Bartholomäus ist ein Waisenjunge aus Bombay, mindestens zwölf Jahre alt und er spricht fast ebenso viele Sprachen. Daher engagieren ihn die deutschen Brüder Schlagintweit, die 1854 mit Unterstützung Humboldts zur größten Forschungsexpedition ihrer Zeit aufbrechen, als Übersetzer für ihre Reise durch Indien und den Himalaya. Bartholomäus folgt ihnen fasziniert, aber misstrauisch: Warum vermessen ausgerechnet drei Deutsche das Land, sammeln unzählige Objekte, wagen sich ins unbekannte Hochgebirge, riskieren ihr Leben? Es ist doch seine Heimat - und er will der Mann werden, der das erste Museum Indiens gründet.
'Das Museum der Welt' von Christopher Kloeble ist ein schillernder Abenteuerroman. Thomas Neubacher-Riens Frankfurter Neue Presse 20201019
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2020Weltaneignung in Klein
Eine humoristische Verkehrung von Cultural Appropriation? Christopher Kloeble beschreibt die Fremderforschung Indiens aus der Sicht eines indischen Jungen.
Indien, um 1854. Große Teile des Subkontinents fallen in den Herrschaftsbereich der East India Company, die regen Handel mit Tee, Gewürzen und Opium betreibt. Es ist die Zeit der "Doctrine of Lapse", einer vom britischen Parlament legitimierten Annexionspolitik, die die Kompanie dazu befähigt, jeden indischen Staat, dessen Herrscher mangels Erben ein Nachfolgeproblem hat oder der sich als "inkompetent" erweist, zu übernehmen.
Im Windschatten der Fremdherrschaft erblüht die Neugier der europäischen Wissenschaften auf den Vielvölkerstaat. Unzählige britische und auch unter preußischer Flagge stehende Expeditionen, Forschungsreisende mit geologischem, botanischem oder "rassenkundlichem" Interesse ziehen los, um den Kontinent zu vermessen. Viele werden nicht zurückkehren. Diejenigen, denen es gelingt, bringen Landkarten, Schädel und Mineralien zurück nach Hause. Ihre Erkundungen schaffen Wissen für das Empire und damit Macht für imperiale Eroberungen.
Unter den Forschungsreisenden sind auch die bayerischen Brüder Schlagintweit, deren historischer Expedition sich Christopher Kloebles Roman "Das Museum der Welt" annimmt. Hermann, Adolph und Robert sind schon in jungen Jahren profilierte Wissenschaftler. Auf Empfehlung Alexander von Humboldts erteilt ihnen die East India Company den Auftrag zur Kartierung entlegener Regionen Indiens, die Kosten trägt der preußische König. Nur zwei der Brüder kehren drei Jahre später nach Berlin zurück, im Gepäck Tausende von Karten und Aquarellen sowie Gipsabdrücke von Gesichtern, die dem Ziel dienen, eine Taxonomie der indischen Ethnien aufzustellen.
Kloeble ist ein ausgezeichnet informierter Autor. Für seinen Roman hat er die Schriften der Schlagintweits und die Humboldts studiert und sich ausführlich mit Flora und Fauna Indiens beschäftigt. Dabei ist ihm wohl zugutegekommen, dass er, wie er häufig in Interviews zu Protokoll gibt, die Hälfte des Jahres in Neu-Delhi lebt. Auch für die Erzählperspektive hat er sich, nicht unbedingt zum Vorteil seiner Leser, Besonderes überlegt. "Es gibt genug Bücher, in denen aus Sicht eines westlichen Mannes beschrieben wird, wie er das Fremde erlebt", sagt Kloeble in einem Interview über den Roman. Deswegen hat er den Spieß umgedreht und die Expedition aus Sicht eines indischen Jungen erzählt.
