zwischen Erzähltext und Bild: Auf ein paar geradezu einlullend behäbige Sätze folgt mitunter eine reine Bilderseite, die den Erzählfaden weiterspinnt, neu interpretiert oder dramatisch verändert. Was Konrad und Lorenz miteinander treiben, wie sie sich zusammenfinden oder welche Spannungen sich aus dem ständigen Hunger des Fuchses und der wachsenden Vertrautheit der beiden ergeben, wird oft genug rein optisch dargestellt. Und das in einer Weise, die wiederum großen Raum für die Phantasie des Betrachters lässt. Frieses enorme Stilsicherheit, mit der sie unterschiedliche Grade an Abstraktion oder schieren Techniken mischt, lässt das disparate Buch auf faszinierende Weise zur Einheit werden. 2008 wurde es für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Es liegt auf der Hand, dass dieses besondere Verhältnis von Wort und Bild den Urhebern einiges abverlangt. "Wir lassen uns gegenseitig viel Raum und diskutieren die Elemente des anderen ausgiebig", sagt Friese über die Arbeit mit Christian Duda. "Ich habe großen Einfluss auf die Texte, er auf die Bilder. Es ist ein sehr langer Prozess dadurch, aber auch ein sehr fruchtbarer." Mittlerweile haben Friese und Duda meist auf der Grundlage von "Alle seine Entlein" in zahlreichen Ländern Workshops abgehalten und dabei diejenigen besser kennengelernt, um die es, wie Friese sagt, "eigentlich geht" - auch wenn es nach wie vor Erwachsene sind, die Bücher schreiben, verlegen, anbieten und kaufen. "Kinder werden permanent unterschätzt. Ich bin jedes Mal völlig fertig, wenn ich sehe, was für klasse Ideen die Kinder haben, wenn wir zusammen arbeiten. Wie weit sie denken und wie hungrig sie sind nach Abenteuern, nach Geschichten. Das würde den Verlagsleuten um die Ohren fliegen, wenn die das sehen würden."
Vielleicht muss man "Schnipselgestrüpp", das bislang letzte Werk von Friese und Duda, in diesem Zusammenhang sehen. Das grandios reduzierte, meisterliche Buch, wiederum bei Bajazzo erschienen, erzählt von einer dreiköpfigen Familie. Vater und Mutter verbringen den Nachmittag vor dem Fernseher, der Sohn im Grundschulalter sitzt in seinem Zimmer und schneidet Bilder aus der Zeitung aus, um sie an die Wand zu kleben. Allmählich verändert sich das triste Szenario: Angeregt durch einen Text über eine Gottesanbeterin, schlüpft der Junge in die Rolle, sein Zimmer verwandelt sich in eine Wildnis, und schließlich gelingt es ihm, seinen Vater vom Fernseher weg- und in sein Spiel hineinzulocken.
Entscheidend ist aber gar nicht die Geschichte. Im Zentrum des Buches stehen zwei Doppelseiten, die jeweils zwei Gesichter von ganz nah zeigen. Auf dem einen Tableau sieht man den Jungen, kopfüber hängend, die Hände fast lauernd aneinandergelegt. Seine Pupillen zeigen die Blickrichtung zum Vater an, der seinerseits zum Sohn schaut. Alles, was später zwischen den beiden geschieht, so scheint es, wurzelt hier in diesem Blickgeflecht. Wenn der Vater später bravourös einen Laubfrosch gibt, der majestätisch im Dickicht des Spielzimmers hockt, hat dies genau hier seinen Anfang.
Das andere Tableau, das am Anfang des Buchs, zeigt die leeren Gesichter von Mann und Frau. Die schmalen Augen schauen nirgendwohin, nicht einmal der Fernseher kann sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein. Schon gar nicht schauen sie zueinander. Und glaubt man daran, dass es zwischen einem Bild und seinem Betrachter zu einer Reaktion kommen kann, glaubt man also an Storms schüchternen Ritter, dann wäre das unsagbar Traurige bei diesem Doppelporträt, dass man vermutlich starren und starren könnte, ohne dass einer der beiden auch nur einen Anflug von Erröten zeigte.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Deutschland Bilderbücher zu machen ist ein Kampf gegen die Erwartungen der Verlage. Julia Friese aber hat in Frankreich gesehen, was möglich ist, und zeichnet unbeirrt Geschichten, die anders sind als das, was man sonst geboten bekommt. Der Erfolg bei Kindern gibt ihr recht.
