Ein junger Europäer kommt nach New York, um der neue Willem Dafoe zu werden und das amerikanische Imperium zu Fall zu bringen.
Winter 1993. Ein junger Europäer landet in New York und sucht die legendäre Performancetruppe The Wooster Group auf. Er will die Bühne erobern und der neue Willem Dafoe, der neue Messias werden, auch ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf. Alles, was er hat, ist eine mysteriöse Telefonliste. Auf gut Glück wählt er eine Nummer und betritt eine ganz mit Velours ausgekleidete Parallelwelt aus bizarren Ritualen, Wahnsinn und Warhol-Werken. Was ist echt und was ist Schein, wo beginnt der Albtraum und wo die Realität?
»Niemand hat eine so unverwechselbare und elegante sprachliche Handschrift wie Madame Nielsen. Ihre Art zu schreiben ist so rücksichtslos selbstenthüllend wie radikal.« Weekendavisen
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Winter 1993. Ein junger Europäer landet in New York und sucht die legendäre Performancetruppe The Wooster Group auf. Er will die Bühne erobern und der neue Willem Dafoe, der neue Messias werden, auch ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf. Alles, was er hat, ist eine mysteriöse Telefonliste. Auf gut Glück wählt er eine Nummer und betritt eine ganz mit Velours ausgekleidete Parallelwelt aus bizarren Ritualen, Wahnsinn und Warhol-Werken. Was ist echt und was ist Schein, wo beginnt der Albtraum und wo die Realität?
»Niemand hat eine so unverwechselbare und elegante sprachliche Handschrift wie Madame Nielsen. Ihre Art zu schreiben ist so rücksichtslos selbstenthüllend wie radikal.« Weekendavisen
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»Ein herausfordernder, aber faszinierender Text über Wiederholung, Zeichenhaftigkeit und Bedeutungssuche.« Heilbronner Stimme 20200229
Ein Doppelgänger kommt groß raus
Die Performerin und Autorin Madame Nielsen erzählt in „Das Monster“ vom Selbsterfahrungstrip eines
jungen Europäers, der im New York der frühen 1990er-Jahre unversehens zum Erlöser wird
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Das ist eine lustige Idee: dass die Stadt New York in Wahrheit nichts anderes ist als das gigantische Bühnenbild einer Musical-Inszenierung, ihre Einwohner jederzeit bereit, in Gesang auszubrechen, während ein Frank-Sinatra-Lookalike auf dem roten Teppich „I want to wake up in a city that doesn’t sleep“ schmettert und die Obdachlosen „von ihrem Kulissenleben aufspringen und zu tanzen anfangen“. Der junge Mann, der sich dies im Herbst 1993 vorstellt, ist gerade eben in der Stadt angekommen, bis vor Kurzem hat er in Moskau gelebt. Da erscheint ihm New York verständlicherweise „banal“. Und ihm wird klar: „Seine Strategie hier in diesem neuen Imperium konnte nicht bloße Wiederholung dessen sein, was er in der Alten Welt getan hatte, es brauchte unbedingt etwas anderes, eine neue Art, sich zu bewegen, zu handeln und aufzutreten, aber welche?“
Das wird nicht ganz einfach sein, und lustig wird es eher auch nur nebenbei, aus Versehen. In der soeben untergegangenen Sowjetunion hat der gerade Dreißigjährige immerhin, wie er sagt, „world history“ gemacht, indem er als Rockmusiker im weit östlich gelegenen Perm den reglos in ihren Sitzen verharrenden Zuhörern von der Bühne herunter zurief: „Hello CCCP, get up and dance with us!“ Woraufhin die sich erhoben und zu tanzen begannen – was sie von nun an immer tun würden, der junge Mann hat das unverrückbar erscheinende Stillhaltegesetz der Sowjetgeschichte annulliert!
In New York will er sich auf die darstellende Kunst konzentrieren, vielleicht lässt sich ja hier, wenn schon nicht der Weltgeschichte, so doch wenigstens der eigenen Biografie eine neue Richtung geben. Zum Beispiel, weil „er“, wie der junge Mann ausschließlich genannt wird, dem Schauspieler Willem Dafoe so verdammt ähnlich sieht, sogar Paul aus der US-TV-Serie „Mad about you“ ruft in einer Bar entzückt aus: „You look like Willem Dafoe!“ Was die Barfrau wiederum „cool!“ findet, und wer weiß, wem es sonst noch so gehen wird.
Nicht wenigen und auch nicht den Geringsten, dies lässt sich nach der Lektüre von Madame Nielsens Roman „Das Monster“ rundheraus sagen. Hatte ihr erster, 2018 auf Deutsch erschienener Roman „Der endlose Sommer“ die wild bewegten Liebesgeschichten einer Gruppe unterschiedlichster Leute in einem dänischen Herrenhaus erzählt, folgt „Das Monster“ seinem namenlosen Helden nun in die New Yorker Theater- und Schwulenszene: Tagsüber setzt er sich in die Proben der weltberühmten Avantgarde-Truppe „The Wooster Group“ – die Bekanntschaft der legendären Regisseurin Elizabeth LeCompte hatte er in Europa gemacht. Nun trifft er auch auf ihren Lebensgefährten Willem Dafoe und den zehnjährigen Sohn der beiden, der ebenfalls in der „Performance Garage“ hockt und Heidegger liest.
Nachts um zwölf dann geht er in ein Haus, dessen Wände mit schwarzem und rotem Velours ausgekleidet sind. Es gehört den je in einem rosa und einem hellblauen Seidenschlafanzug auftretenden schmächtigen, mit „karikaturhaft hysterischer Frauenstimme“ durch die Sprechanlage kreischenden Zwillingen Jerry und Bruce. Abend für Abend schnallen sie ihn auf einem „Electric Chair“ fest, wie er ihn aus dem Werk Andy Warhols kennt, jagen Stromstöße durch seinen Körper und schleppen ihn dann in ein weißes Velourszimmer, wo sie ihm Sushi anbieten und ihn dann vergewaltigen, Nacht für Nacht.
Wiederholung ist also durchaus ein Thema im Leben dieses jungen Mannes, über ein Jahr folgt er beharrlich dem selbstauferlegten Geschehen. Zum Frühstück gibt es French Toast, den Bruce und Jerry ihm in der Küche zurückgelassen haben. Dann geht er zu Fuß quer durch Manhattan zur Wooster Group, und auf dem Weg dorthin spricht er jeweils einen Satz vor sich hin, den er sich aus den „Andy Warhol Diaries“ herausgepickt hat. Nach einem Tag meist stummen Verharrens auf der Tribüne der Performance Garage, wo er Willem Dafoe und den Schauspielerinnen Kate Valk und Peyton Smith dabei zuschaut, wie sie Tschechows „Drei Schwestern“ im Zwischenraum von Bühne und erster Zuschauerreihe vernuscheln, kauft er sich in der Food Garage ein übrig gebliebenes Sandwich, das er auf seinem Rückweg durch die Stadt verzehrt. Und um Schlag zwölf klingelt er wieder bei den Zwillingen.