Bartholomäus ist "mindestens zwölf Jahre alt", wie es im Buch heißt, und ein genialer Übersetzer genauso vieler Sprachen. Seinen unwahrscheinlichen Namen, die Eloquenz und wohl auch die manierierte Altklugheit hat er von einem opiumabhängigen bayerischen Jesuitenpater, der ihn in einem Bombayer Waisenhaus zum Medium für die westliche Welt erzieht. Der Jesuit ist Bartholomäus gewogen, unterrichtet ihn in Deutsch, Farsi, Englisch, Hindi, Gujarati und anderen Sprachen und erzählt von Kant, Schlegel und Schiller. Was der Geistliche weiß, aber vor dem Jungen geheim hält: Bartholomäus hat einen preußischen Vater, der als Soldat an der Seite der Briten gegen den indischen Widerstand kämpfte. Danach verließ er das Land und seine indische Frau, die den Jungen den Jesuiten übergab. Bartholomäus ist also ein "Indo-Europäer", wie es im Buch heißt, und dass er vielleicht nur deshalb aus der Menge der namenlosen Waisen, die "die Anderen" genannt werden, herausgepickt wurde, hinterlässt einen faden Beigeschmack, ist aber eine der unterschwelligen Botschaften des Buches: Eigenes bleibt uns stets das Nächste.
Bartholomäus, der brillante Übersetzer, wird von den Schlagintweits zur Unterstützung ihrer Expedition angeheuert. Er reist mit ihnen kreuz und quer über den Kontinent, von Bombay über Pune nach Kalkutta und schließlich nach Nordindien und Nepal. Für die Brüder macht er sich unentbehrlich, weil er nicht nur, wie er sagt, die Sprachen, sondern auch das Land übersetzt. Nebenbei füllt er in elaboriertem Deutsch ein Notizbuch mit eigenen Beobachtungen. Er hat das Ziel, Indiens erstes Museum der Objekte zu gründen, was die fiktive Strukturparallele zu dem unermüdlichen Erfassungsdrang der Wissenschaftler darstellt. Hier beginnen die sprachlichen und inhaltlichen Manierismen, die die über fünfhundert Seiten des Romans in eine zähe Lektüre verwandeln.
Wenn etwa Bartholomäus unwahrscheinliche Scheindialoge mit einem indischen Widerstandskämpfer über die Neutralität von Wissenschaft führt und darauf besteht, Humboldt sei "der größte Wissenschaftler unserer Zeit" und so zu achten wie "Mangos im perfekten Reifezustand". Ohnehin führt seine eifrige Begeisterung für den Westen zu einigen altersungemäßen Betrachtungen. Er sinniert über den schönen Klang des Wortes "Freundschaft". "Auf Deutsch hat mir dieses Wort immer am besten geschmeckt, besser noch als auf Hindi oder Marathi", und später: "Ist Schadenfreude nicht eines der besten deutschen Worte? Sie macht mein Herz groß." Wären dieser Stilblüten nicht so viele, könnte man von einer humoristischen Verkehrung kultureller Aneignung sprechen. Unfreiwillig heiter wird es da, wo Bartholomäus sich selbst als der größte unter den Kolonialherren erweist. Einmal stellt er fest, die geschätzte eifrige Köchin habe die Küche so rasch unter ihre Kontrolle gebracht wie die Briten ein indisches Königreich. Ein anderes Beispiel: die Freude des Jungen darüber, dass die Brüder Schlagintweit in ihrem wissenschaftlichen Weltaneignungsgestus alles benennen, was ihnen den Weg kreuzt. Bartholomäus lernt "Gelbnackenspecht", "Schwarznarbenkröte" oder "Kletternatter" und bilanziert stolz: "Mein Wortschatz wächst täglich." Hatten diese Tiere nicht schon eine Bezeichnung in einer der indischen Sprachen, derer er auch mächtig ist?
Doch Bartholomäus hat viele Seelen in seiner Brust. Neben der Fetischisierung westeuropäischer Hochkultur wird er nämlich geplagt von einem angeborenen Widerspruchsgeist gegen das, was die Brüder als Zivilisation verstehen, die "in der weißen Rasse am kräftigsten" blühe. So fragt er sich, was an einem breit aufgestellten Schienennetz zur Fortbewegung nach europäischem Vorbild wohl attraktiv sei. Schließlich würde dadurch das Leben durch die Schienen so festgelegt "wie von den Konstellationen der Sterne". Oder wenn er das Reisen in der Sänfte ablehnt und lieber zu Fuß geht, um "in Berührung mit Indien" zu bleiben. Dieser artifizielle Primitivismus klingt im Roman häufig an. Die Imago des friedlichen Exoten erinnert an den Disney-Kassenschlager "Pocahontas", in dem die britischen Kolonisatoren von der schönen Häuptlingstochter singend gebeten werden, das nordamerikanische "Farbenspiel des Winds" zu achten.