Von Tilman Spreckelsen
Eine Geschichte, die Theodor Storm aus dem alten Husumer Schloss erzählt, geht so: Im großen Saal hing zwischen vielen Ahnenbildern auch eines, das einen schüchternen Ritter zeigte. Schaute man dieses Bild zu lange an, wurde der Ritter rot.
Nachprüfen lässt sich das nicht mehr. Das Bild ist heute verschollen, wahrscheinlich einem Brand zum Opfer gefallen. Die Vorstellung aber, dass sich ein Bild verändert, wenn wir es ausgiebig betrachten, ist quicklebendig. Nicht nur Kinder fragen sich, was aus den Abbildungen in Büchern wird, wenn man den Deckel schließt, und ganze Romane leben von der Vorstellung, dass man Bilder betreten und in ihnen verschwinden kann - das Spektrum reicht etwa von Arno Schmidts "Julia" über J. K. Rowlings "Harry Potter"-Serie bis zu Alina Bronskys jüngst erschienenem "Spiegelkind". Doch sosehr dabei das Eigenleben der Bilder beschworen werden mag, die Hierarchie der künstlerischen Ausdrucksformen ist im Roman glasklar: Es ist die Sprache, von der alles abhängt und die alles hervorbringt - auch das als autonom entworfene Bild. Das aber muss sich nicht vor dem Auge des Lesers beweisen, weil es allein in der Vorstellung existiert.
Geht es ums Bilderbuch, werden die Karten neu gemischt. Wer hier als Illustrator am Text klebt und ihm nichts entgegensetzt, hat schon verloren. Nichts langweilt junge und ältere Betrachter so zuverlässig wie Bilder, die exakt umsetzen, was der nebenstehende Text vorschreibt, die kein Geheimnis in sich bergen und keinen Erzählstrang, der über die Worte des Autors hinausgeht. Warum sollte man sich, beispielsweise, als Erstklässler mit einem Text abmühen, wenn man das dort Erzählte eins zu eins in den Buchillustrationen wiederfindet?
Die Berliner Künstlerin Julia Friese beschreibt sich selbst als "ungeduldig", und man nimmt es ihr sofort ab. Das gilt besonders, wenn es um Gepflogenheiten des Kinderbuchmarkts geht, um empiriefrei tradierte Überzeugungen und vermeintliche goldene Regeln, wie denn Werke für junge Leser auszusehen hätten: vor allem lieb. Als sie ihre ersten Bücher deutschen Verlagen anbot, sagt die 1979 in Leipzig geborene Friese, hätte man sie wegen ihres expressiven Stils denn auch gefragt, warum "das alles so unordentlich" sei und ob sie denn überhaupt "richtig zeichnen" könne?
Ganz neu kann ihr die Frage nicht gewesen sein. Friese, die heute zu den angesehensten deutschen Kinderbuchillustratoren gehört, ging in Potsdam zur Schule. Im Kunstunterricht, erinnert sie sich, "waren die Bilder der anderen Kinder ganz bunt. Und meine Farben waren immer so zusammengematscht, weil ich es irgendwie nicht hingekriegt habe, die so sauber zu trennen. Es war frustrierend." Später wollte sie eigentlich Medizin studieren, nicht zuletzt wegen der besseren beruflichen Perspektive. Sie hing aber so sehr am Zeichnen, dass sie sich in Dublin an der Kunsthochschule bewarb - "um das abzuhaken", sagt sie. Dass sie wider Erwarten angenommen wurde, machte die Sache nicht leichter. Später studierte sie noch in Bilbao und Leipzig. Und machte dort an der Hochschule für Grafik und Buchkunst 2006 ihr Diplom.