Aber wirkliche Größe setzt sich doch durch, selbst in New York. Nicht lange, und er schlägt Liz LeCompte genau das richtige Stück für ihre nächste Inszenierung vor („Der haarige Affe“ von Eugene O’Neill) und darf irgendwann mit den Großen ihres Fachs unten an der Bühne stehen. Als er eines Tages Susan Sontag im Publikum ausmacht, geht er sie gleich frontal an: „Er stellte sich vor und sagte, er habe keines ihrer Bücher gelesen, keine einzige Zeile“, auch Becketts Theaterstücke finde er blöd – Sontag hat gerade in Sarajevo „Warten auf Godot“ inszeniert. Auf ihre Frage, was er denn in den USA wolle, antwortet er: „Nothing like this, or any kind of performance, or maybe a completely different one, more like the fall of the Soviet Union, only here.“ Was bleibt der Denkerin da anderes übrig, als zu sagen: „I would like to talk with you.“
Susan Sontag, Andy Warhol und Willem Dafoe bilden das magische Dreigestirn, dem der junge Mann obsessiv folgt: Beschreibungen von Warhol-Bildern ziehen sich durchs ganze Buch, kein Hamburger kann verzehrt werden, ohne dass er an den Film „Andy Warhol eating a hamburger“ denkt (während über seinem Kopf im TV, klar, ein Interview mit Susan Sontag läuft). Die wiederum empfängt ihn, obwohl sie an dem Tag eigentlich keine Besucher sehen will, und monologisiert dann über Ödipus und die Menendez-Brüder, die ihre Eltern brutal ermordet haben und auch ihn faszinieren. Aber es dauert dann doch noch bis fast zum Ende des Buches, bis „er denkt, dass sie kein Mensch mehr ist, sondern ein Monster, wie Willem (will heißen Jesus) und er selbst“ – da endlich ist die Identifikation vollkommen, Monster zu Monster, Erlöser zu Erlöser.
Denn Willem ist nicht nur „sein“ Doppelgänger, Willem hat ja auch 1988 in Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“ den Jesus gespielt, und wenn sie einander schon zum Verwechseln ähnlich sind, weshalb sollte dann nicht auch er ein Erlöser sein? „Es besteht kein Zweifel“, resümiert Madame Niesen gelassen, „dass er nach New York kam, weil er sich berufen fühlte. Von wem? Von der Geschichte“; von deren Regime hatte er ja auch schon die so lange zum Stillsitzen verdammten Sowjetmenschen befreit.
Erlösen wird er schließlich auch die an Aids erkrankten Zwillinge, indem er sie und ihr Haus verlässt (wobei er rasch noch entdeckt, dass er auch Andy Warhol gleicht), zur Wooster Group kehrt er ebenfalls nicht mehr zurück und taucht nachts fortan in die orgiastische Welt des Schwulen-Nachtklubs „Zone DK“ ein. Der Rest ist Raunen: eine nicht nachlassende Beschwörung der Bedeutsamkeit des jungen Mannes, voller Pathos, garniert mit einer Portion Kitsch und versehen auch mit unfreiwilliger Komik, wenn sich etwa „eine vor Bedeutung schwere Rolle Papyrus“ unversehens als Falafel entpuppt. Mag die Schauspielerin Peyton bei seinem Anblick staunend in den Ausruf „Jesus!“ ausbrechen, der Leser dürfte eher seufzen: Kokolores.
Madame Nielsen: Das Monster. Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 230 Seiten, 20 Euro.
Susan Sontag, Andy Warhol und
Willem Dafoe als Dreigestirn, dem
der junge Mann obsessiv folgt
Im Roman das Lookalike, hier das Original: Willem Dafoe und Kate Valk in einer Inszenierung der Wooster Group.
Foto: Los Angeles Times / Getty Images
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Performerin und Autorin Madame Nielsen erzählt in „Das Monster“ vom Selbsterfahrungstrip eines
jungen Europäers, der im New York der frühen 1990er-Jahre unversehens zum Erlöser wird
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Das ist eine lustige Idee: dass die Stadt New York in Wahrheit nichts anderes ist als das gigantische Bühnenbild einer Musical-Inszenierung, ihre Einwohner jederzeit bereit, in Gesang auszubrechen, während ein Frank-Sinatra-Lookalike auf dem roten Teppich „I want to wake up in a city that doesn’t sleep“ schmettert und die Obdachlosen „von ihrem Kulissenleben aufspringen und zu tanzen anfangen“. Der junge Mann, der sich dies im Herbst 1993 vorstellt, ist gerade eben in der Stadt angekommen, bis vor Kurzem hat er in Moskau gelebt. Da erscheint ihm New York verständlicherweise „banal“. Und ihm wird klar: „Seine Strategie hier in diesem neuen Imperium konnte nicht bloße Wiederholung dessen sein, was er in der Alten Welt getan hatte, es brauchte unbedingt etwas anderes, eine neue Art, sich zu bewegen, zu handeln und aufzutreten, aber welche?“
Das wird nicht ganz einfach sein, und lustig wird es eher auch nur nebenbei, aus Versehen. In der soeben untergegangenen Sowjetunion hat der gerade Dreißigjährige immerhin, wie er sagt, „world history“ gemacht, indem er als Rockmusiker im weit östlich gelegenen Perm den reglos in ihren Sitzen verharrenden Zuhörern von der Bühne herunter zurief: „Hello CCCP, get up and dance with us!“ Woraufhin die sich erhoben und zu tanzen begannen – was sie von nun an immer tun würden, der junge Mann hat das unverrückbar erscheinende Stillhaltegesetz der Sowjetgeschichte annulliert!
In New York will er sich auf die darstellende Kunst konzentrieren, vielleicht lässt sich ja hier, wenn schon nicht der Weltgeschichte, so doch wenigstens der eigenen Biografie eine neue Richtung geben. Zum Beispiel, weil „er“, wie der junge Mann ausschließlich genannt wird, dem Schauspieler Willem Dafoe so verdammt ähnlich sieht, sogar Paul aus der US-TV-Serie „Mad about you“ ruft in einer Bar entzückt aus: „You look like Willem Dafoe!“ Was die Barfrau wiederum „cool!“ findet, und wer weiß, wem es sonst noch so gehen wird.
Nicht wenigen und auch nicht den Geringsten, dies lässt sich nach der Lektüre von Madame Nielsens Roman „Das Monster“ rundheraus sagen. Hatte ihr erster, 2018 auf Deutsch erschienener Roman „Der endlose Sommer“ die wild bewegten Liebesgeschichten einer Gruppe unterschiedlichster Leute in einem dänischen Herrenhaus erzählt, folgt „Das Monster“ seinem namenlosen Helden nun in die New Yorker Theater- und Schwulenszene: Tagsüber setzt er sich in die Proben der weltberühmten Avantgarde-Truppe „The Wooster Group“ – die Bekanntschaft der legendären Regisseurin Elizabeth LeCompte hatte er in Europa gemacht. Nun trifft er auch auf ihren Lebensgefährten Willem Dafoe und den zehnjährigen Sohn der beiden, der ebenfalls in der „Performance Garage“ hockt und Heidegger liest.
Nachts um zwölf dann geht er in ein Haus, dessen Wände mit schwarzem und rotem Velours ausgekleidet sind. Es gehört den je in einem rosa und einem hellblauen Seidenschlafanzug auftretenden schmächtigen, mit „karikaturhaft hysterischer Frauenstimme“ durch die Sprechanlage kreischenden Zwillingen Jerry und Bruce. Abend für Abend schnallen sie ihn auf einem „Electric Chair“ fest, wie er ihn aus dem Werk Andy Warhols kennt, jagen Stromstöße durch seinen Körper und schleppen ihn dann in ein weißes Velourszimmer, wo sie ihm Sushi anbieten und ihn dann vergewaltigen, Nacht für Nacht.