Literarische Fiktion kann jede Perspektive einnehmen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass jeder, der Talent hat, auch jede Perspektive erfinden kann. Was das angeht, hat Christopher Kloeble sich mit der Schilderung einer europäischen Forschungsreise in Kolonialzeiten aus der Sicht eines indischen Jungen eine schwierige Aufgabe vorgenommen. Wenn es das erklärte Anliegen des Autors ist, "all jenen eine Stimme" zu geben, "die damals auch dabei waren, und die bisher nie gehört wurden", dann scheitert er an seinem Anspruch. Denn sein Ausnahmeprotagonist steht eben nicht für die Ungehörten, sondern dient als geschwätzige Echokammer all jener Kolonialphantasmen, die der Roman vorgibt auf Distanz zu bringen. So weit von sich selbst entfernt wie Bartholomäus können nur schlecht ausgedachte Subalterne sprechen.
MIRYAM SCHELLBACH
Christopher Kloeble:
"Das Museum der Welt".
Roman.
dtv, München 2020. 528 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine humoristische Verkehrung von Cultural Appropriation? Christopher Kloeble beschreibt die Fremderforschung Indiens aus der Sicht eines indischen Jungen.
Indien, um 1854. Große Teile des Subkontinents fallen in den Herrschaftsbereich der East India Company, die regen Handel mit Tee, Gewürzen und Opium betreibt. Es ist die Zeit der "Doctrine of Lapse", einer vom britischen Parlament legitimierten Annexionspolitik, die die Kompanie dazu befähigt, jeden indischen Staat, dessen Herrscher mangels Erben ein Nachfolgeproblem hat oder der sich als "inkompetent" erweist, zu übernehmen.
Im Windschatten der Fremdherrschaft erblüht die Neugier der europäischen Wissenschaften auf den Vielvölkerstaat. Unzählige britische und auch unter preußischer Flagge stehende Expeditionen, Forschungsreisende mit geologischem, botanischem oder "rassenkundlichem" Interesse ziehen los, um den Kontinent zu vermessen. Viele werden nicht zurückkehren. Diejenigen, denen es gelingt, bringen Landkarten, Schädel und Mineralien zurück nach Hause. Ihre Erkundungen schaffen Wissen für das Empire und damit Macht für imperiale Eroberungen.
Unter den Forschungsreisenden sind auch die bayerischen Brüder Schlagintweit, deren historischer Expedition sich Christopher Kloebles Roman "Das Museum der Welt" annimmt. Hermann, Adolph und Robert sind schon in jungen Jahren profilierte Wissenschaftler. Auf Empfehlung Alexander von Humboldts erteilt ihnen die East India Company den Auftrag zur Kartierung entlegener Regionen Indiens, die Kosten trägt der preußische König. Nur zwei der Brüder kehren drei Jahre später nach Berlin zurück, im Gepäck Tausende von Karten und Aquarellen sowie Gipsabdrücke von Gesichtern, die dem Ziel dienen, eine Taxonomie der indischen Ethnien aufzustellen.
Kloeble ist ein ausgezeichnet informierter Autor. Für seinen Roman hat er die Schriften der Schlagintweits und die Humboldts studiert und sich ausführlich mit Flora und Fauna Indiens beschäftigt. Dabei ist ihm wohl zugutegekommen, dass er, wie er häufig in Interviews zu Protokoll gibt, die Hälfte des Jahres in Neu-Delhi lebt. Auch für die Erzählperspektive hat er sich, nicht unbedingt zum Vorteil seiner Leser, Besonderes überlegt. "Es gibt genug Bücher, in denen aus Sicht eines westlichen Mannes beschrieben wird, wie er das Fremde erlebt", sagt Kloeble in einem Interview über den Roman. Deswegen hat er den Spieß umgedreht und die Expedition aus Sicht eines indischen Jungen erzählt.