Im Gespräch wirkt die Künstlerin pragmatisch bis in die Haarspitzen. Es passt zu ihr, dass sie sich im Studium mehr Vorbereitung auf die Arbeitswelt gewünscht hätte und weniger Elfenbeinturm - "wenn mir einer erklärt hätte, wie man Verlagen gegenüber auftritt, hätte mir das viel Lehrgeld erspart", sagt sie. Allerdings hatte sie schon früh zwei Bilderbücher in Frankreich publiziert, als Ergebnis ihrer Au-pair-Zeit, die sie vorwiegend in Pariser Bibliotheken verbrachte, um mit den ihr anvertrauten Mädchen den Kinderbuchmarkt des Gastlands zu erkunden. Die Erfahrung, wie viel man in Frankreich jungen Lesern zutraut, wie fließend der Übergang zwischen anspruchsvollen Bilderbüchern für Kinder und Erwachsene ist, scheint sie gegen Forderungen nach leichter Kost immunisiert zu haben.
Ihr deutschsprachiges Debüt jedenfalls erschien 2004 bei einer der ersten Adressen für Bilderbücher, dem Schweizer Bajazzo-Verlag, der seit kurzem zu Beltz & Gelberg gehört: "Das Mohrrübensuppen-Abenteuer" erzählt auf zwölf Doppelseiten vom Mittagessen einer Kindergartengruppe, davon, was jedes einzelne Kind auf dem Grund seiner Suppenschale wahrnimmt - Engel, Monster, Seiltänzerin, um nur einige zu nennen -, von Destruktion und aufbrechender Kreativität und ganz zum Schluss immerhin davon, dass man Mohrrübensuppe ja auch essen kann. Die Geschichte ist sparsam erzählt, das Geschehen selbst dürfte kaum mehr als zwanzig Minuten einnehmen und ufert doch mit großer Souveränität in alle Richtungen aus.
Vor allem aber sind da Frieses wuchtige, kraftstrotzende und farbsatte Bilder, die etwa den Klatschmohn aus der Suppenschale sprießen lassen, als gäbe es in diesem Moment nur ihn auf der Welt. Und wenn eine Flaschenpost herantreibt und einen Liebesbrief freigibt, dann ist das nicht irgendein Fetzen, sondern umfasst zwei riesige weiße Blätter mit einem kryptisch eingefärbten Herzchenmuster - schwer vorstellbar, dass sich der Adressat diesem Antrag verweigern wird.
Drei Jahre nach dem "Mohrrübensuppen-Abenteuer" erschien ihr Bilderbuch "Alle seine Entlein", das sie zusammen mit dem Berliner Autor Christian Duda allerdings schon 2002 geschaffen hatte. "Viele Verlage meinten, es sei ihnen zu kompliziert, zu anspruchsvoll für Kinder", sagt Friese. Als schließlich wiederum der Bajazzo-Verlag zugriff, sei dessen Programm der kommenden drei Jahre bereits voll gewesen: "Als es dann endlich rauskam, war es für uns schon sehr weit weg, weil die Arbeit daran schon ewig abgeschlossen war."