Wiederholung ist also durchaus ein Thema im Leben dieses jungen Mannes, über ein Jahr folgt er beharrlich dem selbstauferlegten Geschehen. Zum Frühstück gibt es French Toast, den Bruce und Jerry ihm in der Küche zurückgelassen haben. Dann geht er zu Fuß quer durch Manhattan zur Wooster Group, und auf dem Weg dorthin spricht er jeweils einen Satz vor sich hin, den er sich aus den „Andy Warhol Diaries“ herausgepickt hat. Nach einem Tag meist stummen Verharrens auf der Tribüne der Performance Garage, wo er Willem Dafoe und den Schauspielerinnen Kate Valk und Peyton Smith dabei zuschaut, wie sie Tschechows „Drei Schwestern“ im Zwischenraum von Bühne und erster Zuschauerreihe vernuscheln, kauft er sich in der Food Garage ein übrig gebliebenes Sandwich, das er auf seinem Rückweg durch die Stadt verzehrt. Und um Schlag zwölf klingelt er wieder bei den Zwillingen.
Aber wirkliche Größe setzt sich doch durch, selbst in New York. Nicht lange, und er schlägt Liz LeCompte genau das richtige Stück für ihre nächste Inszenierung vor („Der haarige Affe“ von Eugene O’Neill) und darf irgendwann mit den Großen ihres Fachs unten an der Bühne stehen. Als er eines Tages Susan Sontag im Publikum ausmacht, geht er sie gleich frontal an: „Er stellte sich vor und sagte, er habe keines ihrer Bücher gelesen, keine einzige Zeile“, auch Becketts Theaterstücke finde er blöd – Sontag hat gerade in Sarajevo „Warten auf Godot“ inszeniert. Auf ihre Frage, was er denn in den USA wolle, antwortet er: „Nothing like this, or any kind of performance, or maybe a completely different one, more like the fall of the Soviet Union, only here.“ Was bleibt der Denkerin da anderes übrig, als zu sagen: „I would like to talk with you.“
Susan Sontag, Andy Warhol und Willem Dafoe bilden das magische Dreigestirn, dem der junge Mann obsessiv folgt: Beschreibungen von Warhol-Bildern ziehen sich durchs ganze Buch, kein Hamburger kann verzehrt werden, ohne dass er an den Film „Andy Warhol eating a hamburger“ denkt (während über seinem Kopf im TV, klar, ein Interview mit Susan Sontag läuft). Die wiederum empfängt ihn, obwohl sie an dem Tag eigentlich keine Besucher sehen will, und monologisiert dann über Ödipus und die Menendez-Brüder, die ihre Eltern brutal ermordet haben und auch ihn faszinieren. Aber es dauert dann doch noch bis fast zum Ende des Buches, bis „er denkt, dass sie kein Mensch mehr ist, sondern ein Monster, wie Willem (will heißen Jesus) und er selbst“ – da endlich ist die Identifikation vollkommen, Monster zu Monster, Erlöser zu Erlöser.
Denn Willem ist nicht nur „sein“ Doppelgänger, Willem hat ja auch 1988 in Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“ den Jesus gespielt, und wenn sie einander schon zum Verwechseln ähnlich sind, weshalb sollte dann nicht auch er ein Erlöser sein? „Es besteht kein Zweifel“, resümiert Madame Niesen gelassen, „dass er nach New York kam, weil er sich berufen fühlte. Von wem? Von der Geschichte“; von deren Regime hatte er ja auch schon die so lange zum Stillsitzen verdammten Sowjetmenschen befreit.
Erlösen wird er schließlich auch die an Aids erkrankten Zwillinge, indem er sie und ihr Haus verlässt (wobei er rasch noch entdeckt, dass er auch Andy Warhol gleicht), zur Wooster Group kehrt er ebenfalls nicht mehr zurück und taucht nachts fortan in die orgiastische Welt des Schwulen-Nachtklubs „Zone DK“ ein. Der Rest ist Raunen: eine nicht nachlassende Beschwörung der Bedeutsamkeit des jungen Mannes, voller Pathos, garniert mit einer Portion Kitsch und versehen auch mit unfreiwilliger Komik, wenn sich etwa „eine vor Bedeutung schwere Rolle Papyrus“ unversehens als Falafel entpuppt. Mag die Schauspielerin Peyton bei seinem Anblick staunend in den Ausruf „Jesus!“ ausbrechen, der Leser dürfte eher seufzen: Kokolores.
Madame Nielsen: Das Monster. Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 230 Seiten, 20 Euro.
Susan Sontag, Andy Warhol und
Willem Dafoe als Dreigestirn, dem
der junge Mann obsessiv folgt
Im Roman das Lookalike, hier das Original: Willem Dafoe und Kate Valk in einer Inszenierung der Wooster Group.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2020Perversion und Avantgarde
Wer ist das Monster? Die Schriftstellerin Madame Nielsen hat ein Buch geschrieben, das im New York der Neunziger spielt
Ich schlafe im selben Bett wie Susan Sontag", behauptet Madame Nielsen mit ihrer tiefen, diabolisch klingenden Stimme und lächelt. Denn Susan Sontag, die amerikanische Schriftstellerin und Essayistin, sei ja 1989 als DAAD-Stipendiatin nach Berlin gekommen, so wie sie, die dänische Schriftstellerin und Performancekünstlerin Madame Nielsen, jetzt, 30 Jahre später. "Sie wohnte in derselben Altbauwohnung in Charlottenburg am Stuttgarter Platz." Herausfordernd schaut sie einen aus ihren tiefliegenden Augen an und versucht gar nicht zu verbergen, wie sehr ihr diese Parallele gefällt, die mit Blick auf ihren neuen Roman "Das Monster" gar nicht wie ein Zufall erscheint, sondern wie ein Kreis, der sich schließt.
Madame Nielsens "Monster"-Roman, den sie zwei Jahre nach ihrem literarischen Debüt in Deutschland, "Der endlose Sommer", veröffentlicht, spielt im New York der neunziger Jahre. Ein junger Mann sieht 1993, noch in Europa, ein Gastspiel der Performance-Avantgardetruppe The Wooster Group und geht zu deren Leiterin und Regisseurin Elisabeth LeCompte, um sie zu fragen, ob sie nicht "einen charismatischen, jungen, europäischen Performer" gebrauchen könne. "Wen?", fragt LeComte. Beide halten kurz inne und lachen. Und ein paar Wochen später landet der junge Mann am JFK und geht Tag für Tag in die berühmte "Garage" der Wooster Group in der Wooster Street, wo die Proben und Aufführungen stattfinden.
"Die Gruppe", erzählt Madame Nielsen, "wurde in den Siebzigern gegründet und hatte in den Achtigern, Neunzigern ihre Blütezeit. Das hatte viel damit zu tun, dass sie mit der Garage einen Ort hatte, wo sich auch alle anderen sammelten: Susan Sontag, Lou Reed, John Lurie, Laurie Anderson, David Byrne, Paul Auster. Wenn Andy Warhols Factory der Ort der Kunstszene im New York der Sechziger war, dann war The Garage der Ort der Achtziger und frühen Neunziger. Sie war nicht der Broadway, den die ganze Welt kannte. Und Willem Dafoe, der zu ihren Stars gehörte, war damals auch nicht so berühmt wie heute. Aber sie war damals schon Kult."