Bartholomäus ist "mindestens zwölf Jahre alt", wie es im Buch heißt, und ein genialer Übersetzer genauso vieler Sprachen. Seinen unwahrscheinlichen Namen, die Eloquenz und wohl auch die manierierte Altklugheit hat er von einem opiumabhängigen bayerischen Jesuitenpater, der ihn in einem Bombayer Waisenhaus zum Medium für die westliche Welt erzieht. Der Jesuit ist Bartholomäus gewogen, unterrichtet ihn in Deutsch, Farsi, Englisch, Hindi, Gujarati und anderen Sprachen und erzählt von Kant, Schlegel und Schiller. Was der Geistliche weiß, aber vor dem Jungen geheim hält: Bartholomäus hat einen preußischen Vater, der als Soldat an der Seite der Briten gegen den indischen Widerstand kämpfte. Danach verließ er das Land und seine indische Frau, die den Jungen den Jesuiten übergab. Bartholomäus ist also ein "Indo-Europäer", wie es im Buch heißt, und dass er vielleicht nur deshalb aus der Menge der namenlosen Waisen, die "die Anderen" genannt werden, herausgepickt wurde, hinterlässt einen faden Beigeschmack, ist aber eine der unterschwelligen Botschaften des Buches: Eigenes bleibt uns stets das Nächste.
Bartholomäus, der brillante Übersetzer, wird von den Schlagintweits zur Unterstützung ihrer Expedition angeheuert. Er reist mit ihnen kreuz und quer über den Kontinent, von Bombay über Pune nach Kalkutta und schließlich nach Nordindien und Nepal. Für die Brüder macht er sich unentbehrlich, weil er nicht nur, wie er sagt, die Sprachen, sondern auch das Land übersetzt. Nebenbei füllt er in elaboriertem Deutsch ein Notizbuch mit eigenen Beobachtungen. Er hat das Ziel, Indiens erstes Museum der Objekte zu gründen, was die fiktive Strukturparallele zu dem unermüdlichen Erfassungsdrang der Wissenschaftler darstellt. Hier beginnen die sprachlichen und inhaltlichen Manierismen, die die über fünfhundert Seiten des Romans in eine zähe Lektüre verwandeln.
Wenn etwa Bartholomäus unwahrscheinliche Scheindialoge mit einem indischen Widerstandskämpfer über die Neutralität von Wissenschaft führt und darauf besteht, Humboldt sei "der größte Wissenschaftler unserer Zeit" und so zu achten wie "Mangos im perfekten Reifezustand". Ohnehin führt seine eifrige Begeisterung für den Westen zu einigen altersungemäßen Betrachtungen. Er sinniert über den schönen Klang des Wortes "Freundschaft". "Auf Deutsch hat mir dieses Wort immer am besten geschmeckt, besser noch als auf Hindi oder Marathi", und später: "Ist Schadenfreude nicht eines der besten deutschen Worte? Sie macht mein Herz groß." Wären dieser Stilblüten nicht so viele, könnte man von einer humoristischen Verkehrung kultureller Aneignung sprechen. Unfreiwillig heiter wird es da, wo Bartholomäus sich selbst als der größte unter den Kolonialherren erweist. Einmal stellt er fest, die geschätzte eifrige Köchin habe die Küche so rasch unter ihre Kontrolle gebracht wie die Briten ein indisches Königreich. Ein anderes Beispiel: die Freude des Jungen darüber, dass die Brüder Schlagintweit in ihrem wissenschaftlichen Weltaneignungsgestus alles benennen, was ihnen den Weg kreuzt. Bartholomäus lernt "Gelbnackenspecht", "Schwarznarbenkröte" oder "Kletternatter" und bilanziert stolz: "Mein Wortschatz wächst täglich." Hatten diese Tiere nicht schon eine Bezeichnung in einer der indischen Sprachen, derer er auch mächtig ist?