Wer "Das Mohrrübensuppen-Abenteuer" aufmerksam rezipiert hatte, konnte von der optischen Gestalt des Nachfolgers einiges erwarten: Frieses kräftigen Strich, den Perspektivenwechsel zwischen Zoom und Weitwinkel, die Farbkontraste. All dies findet sich in "Alle seine Entlein" wieder. Was das Buch aber so besonders macht, ist nicht nur die virtuos eingesetzte Skizzenästhetik, die einige Sequenzen höchst dynamisch als atemlose Folge überlagerter Entwürfe erscheinen lässt, sondern vor allem das Spiel der beiden Urheber zwischen Erzähltext und Bild: Auf ein paar geradezu einlullend behäbige Sätze folgt mitunter eine reine Bilderseite, die den Erzählfaden weiterspinnt, neu interpretiert oder dramatisch verändert. Was Konrad und Lorenz miteinander treiben, wie sie sich zusammenfinden oder welche Spannungen sich aus dem ständigen Hunger des Fuchses und der wachsenden Vertrautheit der beiden ergeben, wird oft genug rein optisch dargestellt. Und das in einer Weise, die wiederum großen Raum für die Phantasie des Betrachters lässt. Frieses enorme Stilsicherheit, mit der sie unterschiedliche Grade an Abstraktion oder schieren Techniken mischt, lässt das disparate Buch auf faszinierende Weise zur Einheit werden. 2008 wurde es für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Es liegt auf der Hand, dass dieses besondere Verhältnis von Wort und Bild den Urhebern einiges abverlangt. "Wir lassen uns gegenseitig viel Raum und diskutieren die Elemente des anderen ausgiebig", sagt Friese über die Arbeit mit Christian Duda. "Ich habe großen Einfluss auf die Texte, er auf die Bilder. Es ist ein sehr langer Prozess dadurch, aber auch ein sehr fruchtbarer." Mittlerweile haben Friese und Duda meist auf der Grundlage von "Alle seine Entlein" in zahlreichen Ländern Workshops abgehalten und dabei diejenigen besser kennengelernt, um die es, wie Friese sagt, "eigentlich geht" - auch wenn es nach wie vor Erwachsene sind, die Bücher schreiben, verlegen, anbieten und kaufen. "Kinder werden permanent unterschätzt. Ich bin jedes Mal völlig fertig, wenn ich sehe, was für klasse Ideen die Kinder haben, wenn wir zusammen arbeiten. Wie weit sie denken und wie hungrig sie sind nach Abenteuern, nach Geschichten. Das würde den Verlagsleuten um die Ohren fliegen, wenn die das sehen würden."
Vielleicht muss man "Schnipselgestrüpp", das bislang letzte Werk von Friese und Duda, in diesem Zusammenhang sehen. Das grandios reduzierte, meisterliche Buch, wiederum bei Bajazzo erschienen, erzählt von einer dreiköpfigen Familie. Vater und Mutter verbringen den Nachmittag vor dem Fernseher, der Sohn im Grundschulalter sitzt in seinem Zimmer und schneidet Bilder aus der Zeitung aus, um sie an die Wand zu kleben. Allmählich verändert sich das triste Szenario: Angeregt durch einen Text über eine Gottesanbeterin, schlüpft der Junge in die Rolle, sein Zimmer verwandelt sich in eine Wildnis, und schließlich gelingt es ihm, seinen Vater vom Fernseher weg- und in sein Spiel hineinzulocken.
Entscheidend ist aber gar nicht die Geschichte. Im Zentrum des Buches stehen zwei Doppelseiten, die jeweils zwei Gesichter von ganz nah zeigen. Auf dem einen Tableau sieht man den Jungen, kopfüber hängend, die Hände fast lauernd aneinandergelegt. Seine Pupillen zeigen die Blickrichtung zum Vater an, der seinerseits zum Sohn schaut. Alles, was später zwischen den beiden geschieht, so scheint es, wurzelt hier in diesem Blickgeflecht. Wenn der Vater später bravourös einen Laubfrosch gibt, der majestätisch im Dickicht des Spielzimmers hockt, hat dies genau hier seinen Anfang.
Das andere Tableau, das am Anfang des Buchs, zeigt die leeren Gesichter von Mann und Frau. Die schmalen Augen schauen nirgendwohin, nicht einmal der Fernseher kann sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein. Schon gar nicht schauen sie zueinander. Und glaubt man daran, dass es zwischen einem Bild und seinem Betrachter zu einer Reaktion kommen kann, glaubt man also an Storms schüchternen Ritter, dann wäre das unsagbar Traurige bei diesem Doppelporträt, dass man vermutlich starren und starren könnte, ohne dass einer der beiden auch nur einen Anflug von Erröten zeigte.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
" Als Bilderbuch, das Erwachsenen noch besser gefällt als Kindern, lobt Rezensentin Annette Zerpner das Buch der jungen Bilderbuchkünstlerin Julia Friese. Viel sattes Orange, schräge Figuren und die souveräne Handhabung einber für Bilderbüchedr ungewöhnlichen Farbschichttechnik, können der Einschätzung der Rezensentin zufolge besonders jene Betrachter erfreuen, die keine niedlichen Bilderbücher mögen. Für Kinder ist das Buch aus ihrer aber trotz seiner herausragenden Qualität nur eingeschränkt zu empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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