Auf der Tribüne der Garage fällt dem jungen Schauspieler, der im Roman keinen Namen hat, eines Abends eine etwas ältere Frau auf, schwarzes Haar, markante Züge, "ernster, beinahe düster beobachtender Blick und mitten in ihrem schwarzen Haar eine leuchtend grauweiße Strähne oder Welle". Er drängt sich zur Mitte der Reihe durch, stellt sich ihr vor und sagt, dass er keines ihrer Bücher gelesen habe, keine einzige Zeile. Sie sagt, sie habe vor kurzem an einem Theater in Sarajevo Becketts "Warten auf Godot" inszeniert. Er finde, Becketts Stücke seien witzig zu lesen, mehr aber auch nicht, auf der Bühne seien sie langweilig, prätentiös und mit "ach so viel Bedeutung und Weltende befrachtet", und solange man die Texte nicht völlig zerlege - weg mit dem symbolischen Erdhaufen und raus mit den beiden Alten aus ihren Mülltonnen -, wären sie nichts als nostalgische Dystopien und würden nie über das Ende der Welt hinausreichen, wo sie möglicherweise einen gewissen Effekt haben könnten. "So, why have you come to this world?", fragt ihn Susan Sontag. "To make something happen", antwortet er.
"Das Monster", das ist im Buch schnell klar, ist kein nostalgischer Trip in eine vergangene Avantgardewelt, die hier noch mal aufleuchten und bewundert werden soll. Der Blick auf sie ist eher kühl, unbeeindruckt, fast respektlos. Die Truppe mit ihren prominenten Mitgliedern ist nicht der eigentliche Gegenstand des Romans, sie dient als Anordnung eines Experiments, das der namenlose Mann aus Europa mit sich selbst macht. Wie kann man das ideale Leben führen?, fragt er sich und setzt sich und seinen Körper unterschiedlichen Welten aus: Zunächst einmal ist das die Stadt New York mit ihrer architektonischen Struktur und mit den numerierten Straßen, durch die er seltsam unberührt hindurchgeht, nicht als Handelnder, sondern als Empfänger von Reizen, als teilnehmender Beobachter. Tagsüber ist es die Garage der Wooster Group, die sich zum Prinzip gemacht hat, in ihren Performances keine wirkliche Wiederholung zuzulassen: "Ihre Vorstellungen waren nie fertig. Es wurde jeden Tag zwei Stunden geprobt, so dass jeden Abend neue Dinge entstanden", erzählt Madame Nielsen. Und dann gibt es noch die abgründige Nachtwelt: Der Protagonist ist ohne viel Geld nach New York gekommen. Von einer Bekannten hat er eine Liste mit Nummern "gastfreundlicher Menschen", sogenannter "hosts". Er ruft eine dieser Nummern an, soll um Mitternacht kommen - und ein blondierter kleiner Mann in einem hellblauen Seidenpyjama bittet ihn herein, wenig später trägt er einen rosafarbenen Seidenpyjama, und es ist nicht ganz klar, ob es noch derselbe Mann ist. Klar ist aber, dass der junge Schauspieler in eine Art Falle geraten ist und die Gastgeber, die ihm und später auch Susan Sontag wie die Menendez-Brüder vorkommen (die in einem spektakulären Fall ihre Eltern ermordet haben), ihm sicher etwas in sein Getränk gemischt haben. Wenig später findet er sich auf einem elektrischen Stuhl wieder, dem Stuhl aus Andy Warhols Bild "Electric Chair", ihm wird ein Stromstoß versetzt. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, haben die Gastgeber schon begonnen, sich über seinen Körper herzumachen.
"Die Nachtwelt", sagt Madame Nielsen, "ist ein ritueller Ort, an dem die Ereignisse jeden Abend genau gleich ablaufen. Sie ist zugleich eine völlige Andy-Warhol-Welt. Was die Gastgeber tun, sagen, ihre Gesten - alles ist jeden Abend identisch. Der junge Mann versucht selbst auch, sich zu wiederholen. Aber er kann es nicht. Das weiß man ja auch vom Schauspiel: Man kann die gleiche Vorstellung nicht an zwei aufeinanderfolgenden Abenden geben. Sie wird immer ein bisschen anders. Die Gastgeber machen aber exakt das Gleiche. Und das ist pervers. Das ist unheimlich, dass sie das schaffen." Tag und Nacht seien auf diese Weise Gegenwelten, sie haben aber auch viele Gemeinsamkeiten: "Beides sind sehr inszenierte Leben, und irgendwie scheint ihm am Ende das Nachtleben doch radikaler durchinszeniert, ins Perverse hinein. Wenn er morgens aufsteht und zurückgeht zur Wooster Group, denkt er: Ich gehe nie mehr in diese Wohnung zurück - und um Mitternacht steht er wieder da. Er will es nicht und tut es doch."
"Und wer ist das Monster?" Madame Nielsen lächelt wieder, diesmal kokett und maliziös. "Das Buch ist an sich monströs, Willem Dafoe ist monströs, Warhol, die Gastgeber. Susan Sontag war ja auch ein ziemliches Monster. Oder ist New York das Monster? Oder der junge Mann oder vielleicht ich, Madame Nielsen?" Die Performancekünstlerin - das gehört bei ihr zum Konzept - liebt das Maskenspiel und verabscheut jede Eindeutigkeit, ob es um die ihres Geschlechts oder um den Verlauf ihres Lebens geht. In den Beschreibungen, die man über sie findet, heißt es, dass sie 1963 als Claus Beck-Nielsen in Aarhus geboren wurde, von 1984 bis 1989 Gitarrist und Sänger der dänischen Band Creme X-Treme war, in den Neunzigern nach New York ging und Mitglied der Wooster Group wurde. 2001 wurde er dann für tot erklärt. Der namenlose Mensch, der übrig blieb, führte zehn Jahre Experimente durch, um herauszufinden, was es bedeutet, ohne "Identität" zu leben. 2013 zog er ein Kleid der Mutter seines Sohnes an und beschloss, lieber eine Frau zu sein: Madame Nielsen.
Aber stimmt das alles? "Sind Sie wirklich Mitglied der Wooster Group gewesen?" - "Das steht immer in den deutschsprachigen Feuilletons. Aber in den andern Ländern nicht", sagt sie. "Es ist also ein Gerücht?" - "Das kann ich nicht beurteilen. Ich werde sicher nicht nein sagen, denn das hört sich ja super an, dass ich, als ich jung und dazu noch ein junger Mann, war, nach New York ging und mit der Wooster Group und Willem auf der Bühne spielte!" - "Möglicherweise gibt es aber Fotos von Ihnen dort?" - "Das würde mich interessieren. Ich habe gelesen, dass ich wahrscheinlich dort auf der Bühne gestanden habe, neben Dafoe."
Die Suche nach Fotos bleibt ohne Ergebnis. Der Archivar der Wooster Group, die es heute noch gibt, bestätigt, dass Claus 1993/94 dort war, als Hospitant, nicht als Mitglied, gibt sich aber sonst auch geheimnisvoll. Und schlief Susan Sontag in Berlin nicht in Wahrheit in der Mommsenstraße und Jim Jarmusch am Stuttgarter Platz? Wie viel gelebtes Leben in Madame Nielsens Literatur steckt, bleibt so auf eine aufdringliche Weise unentscheidbar. Für das Buch selbst mag es keine Rolle spielen, als Frage steht es aber immerzu im Raum: Wer ist Madame Nielsen? Wer sind wir? Und welches Leben wollen wir führen: ein streng strukturiertes; eines, das Wiederholung zu vermeiden sucht; oder eines, in dem wir - innerhalb eines Rituals - die Kontrolle über uns abgeben? "Das Monster" schickt uns in einem betörenden Spiel selbst auf die Bühne, auf den elektrischen Stuhl und ins Leben hinein.