Doch Bartholomäus hat viele Seelen in seiner Brust. Neben der Fetischisierung westeuropäischer Hochkultur wird er nämlich geplagt von einem angeborenen Widerspruchsgeist gegen das, was die Brüder als Zivilisation verstehen, die "in der weißen Rasse am kräftigsten" blühe. So fragt er sich, was an einem breit aufgestellten Schienennetz zur Fortbewegung nach europäischem Vorbild wohl attraktiv sei. Schließlich würde dadurch das Leben durch die Schienen so festgelegt "wie von den Konstellationen der Sterne". Oder wenn er das Reisen in der Sänfte ablehnt und lieber zu Fuß geht, um "in Berührung mit Indien" zu bleiben. Dieser artifizielle Primitivismus klingt im Roman häufig an. Die Imago des friedlichen Exoten erinnert an den Disney-Kassenschlager "Pocahontas", in dem die britischen Kolonisatoren von der schönen Häuptlingstochter singend gebeten werden, das nordamerikanische "Farbenspiel des Winds" zu achten.
Literarische Fiktion kann jede Perspektive einnehmen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass jeder, der Talent hat, auch jede Perspektive erfinden kann. Was das angeht, hat Christopher Kloeble sich mit der Schilderung einer europäischen Forschungsreise in Kolonialzeiten aus der Sicht eines indischen Jungen eine schwierige Aufgabe vorgenommen. Wenn es das erklärte Anliegen des Autors ist, "all jenen eine Stimme" zu geben, "die damals auch dabei waren, und die bisher nie gehört wurden", dann scheitert er an seinem Anspruch. Denn sein Ausnahmeprotagonist steht eben nicht für die Ungehörten, sondern dient als geschwätzige Echokammer all jener Kolonialphantasmen, die der Roman vorgibt auf Distanz zu bringen. So weit von sich selbst entfernt wie Bartholomäus können nur schlecht ausgedachte Subalterne sprechen.
MIRYAM SCHELLBACH
Christopher Kloeble:
"Das Museum der Welt".
Roman.
dtv, München 2020. 528 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.05.2020Holistische Herausforderungen
Christopher Kloebles Kolonialismus-Roman „Das Museum der Welt“ stimmt vorne und hinten nicht
Im Herbst 1854 brachen die Brüder Schlagintweit zu einer Expedition nach Indien auf: drei junge Männer aus München, die gleichwohl schon einige Erfahrung als Alpinisten wie als Botaniker und Gletscherkundler erworben hatten. In den folgenden knapp drei Jahren erkundeten sie, im Auftrag der Britischen Ostindien-Kompanie wie des preußischen Königs, große Teile des Subkontinents, wobei sie sich vor allem auf den äußersten Norden und die Grenzgebiete zu Nepal, Bhutan und China konzentrierten.
Ihre Forschungen galten dem Erdmagnetismus und der Flora, sie vermaßen das Land, sie fotografierten die Bevölkerung und betrieben eine Typologie der Rassen. Zwei von ihnen kehrten mitsamt umfangreichen Aufzeichnungen, Funden und Artefakten nach Deutschland zurück, im eigenen Land bald hochgeehrt, in Großbritannien eher umstritten. Der dritte Bruder, Adolph, wurde im August 1857 in der uigurischen Stadt Kaschgar als mutmaßlicher chinesischer Spion enthauptet.
Wie gut die Expedition der Brüder Schlagintweit dokumentiert ist, zeigte zuletzt eine Ausstellung des Deutschen Alpenvereins im Jahr 2016 im Alpinen Museum München. Aus diesem Material schöpfte der Schriftsteller Christopher Kloeble, in Berlin und Delhi zu Hause, den Stoff zu einem Roman, der mit dem Prinzip der Ausstellung zumindest spielt. „Das Museum der Welt“ heißt dieses Buch, wobei mit dem Wort Museum nicht nur die Sammlungen gemeint sind, die von den Brüdern nach Europa geschafft wurden. Ein Museum hat auch der Held der Geschichte im Sinn, der zu Beginn etwa zwölfjährige Bartholomäus, der die Brüder Schlagintweit auf ihren Reisen durch Indien begleitet, als Fackelträger, als Kalfaktor, als nur bedingt zuverlässiger Dolmetscher und Vertrauter sowie, wie sich nach einiger Zeit erweist, auch als Agent einer indischen Unabhängigkeitsbewegung. „Museum“ nennt dieser Heranwachsende ein Notizbuch, in dem er seine Geschichte der Expedition festhält, gegliedert nach nummerierten „bemerkenswerten Objekten“, die jeweils zum Anlass einer Fortschreibung der Geschichte werden.
Der Einfall ist vertraut. Zuerst war er vermutlich Giulio Camillo gekommen, einem venezianischen Gelehrten, der um das Jahr 1550 eine Schrift mit dem Titel „L’idea del Teatro“ verfasste, ein „Gedächtnistheater“, in dem das Weltwissen aufgehoben sein sollte. Orhan Pamuk reduzierte den Einfall in seinem Roman „Das Museum der Unschuld“ (2008) auf das Maß eines Menschenlebens. Der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor benutzte das Konzept für sein Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ (2010), in dem er die Idee des Museums mit dem Prinzip eines Kaleidoskops verknüpfte.
Ein Verfahren ist dabei allen diesen Versuchen gemein: Ein Museum ist ein Raum, was auch bedeutet, dass man darin sehr viele und sehr verschiedene Dinge gleichzeitig unterbringen kann. Und nicht nur unterbringen, sondern auch: ordnen, verknüpfen, entfalten, unter Umständen sogar in einer Intensität und Vielfalt, die den Gedanken an eine Wiederholung der Welt entstehen lassen. Eine Schrift aber lässt sich nur in zeitlicher Folge wahrnehmen, Wort nach Wort, Satz nach Satz, Kapitel nach Kapitel. Ein Museum in Schriftform ist daher nur durch Reduktion zu gewinnen, durch Fragmentarisierung und Verkürzung. Und das bedeutet auch: in einer Art Komplizenschaft zwischen Autor und Leser, in dem Letzterer aus eigenem Wissen und Denken hinzufügt, was Ersterer ihm verschweigen muss.
Christopher Kloeble ist kein Debütant. „Das Museum der Welt“ ist sein vierter Roman. Eine Vorstellung davon, dass es so etwas wie eine Ökonomie des Schreibens gibt, scheint ihm allerdings fremd geblieben zu sein. Stattdessen stattet er seinen schmächtigen Helden und Ich-Erzähler mit genialischen Fähigkeiten aus: Er beherrscht mindestens so viele Sprachen, wie er Jahre zählt. Er ist ein Menschenkenner, ein Meister der Verstellung und ein Souverän der Weltweisheit. In einem fort bringt er Sentenzen der erschütternden Art hervor: „Jede Familie zerbricht irgendwann“, „Jeder ist anders einsam“ oder „Jedes Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung verändert sich, wenn es betrachtet wird“. Aber es geht noch übler: „Unentschlossenheit ist eines der schwersten Objekte der Welt und ich muss sie die ganze Zeit tragen.“ Kopf hoch, möchte man da in dieses Selbstfindungsseminar rufen, auch sich selbst zum Trost, das Buch ist doch bald zu Ende.
Hinzu kommt ein beträchtliches Maß an nicht nur ungeschickten, sondern auch falschen Formulierungen. Über Alexander von Humboldt behauptet der Erzähler, dieser habe vermutet, „dass vor allem in den Gebirgsregionen außergewöhnliche wissenschaftliche Erkenntnisse auf ihre Entdeckung warten“ – als hätte sich Humboldt der akademischen Antragsprosa des 21. Jahrhunderts befleißigt. Seinem Herrn empfiehlt der Zwölfjährige an einer Stelle, „ein Fenster in die Zukunft zu malen“. Ferner benutzt er, ein indischer Knabe um die Mitte des 19. Jahrhunderts, das Wort holistisch. Er kann scheinbar und anscheinend nicht auseinanderhalten: „Scheinbar kann er es kaum erwarten, sich dieser Herausforderung zu stellen.“ Herausforderung! Nach englisch challenge (spätes 20. Jahrhundert). Und als wäre das alles nicht schlimm genug, soll dieses Buch ein Abenteuerroman, ein historisches Reisebuch, ein Entwicklungsroman und ein antikolonialistisches Manifest zugleich sein. Und wenn man einen Überseekoffer nähme, und wenn man zwölf Elefanten und einen Papagei zugleich daraufsetzte: Man bekäme das Ding nicht geschlossen.