JULIA ENCKE
Madame Nielsen: "Das Monster". Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, 230 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer ist das Monster? Die Schriftstellerin Madame Nielsen hat ein Buch geschrieben, das im New York der Neunziger spielt
Ich schlafe im selben Bett wie Susan Sontag", behauptet Madame Nielsen mit ihrer tiefen, diabolisch klingenden Stimme und lächelt. Denn Susan Sontag, die amerikanische Schriftstellerin und Essayistin, sei ja 1989 als DAAD-Stipendiatin nach Berlin gekommen, so wie sie, die dänische Schriftstellerin und Performancekünstlerin Madame Nielsen, jetzt, 30 Jahre später. "Sie wohnte in derselben Altbauwohnung in Charlottenburg am Stuttgarter Platz." Herausfordernd schaut sie einen aus ihren tiefliegenden Augen an und versucht gar nicht zu verbergen, wie sehr ihr diese Parallele gefällt, die mit Blick auf ihren neuen Roman "Das Monster" gar nicht wie ein Zufall erscheint, sondern wie ein Kreis, der sich schließt.
Madame Nielsens "Monster"-Roman, den sie zwei Jahre nach ihrem literarischen Debüt in Deutschland, "Der endlose Sommer", veröffentlicht, spielt im New York der neunziger Jahre. Ein junger Mann sieht 1993, noch in Europa, ein Gastspiel der Performance-Avantgardetruppe The Wooster Group und geht zu deren Leiterin und Regisseurin Elisabeth LeCompte, um sie zu fragen, ob sie nicht "einen charismatischen, jungen, europäischen Performer" gebrauchen könne. "Wen?", fragt LeComte. Beide halten kurz inne und lachen. Und ein paar Wochen später landet der junge Mann am JFK und geht Tag für Tag in die berühmte "Garage" der Wooster Group in der Wooster Street, wo die Proben und Aufführungen stattfinden.
"Die Gruppe", erzählt Madame Nielsen, "wurde in den Siebzigern gegründet und hatte in den Achtigern, Neunzigern ihre Blütezeit. Das hatte viel damit zu tun, dass sie mit der Garage einen Ort hatte, wo sich auch alle anderen sammelten: Susan Sontag, Lou Reed, John Lurie, Laurie Anderson, David Byrne, Paul Auster. Wenn Andy Warhols Factory der Ort der Kunstszene im New York der Sechziger war, dann war The Garage der Ort der Achtziger und frühen Neunziger. Sie war nicht der Broadway, den die ganze Welt kannte. Und Willem Dafoe, der zu ihren Stars gehörte, war damals auch nicht so berühmt wie heute. Aber sie war damals schon Kult."
Auf der Tribüne der Garage fällt dem jungen Schauspieler, der im Roman keinen Namen hat, eines Abends eine etwas ältere Frau auf, schwarzes Haar, markante Züge, "ernster, beinahe düster beobachtender Blick und mitten in ihrem schwarzen Haar eine leuchtend grauweiße Strähne oder Welle". Er drängt sich zur Mitte der Reihe durch, stellt sich ihr vor und sagt, dass er keines ihrer Bücher gelesen habe, keine einzige Zeile. Sie sagt, sie habe vor kurzem an einem Theater in Sarajevo Becketts "Warten auf Godot" inszeniert. Er finde, Becketts Stücke seien witzig zu lesen, mehr aber auch nicht, auf der Bühne seien sie langweilig, prätentiös und mit "ach so viel Bedeutung und Weltende befrachtet", und solange man die Texte nicht völlig zerlege - weg mit dem symbolischen Erdhaufen und raus mit den beiden Alten aus ihren Mülltonnen -, wären sie nichts als nostalgische Dystopien und würden nie über das Ende der Welt hinausreichen, wo sie möglicherweise einen gewissen Effekt haben könnten. "So, why have you come to this world?", fragt ihn Susan Sontag. "To make something happen", antwortet er.
"Das Monster", das ist im Buch schnell klar, ist kein nostalgischer Trip in eine vergangene Avantgardewelt, die hier noch mal aufleuchten und bewundert werden soll. Der Blick auf sie ist eher kühl, unbeeindruckt, fast respektlos. Die Truppe mit ihren prominenten Mitgliedern ist nicht der eigentliche Gegenstand des Romans, sie dient als Anordnung eines Experiments, das der namenlose Mann aus Europa mit sich selbst macht. Wie kann man das ideale Leben führen?, fragt er sich und setzt sich und seinen Körper unterschiedlichen Welten aus: Zunächst einmal ist das die Stadt New York mit ihrer architektonischen Struktur und mit den numerierten Straßen, durch die er seltsam unberührt hindurchgeht, nicht als Handelnder, sondern als Empfänger von Reizen, als teilnehmender Beobachter. Tagsüber ist es die Garage der Wooster Group, die sich zum Prinzip gemacht hat, in ihren Performances keine wirkliche Wiederholung zuzulassen: "Ihre Vorstellungen waren nie fertig. Es wurde jeden Tag zwei Stunden geprobt, so dass jeden Abend neue Dinge entstanden", erzählt Madame Nielsen. Und dann gibt es noch die abgründige Nachtwelt: Der Protagonist ist ohne viel Geld nach New York gekommen. Von einer Bekannten hat er eine Liste mit Nummern "gastfreundlicher Menschen", sogenannter "hosts". Er ruft eine dieser Nummern an, soll um Mitternacht kommen - und ein blondierter kleiner Mann in einem hellblauen Seidenpyjama bittet ihn herein, wenig später trägt er einen rosafarbenen Seidenpyjama, und es ist nicht ganz klar, ob es noch derselbe Mann ist. Klar ist aber, dass der junge Schauspieler in eine Art Falle geraten ist und die Gastgeber, die ihm und später auch Susan Sontag wie die Menendez-Brüder vorkommen (die in einem spektakulären Fall ihre Eltern ermordet haben), ihm sicher etwas in sein Getränk gemischt haben. Wenig später findet er sich auf einem elektrischen Stuhl wieder, dem Stuhl aus Andy Warhols Bild "Electric Chair", ihm wird ein Stromstoß versetzt. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, haben die Gastgeber schon begonnen, sich über seinen Körper herzumachen.
"Die Nachtwelt", sagt Madame Nielsen, "ist ein ritueller Ort, an dem die Ereignisse jeden Abend genau gleich ablaufen. Sie ist zugleich eine völlige Andy-Warhol-Welt. Was die Gastgeber tun, sagen, ihre Gesten - alles ist jeden Abend identisch. Der junge Mann versucht selbst auch, sich zu wiederholen. Aber er kann es nicht. Das weiß man ja auch vom Schauspiel: Man kann die gleiche Vorstellung nicht an zwei aufeinanderfolgenden Abenden geben. Sie wird immer ein bisschen anders. Die Gastgeber machen aber exakt das Gleiche. Und das ist pervers. Das ist unheimlich, dass sie das schaffen." Tag und Nacht seien auf diese Weise Gegenwelten, sie haben aber auch viele Gemeinsamkeiten: "Beides sind sehr inszenierte Leben, und irgendwie scheint ihm am Ende das Nachtleben doch radikaler durchinszeniert, ins Perverse hinein. Wenn er morgens aufsteht und zurückgeht zur Wooster Group, denkt er: Ich gehe nie mehr in diese Wohnung zurück - und um Mitternacht steht er wieder da. Er will es nicht und tut es doch."