THOMAS STEINFELD
Christopher Kloeble: Das Museum der Welt. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2020. 528 Seiten, 24 Euro.
Selbst wenn man zwölf Elefanten
zugleich draufsetzte: Man bekäme
das Ding nicht geschlossen
Land- und Schädelvermesser im Auftrag der Ostindien-Kompanie, von links nach rechts:Robert, Hermann und Adolph Schlagintweit.
Foto: Coll.Jaime Abecasis
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christopher Kloebles Kolonialismus-Roman „Das Museum der Welt“ stimmt vorne und hinten nicht
Im Herbst 1854 brachen die Brüder Schlagintweit zu einer Expedition nach Indien auf: drei junge Männer aus München, die gleichwohl schon einige Erfahrung als Alpinisten wie als Botaniker und Gletscherkundler erworben hatten. In den folgenden knapp drei Jahren erkundeten sie, im Auftrag der Britischen Ostindien-Kompanie wie des preußischen Königs, große Teile des Subkontinents, wobei sie sich vor allem auf den äußersten Norden und die Grenzgebiete zu Nepal, Bhutan und China konzentrierten.
Ihre Forschungen galten dem Erdmagnetismus und der Flora, sie vermaßen das Land, sie fotografierten die Bevölkerung und betrieben eine Typologie der Rassen. Zwei von ihnen kehrten mitsamt umfangreichen Aufzeichnungen, Funden und Artefakten nach Deutschland zurück, im eigenen Land bald hochgeehrt, in Großbritannien eher umstritten. Der dritte Bruder, Adolph, wurde im August 1857 in der uigurischen Stadt Kaschgar als mutmaßlicher chinesischer Spion enthauptet.
Wie gut die Expedition der Brüder Schlagintweit dokumentiert ist, zeigte zuletzt eine Ausstellung des Deutschen Alpenvereins im Jahr 2016 im Alpinen Museum München. Aus diesem Material schöpfte der Schriftsteller Christopher Kloeble, in Berlin und Delhi zu Hause, den Stoff zu einem Roman, der mit dem Prinzip der Ausstellung zumindest spielt. „Das Museum der Welt“ heißt dieses Buch, wobei mit dem Wort Museum nicht nur die Sammlungen gemeint sind, die von den Brüdern nach Europa geschafft wurden. Ein Museum hat auch der Held der Geschichte im Sinn, der zu Beginn etwa zwölfjährige Bartholomäus, der die Brüder Schlagintweit auf ihren Reisen durch Indien begleitet, als Fackelträger, als Kalfaktor, als nur bedingt zuverlässiger Dolmetscher und Vertrauter sowie, wie sich nach einiger Zeit erweist, auch als Agent einer indischen Unabhängigkeitsbewegung. „Museum“ nennt dieser Heranwachsende ein Notizbuch, in dem er seine Geschichte der Expedition festhält, gegliedert nach nummerierten „bemerkenswerten Objekten“, die jeweils zum Anlass einer Fortschreibung der Geschichte werden.
Der Einfall ist vertraut. Zuerst war er vermutlich Giulio Camillo gekommen, einem venezianischen Gelehrten, der um das Jahr 1550 eine Schrift mit dem Titel „L’idea del Teatro“ verfasste, ein „Gedächtnistheater“, in dem das Weltwissen aufgehoben sein sollte. Orhan Pamuk reduzierte den Einfall in seinem Roman „Das Museum der Unschuld“ (2008) auf das Maß eines Menschenlebens. Der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor benutzte das Konzept für sein Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ (2010), in dem er die Idee des Museums mit dem Prinzip eines Kaleidoskops verknüpfte.