"Und wer ist das Monster?" Madame Nielsen lächelt wieder, diesmal kokett und maliziös. "Das Buch ist an sich monströs, Willem Dafoe ist monströs, Warhol, die Gastgeber. Susan Sontag war ja auch ein ziemliches Monster. Oder ist New York das Monster? Oder der junge Mann oder vielleicht ich, Madame Nielsen?" Die Performancekünstlerin - das gehört bei ihr zum Konzept - liebt das Maskenspiel und verabscheut jede Eindeutigkeit, ob es um die ihres Geschlechts oder um den Verlauf ihres Lebens geht. In den Beschreibungen, die man über sie findet, heißt es, dass sie 1963 als Claus Beck-Nielsen in Aarhus geboren wurde, von 1984 bis 1989 Gitarrist und Sänger der dänischen Band Creme X-Treme war, in den Neunzigern nach New York ging und Mitglied der Wooster Group wurde. 2001 wurde er dann für tot erklärt. Der namenlose Mensch, der übrig blieb, führte zehn Jahre Experimente durch, um herauszufinden, was es bedeutet, ohne "Identität" zu leben. 2013 zog er ein Kleid der Mutter seines Sohnes an und beschloss, lieber eine Frau zu sein: Madame Nielsen.
Aber stimmt das alles? "Sind Sie wirklich Mitglied der Wooster Group gewesen?" - "Das steht immer in den deutschsprachigen Feuilletons. Aber in den andern Ländern nicht", sagt sie. "Es ist also ein Gerücht?" - "Das kann ich nicht beurteilen. Ich werde sicher nicht nein sagen, denn das hört sich ja super an, dass ich, als ich jung und dazu noch ein junger Mann, war, nach New York ging und mit der Wooster Group und Willem auf der Bühne spielte!" - "Möglicherweise gibt es aber Fotos von Ihnen dort?" - "Das würde mich interessieren. Ich habe gelesen, dass ich wahrscheinlich dort auf der Bühne gestanden habe, neben Dafoe."
Die Suche nach Fotos bleibt ohne Ergebnis. Der Archivar der Wooster Group, die es heute noch gibt, bestätigt, dass Claus 1993/94 dort war, als Hospitant, nicht als Mitglied, gibt sich aber sonst auch geheimnisvoll. Und schlief Susan Sontag in Berlin nicht in Wahrheit in der Mommsenstraße und Jim Jarmusch am Stuttgarter Platz? Wie viel gelebtes Leben in Madame Nielsens Literatur steckt, bleibt so auf eine aufdringliche Weise unentscheidbar. Für das Buch selbst mag es keine Rolle spielen, als Frage steht es aber immerzu im Raum: Wer ist Madame Nielsen? Wer sind wir? Und welches Leben wollen wir führen: ein streng strukturiertes; eines, das Wiederholung zu vermeiden sucht; oder eines, in dem wir - innerhalb eines Rituals - die Kontrolle über uns abgeben? "Das Monster" schickt uns in einem betörenden Spiel selbst auf die Bühne, auf den elektrischen Stuhl und ins Leben hinein.
JULIA ENCKE
Madame Nielsen: "Das Monster". Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, 230 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Dringlichkeit besteht immer im Roman von Madame Nielsen, vertraut uns Rezensent Christoph Schröder an. Was die den Leser fordernde zeitschleifenartige groteske Handlung im Buch schließlich aufreißt, verrät er nicht, nur, dass der Erzähler namenlos bleibt, seine Bekanntschaften und Erlebnisse in den Performancekünstlerkreisen im New York der Siebziger rätsel-, ja alptraumhaft sind. An Lynch und das Serielle bei Warhol erinnernd fordert der mit verschiedenen Realitätsebenen arbeitende Text Schröder einige Aufmerksamkeit ab, belohnt ihn aber auch mit bösen satirischen Pointen, postmodernen Diskursen und Komik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2020Ein Doppelgänger kommt groß raus
Die Performerin und Autorin Madame Nielsen erzählt in „Das Monster“ vom Selbsterfahrungstrip eines
jungen Europäers, der im New York der frühen 1990er-Jahre unversehens zum Erlöser wird
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Das ist eine lustige Idee: dass die Stadt New York in Wahrheit nichts anderes ist als das gigantische Bühnenbild einer Musical-Inszenierung, ihre Einwohner jederzeit bereit, in Gesang auszubrechen, während ein Frank-Sinatra-Lookalike auf dem roten Teppich „I want to wake up in a city that doesn’t sleep“ schmettert und die Obdachlosen „von ihrem Kulissenleben aufspringen und zu tanzen anfangen“. Der junge Mann, der sich dies im Herbst 1993 vorstellt, ist gerade eben in der Stadt angekommen, bis vor Kurzem hat er in Moskau gelebt. Da erscheint ihm New York verständlicherweise „banal“. Und ihm wird klar: „Seine Strategie hier in diesem neuen Imperium konnte nicht bloße Wiederholung dessen sein, was er in der Alten Welt getan hatte, es brauchte unbedingt etwas anderes, eine neue Art, sich zu bewegen, zu handeln und aufzutreten, aber welche?“
Das wird nicht ganz einfach sein, und lustig wird es eher auch nur nebenbei, aus Versehen. In der soeben untergegangenen Sowjetunion hat der gerade Dreißigjährige immerhin, wie er sagt, „world history“ gemacht, indem er als Rockmusiker im weit östlich gelegenen Perm den reglos in ihren Sitzen verharrenden Zuhörern von der Bühne herunter zurief: „Hello CCCP, get up and dance with us!“ Woraufhin die sich erhoben und zu tanzen begannen – was sie von nun an immer tun würden, der junge Mann hat das unverrückbar erscheinende Stillhaltegesetz der Sowjetgeschichte annulliert!
In New York will er sich auf die darstellende Kunst konzentrieren, vielleicht lässt sich ja hier, wenn schon nicht der Weltgeschichte, so doch wenigstens der eigenen Biografie eine neue Richtung geben. Zum Beispiel, weil „er“, wie der junge Mann ausschließlich genannt wird, dem Schauspieler Willem Dafoe so verdammt ähnlich sieht, sogar Paul aus der US-TV-Serie „Mad about you“ ruft in einer Bar entzückt aus: „You look like Willem Dafoe!“ Was die Barfrau wiederum „cool!“ findet, und wer weiß, wem es sonst noch so gehen wird.
Nicht wenigen und auch nicht den Geringsten, dies lässt sich nach der Lektüre von Madame Nielsens Roman „Das Monster“ rundheraus sagen. Hatte ihr erster, 2018 auf Deutsch erschienener Roman „Der endlose Sommer“ die wild bewegten Liebesgeschichten einer Gruppe unterschiedlichster Leute in einem dänischen Herrenhaus erzählt, folgt „Das Monster“ seinem namenlosen Helden nun in die New Yorker Theater- und Schwulenszene: Tagsüber setzt er sich in die Proben der weltberühmten Avantgarde-Truppe „The Wooster Group“ – die Bekanntschaft der legendären Regisseurin Elizabeth LeCompte hatte er in Europa gemacht. Nun trifft er auch auf ihren Lebensgefährten Willem Dafoe und den zehnjährigen Sohn der beiden, der ebenfalls in der „Performance Garage“ hockt und Heidegger liest.