Ein Verfahren ist dabei allen diesen Versuchen gemein: Ein Museum ist ein Raum, was auch bedeutet, dass man darin sehr viele und sehr verschiedene Dinge gleichzeitig unterbringen kann. Und nicht nur unterbringen, sondern auch: ordnen, verknüpfen, entfalten, unter Umständen sogar in einer Intensität und Vielfalt, die den Gedanken an eine Wiederholung der Welt entstehen lassen. Eine Schrift aber lässt sich nur in zeitlicher Folge wahrnehmen, Wort nach Wort, Satz nach Satz, Kapitel nach Kapitel. Ein Museum in Schriftform ist daher nur durch Reduktion zu gewinnen, durch Fragmentarisierung und Verkürzung. Und das bedeutet auch: in einer Art Komplizenschaft zwischen Autor und Leser, in dem Letzterer aus eigenem Wissen und Denken hinzufügt, was Ersterer ihm verschweigen muss.
Christopher Kloeble ist kein Debütant. „Das Museum der Welt“ ist sein vierter Roman. Eine Vorstellung davon, dass es so etwas wie eine Ökonomie des Schreibens gibt, scheint ihm allerdings fremd geblieben zu sein. Stattdessen stattet er seinen schmächtigen Helden und Ich-Erzähler mit genialischen Fähigkeiten aus: Er beherrscht mindestens so viele Sprachen, wie er Jahre zählt. Er ist ein Menschenkenner, ein Meister der Verstellung und ein Souverän der Weltweisheit. In einem fort bringt er Sentenzen der erschütternden Art hervor: „Jede Familie zerbricht irgendwann“, „Jeder ist anders einsam“ oder „Jedes Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung verändert sich, wenn es betrachtet wird“. Aber es geht noch übler: „Unentschlossenheit ist eines der schwersten Objekte der Welt und ich muss sie die ganze Zeit tragen.“ Kopf hoch, möchte man da in dieses Selbstfindungsseminar rufen, auch sich selbst zum Trost, das Buch ist doch bald zu Ende.
Hinzu kommt ein beträchtliches Maß an nicht nur ungeschickten, sondern auch falschen Formulierungen. Über Alexander von Humboldt behauptet der Erzähler, dieser habe vermutet, „dass vor allem in den Gebirgsregionen außergewöhnliche wissenschaftliche Erkenntnisse auf ihre Entdeckung warten“ – als hätte sich Humboldt der akademischen Antragsprosa des 21. Jahrhunderts befleißigt. Seinem Herrn empfiehlt der Zwölfjährige an einer Stelle, „ein Fenster in die Zukunft zu malen“. Ferner benutzt er, ein indischer Knabe um die Mitte des 19. Jahrhunderts, das Wort holistisch. Er kann scheinbar und anscheinend nicht auseinanderhalten: „Scheinbar kann er es kaum erwarten, sich dieser Herausforderung zu stellen.“ Herausforderung! Nach englisch challenge (spätes 20. Jahrhundert). Und als wäre das alles nicht schlimm genug, soll dieses Buch ein Abenteuerroman, ein historisches Reisebuch, ein Entwicklungsroman und ein antikolonialistisches Manifest zugleich sein. Und wenn man einen Überseekoffer nähme, und wenn man zwölf Elefanten und einen Papagei zugleich daraufsetzte: Man bekäme das Ding nicht geschlossen.
THOMAS STEINFELD
Christopher Kloeble: Das Museum der Welt. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2020. 528 Seiten, 24 Euro.
Selbst wenn man zwölf Elefanten
zugleich draufsetzte: Man bekäme
das Ding nicht geschlossen
Land- und Schädelvermesser im Auftrag der Ostindien-Kompanie, von links nach rechts:Robert, Hermann und Adolph Schlagintweit.
Foto: Coll.Jaime Abecasis
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»Mit sprühendem Witz und auf so herzzerreißende wie tiefgründige Weise erkundet 'Das Museum der Welt' die Ambivalenz menschlicher Beziehungen in der Kolonialzeit.« Francesca Melandri