Nachts um zwölf dann geht er in ein Haus, dessen Wände mit schwarzem und rotem Velours ausgekleidet sind. Es gehört den je in einem rosa und einem hellblauen Seidenschlafanzug auftretenden schmächtigen, mit „karikaturhaft hysterischer Frauenstimme“ durch die Sprechanlage kreischenden Zwillingen Jerry und Bruce. Abend für Abend schnallen sie ihn auf einem „Electric Chair“ fest, wie er ihn aus dem Werk Andy Warhols kennt, jagen Stromstöße durch seinen Körper und schleppen ihn dann in ein weißes Velourszimmer, wo sie ihm Sushi anbieten und ihn dann vergewaltigen, Nacht für Nacht.
Wiederholung ist also durchaus ein Thema im Leben dieses jungen Mannes, über ein Jahr folgt er beharrlich dem selbstauferlegten Geschehen. Zum Frühstück gibt es French Toast, den Bruce und Jerry ihm in der Küche zurückgelassen haben. Dann geht er zu Fuß quer durch Manhattan zur Wooster Group, und auf dem Weg dorthin spricht er jeweils einen Satz vor sich hin, den er sich aus den „Andy Warhol Diaries“ herausgepickt hat. Nach einem Tag meist stummen Verharrens auf der Tribüne der Performance Garage, wo er Willem Dafoe und den Schauspielerinnen Kate Valk und Peyton Smith dabei zuschaut, wie sie Tschechows „Drei Schwestern“ im Zwischenraum von Bühne und erster Zuschauerreihe vernuscheln, kauft er sich in der Food Garage ein übrig gebliebenes Sandwich, das er auf seinem Rückweg durch die Stadt verzehrt. Und um Schlag zwölf klingelt er wieder bei den Zwillingen.
Aber wirkliche Größe setzt sich doch durch, selbst in New York. Nicht lange, und er schlägt Liz LeCompte genau das richtige Stück für ihre nächste Inszenierung vor („Der haarige Affe“ von Eugene O’Neill) und darf irgendwann mit den Großen ihres Fachs unten an der Bühne stehen. Als er eines Tages Susan Sontag im Publikum ausmacht, geht er sie gleich frontal an: „Er stellte sich vor und sagte, er habe keines ihrer Bücher gelesen, keine einzige Zeile“, auch Becketts Theaterstücke finde er blöd – Sontag hat gerade in Sarajevo „Warten auf Godot“ inszeniert. Auf ihre Frage, was er denn in den USA wolle, antwortet er: „Nothing like this, or any kind of performance, or maybe a completely different one, more like the fall of the Soviet Union, only here.“ Was bleibt der Denkerin da anderes übrig, als zu sagen: „I would like to talk with you.“
Susan Sontag, Andy Warhol und Willem Dafoe bilden das magische Dreigestirn, dem der junge Mann obsessiv folgt: Beschreibungen von Warhol-Bildern ziehen sich durchs ganze Buch, kein Hamburger kann verzehrt werden, ohne dass er an den Film „Andy Warhol eating a hamburger“ denkt (während über seinem Kopf im TV, klar, ein Interview mit Susan Sontag läuft). Die wiederum empfängt ihn, obwohl sie an dem Tag eigentlich keine Besucher sehen will, und monologisiert dann über Ödipus und die Menendez-Brüder, die ihre Eltern brutal ermordet haben und auch ihn faszinieren. Aber es dauert dann doch noch bis fast zum Ende des Buches, bis „er denkt, dass sie kein Mensch mehr ist, sondern ein Monster, wie Willem (will heißen Jesus) und er selbst“ – da endlich ist die Identifikation vollkommen, Monster zu Monster, Erlöser zu Erlöser.
Denn Willem ist nicht nur „sein“ Doppelgänger, Willem hat ja auch 1988 in Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“ den Jesus gespielt, und wenn sie einander schon zum Verwechseln ähnlich sind, weshalb sollte dann nicht auch er ein Erlöser sein? „Es besteht kein Zweifel“, resümiert Madame Niesen gelassen, „dass er nach New York kam, weil er sich berufen fühlte. Von wem? Von der Geschichte“; von deren Regime hatte er ja auch schon die so lange zum Stillsitzen verdammten Sowjetmenschen befreit.
Erlösen wird er schließlich auch die an Aids erkrankten Zwillinge, indem er sie und ihr Haus verlässt (wobei er rasch noch entdeckt, dass er auch Andy Warhol gleicht), zur Wooster Group kehrt er ebenfalls nicht mehr zurück und taucht nachts fortan in die orgiastische Welt des Schwulen-Nachtklubs „Zone DK“ ein. Der Rest ist Raunen: eine nicht nachlassende Beschwörung der Bedeutsamkeit des jungen Mannes, voller Pathos, garniert mit einer Portion Kitsch und versehen auch mit unfreiwilliger Komik, wenn sich etwa „eine vor Bedeutung schwere Rolle Papyrus“ unversehens als Falafel entpuppt. Mag die Schauspielerin Peyton bei seinem Anblick staunend in den Ausruf „Jesus!“ ausbrechen, der Leser dürfte eher seufzen: Kokolores.
Madame Nielsen: Das Monster. Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 230 Seiten, 20 Euro.
Susan Sontag, Andy Warhol und
Willem Dafoe als Dreigestirn, dem
der junge Mann obsessiv folgt
Im Roman das Lookalike, hier das Original: Willem Dafoe und Kate Valk in einer Inszenierung der Wooster Group.
Foto: Los Angeles Times / Getty Images
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Die Performerin und Autorin Madame Nielsen erzählt in „Das Monster“ vom Selbsterfahrungstrip eines
jungen Europäers, der im New York der frühen 1990er-Jahre unversehens zum Erlöser wird
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Das ist eine lustige Idee: dass die Stadt New York in Wahrheit nichts anderes ist als das gigantische Bühnenbild einer Musical-Inszenierung, ihre Einwohner jederzeit bereit, in Gesang auszubrechen, während ein Frank-Sinatra-Lookalike auf dem roten Teppich „I want to wake up in a city that doesn’t sleep“ schmettert und die Obdachlosen „von ihrem Kulissenleben aufspringen und zu tanzen anfangen“. Der junge Mann, der sich dies im Herbst 1993 vorstellt, ist gerade eben in der Stadt angekommen, bis vor Kurzem hat er in Moskau gelebt. Da erscheint ihm New York verständlicherweise „banal“. Und ihm wird klar: „Seine Strategie hier in diesem neuen Imperium konnte nicht bloße Wiederholung dessen sein, was er in der Alten Welt getan hatte, es brauchte unbedingt etwas anderes, eine neue Art, sich zu bewegen, zu handeln und aufzutreten, aber welche?“
Das wird nicht ganz einfach sein, und lustig wird es eher auch nur nebenbei, aus Versehen. In der soeben untergegangenen Sowjetunion hat der gerade Dreißigjährige immerhin, wie er sagt, „world history“ gemacht, indem er als Rockmusiker im weit östlich gelegenen Perm den reglos in ihren Sitzen verharrenden Zuhörern von der Bühne herunter zurief: „Hello CCCP, get up and dance with us!“ Woraufhin die sich erhoben und zu tanzen begannen – was sie von nun an immer tun würden, der junge Mann hat das unverrückbar erscheinende Stillhaltegesetz der Sowjetgeschichte annulliert!
In New York will er sich auf die darstellende Kunst konzentrieren, vielleicht lässt sich ja hier, wenn schon nicht der Weltgeschichte, so doch wenigstens der eigenen Biografie eine neue Richtung geben. Zum Beispiel, weil „er“, wie der junge Mann ausschließlich genannt wird, dem Schauspieler Willem Dafoe so verdammt ähnlich sieht, sogar Paul aus der US-TV-Serie „Mad about you“ ruft in einer Bar entzückt aus: „You look like Willem Dafoe!“ Was die Barfrau wiederum „cool!“ findet, und wer weiß, wem es sonst noch so gehen wird.
Nicht wenigen und auch nicht den Geringsten, dies lässt sich nach der Lektüre von Madame Nielsens Roman „Das Monster“ rundheraus sagen. Hatte ihr erster, 2018 auf Deutsch erschienener Roman „Der endlose Sommer“ die wild bewegten Liebesgeschichten einer Gruppe unterschiedlichster Leute in einem dänischen Herrenhaus erzählt, folgt „Das Monster“ seinem namenlosen Helden nun in die New Yorker Theater- und Schwulenszene: Tagsüber setzt er sich in die Proben der weltberühmten Avantgarde-Truppe „The Wooster Group“ – die Bekanntschaft der legendären Regisseurin Elizabeth LeCompte hatte er in Europa gemacht. Nun trifft er auch auf ihren Lebensgefährten Willem Dafoe und den zehnjährigen Sohn der beiden, der ebenfalls in der „Performance Garage“ hockt und Heidegger liest.
Nachts um zwölf dann geht er in ein Haus, dessen Wände mit schwarzem und rotem Velours ausgekleidet sind. Es gehört den je in einem rosa und einem hellblauen Seidenschlafanzug auftretenden schmächtigen, mit „karikaturhaft hysterischer Frauenstimme“ durch die Sprechanlage kreischenden Zwillingen Jerry und Bruce. Abend für Abend schnallen sie ihn auf einem „Electric Chair“ fest, wie er ihn aus dem Werk Andy Warhols kennt, jagen Stromstöße durch seinen Körper und schleppen ihn dann in ein weißes Velourszimmer, wo sie ihm Sushi anbieten und ihn dann vergewaltigen, Nacht für Nacht.
Wiederholung ist also durchaus ein Thema im Leben dieses jungen Mannes, über ein Jahr folgt er beharrlich dem selbstauferlegten Geschehen. Zum Frühstück gibt es French Toast, den Bruce und Jerry ihm in der Küche zurückgelassen haben. Dann geht er zu Fuß quer durch Manhattan zur Wooster Group, und auf dem Weg dorthin spricht er jeweils einen Satz vor sich hin, den er sich aus den „Andy Warhol Diaries“ herausgepickt hat. Nach einem Tag meist stummen Verharrens auf der Tribüne der Performance Garage, wo er Willem Dafoe und den Schauspielerinnen Kate Valk und Peyton Smith dabei zuschaut, wie sie Tschechows „Drei Schwestern“ im Zwischenraum von Bühne und erster Zuschauerreihe vernuscheln, kauft er sich in der Food Garage ein übrig gebliebenes Sandwich, das er auf seinem Rückweg durch die Stadt verzehrt. Und um Schlag zwölf klingelt er wieder bei den Zwillingen.
Aber wirkliche Größe setzt sich doch durch, selbst in New York. Nicht lange, und er schlägt Liz LeCompte genau das richtige Stück für ihre nächste Inszenierung vor („Der haarige Affe“ von Eugene O’Neill) und darf irgendwann mit den Großen ihres Fachs unten an der Bühne stehen. Als er eines Tages Susan Sontag im Publikum ausmacht, geht er sie gleich frontal an: „Er stellte sich vor und sagte, er habe keines ihrer Bücher gelesen, keine einzige Zeile“, auch Becketts Theaterstücke finde er blöd – Sontag hat gerade in Sarajevo „Warten auf Godot“ inszeniert. Auf ihre Frage, was er denn in den USA wolle, antwortet er: „Nothing like this, or any kind of performance, or maybe a completely different one, more like the fall of the Soviet Union, only here.“ Was bleibt der Denkerin da anderes übrig, als zu sagen: „I would like to talk with you.“
Susan Sontag, Andy Warhol und Willem Dafoe bilden das magische Dreigestirn, dem der junge Mann obsessiv folgt: Beschreibungen von Warhol-Bildern ziehen sich durchs ganze Buch, kein Hamburger kann verzehrt werden, ohne dass er an den Film „Andy Warhol eating a hamburger“ denkt (während über seinem Kopf im TV, klar, ein Interview mit Susan Sontag läuft). Die wiederum empfängt ihn, obwohl sie an dem Tag eigentlich keine Besucher sehen will, und monologisiert dann über Ödipus und die Menendez-Brüder, die ihre Eltern brutal ermordet haben und auch ihn faszinieren. Aber es dauert dann doch noch bis fast zum Ende des Buches, bis „er denkt, dass sie kein Mensch mehr ist, sondern ein Monster, wie Willem (will heißen Jesus) und er selbst“ – da endlich ist die Identifikation vollkommen, Monster zu Monster, Erlöser zu Erlöser.
Denn Willem ist nicht nur „sein“ Doppelgänger, Willem hat ja auch 1988 in Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“ den Jesus gespielt, und wenn sie einander schon zum Verwechseln ähnlich sind, weshalb sollte dann nicht auch er ein Erlöser sein? „Es besteht kein Zweifel“, resümiert Madame Niesen gelassen, „dass er nach New York kam, weil er sich berufen fühlte. Von wem? Von der Geschichte“; von deren Regime hatte er ja auch schon die so lange zum Stillsitzen verdammten Sowjetmenschen befreit.
Erlösen wird er schließlich auch die an Aids erkrankten Zwillinge, indem er sie und ihr Haus verlässt (wobei er rasch noch entdeckt, dass er auch Andy Warhol gleicht), zur Wooster Group kehrt er ebenfalls nicht mehr zurück und taucht nachts fortan in die orgiastische Welt des Schwulen-Nachtklubs „Zone DK“ ein. Der Rest ist Raunen: eine nicht nachlassende Beschwörung der Bedeutsamkeit des jungen Mannes, voller Pathos, garniert mit einer Portion Kitsch und versehen auch mit unfreiwilliger Komik, wenn sich etwa „eine vor Bedeutung schwere Rolle Papyrus“ unversehens als Falafel entpuppt. Mag die Schauspielerin Peyton bei seinem Anblick staunend in den Ausruf „Jesus!“ ausbrechen, der Leser dürfte eher seufzen: Kokolores.
Madame Nielsen: Das Monster. Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 230 Seiten, 20 Euro.
Susan Sontag, Andy Warhol und
Willem Dafoe als Dreigestirn, dem
der junge Mann obsessiv folgt
Im Roman das Lookalike, hier das Original: Willem Dafoe und Kate Valk in einer Inszenierung der Wooster Group.
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