Es ist der Urkriminalroman - der allererste Kriminalroman der Literaturgeschichte: einzigartig in seiner Form und überraschend in seiner Modernität, den Leser mit der Lektüre der Ermittlungsdossiers an der Lösung des Rätsels zu beteiligen. In einer Zeit, in der sich das Genre des Krimis etwa bei Edgar Allan Poe gerade erfand, wagte sich 1862 ein anonymer Autor auf unbekanntes Terrain: erstmalig stand das Aufrollen der Vorgeschichte eines Mordes im Mittelpunkt eines Romans. Der Ermittler Mr. Henderson, beauftragt von der Life Insurance Association, soll herausfinden, ob Baron R__, ein begabter Chemiker, seine Frau vergiftet hat - sie starb an einem Becher Säure. Ihre fünffache Lebensversicherung erhärtet den Mordverdacht. Das zusammengestellte Akten-Mosaik besteht aus Krankenhausberichten, Zeugenaussagen, Heiratsurkunden, Tagebuchauszügen sowie Briefen und beleuchtet quer durch alle Schichten das viktorianische Zeitalter. Die nüchterne Aktenform steht im spannungsreichen Kontrast zum mysteriösen Geschehen: Kinder werden von Zigeunern gestohlen, ein letzter Wille verspricht Reichtum, der Verdächtige hat verdächtig grüne Augen, fragwürdige Heilmethoden bestimmen den Handlungsverlauf, statt einem Mord gab es gleich drei ... Obwohl die Akten die Schuld des Barons nahelegen, scheint es, als habe dieser das perfekte Verbrechen begangen. Virtuos verstößt der erste Kriminalroman gegen die goldene Regel des Genres: Kein Rätsel ohne Aufklärung. »Meine Aufgabe ist erledigt. Im Besitz aller Indizien, die vor ihnen ausgebreitet sind, wird ihr Urteil darüber so gut sein wie meins.« Charles Warren Adams (1833-1903) war der Erfinder des Kriminalromans »Das Mysterium von Notting Hill«, der erstmalig anonym 1862 als achtteiliger Fortsetzungsroman in der Zeitschrift »Once a Week« und 1865 als Buch unter dem Pseudonym Charles Felix erschienen war. Erst in den letzten Jahren konnte ein amerikanischer Literaturprofessor Charles Warren Adams' Autorenschaft zweifelsfrei belegen. Der studierte Jurist, der Verlagsleiter wurde, Insolvenz (!) erlitt, danach Sekretär der Gesellschaft gegen Tierversuche wurde und mit der Heirat der Tochter des zweithöchsten Richters einen gesellschaftlichen Skandal erregte, gab sich zeit seines Lebens nicht als Autor zu erkennen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Julika Griem fragt nach der Aktualität von Warren Adams' 1862 erschienener Geschichte und stellt fest, dass die Verwendung von Momenten aus der Schauerliteratur und dem Sensationsroman - Herkunftsrätsel, Schlafwandler, einander widersprechende Briefe, Tagebücher, Zeugenaussagen - noch immer für Spannung sorgen kann. Die aktuelle Übersetzung des Textes scheint Griem insofern gerechtfertigt. Mit detektivischem Vergnügen macht sich die Rezensentin auf Indiziensuche, fühlt sich zugleich aber immer an gattungsgeschichtliche Tradition erinnert, an Shelley und Stoker. Vor allem aber im Umstand, dass im Roman das Sensationelle, Geheimnisvolle und seine Entzauberung durch wissenschaftliche Kriminaltechnik aufeinandertreffen, hält Griem das Buch für sehr lesbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2014Der allererste Kriminalroman
Gegen Telepathie gibt es keine Policen: Charles Warren Adams lässt "Das Mysterium von Notting Hill" 1862 aus dem Geist des Spiritismus und der Versicherungswirtschaft hervorgehen.
Zwei kränkelnde Gattinnen versterben unter ähnlichen Umständen, die eine Vergiftung nahelegen. Der verdächtige Ehemann erliegt seinem Kummer unter Polizeischutz, der Ehemann der zweiten, ein Amateurchemiker namens Baron R**, hat die beiden Frauen in mesmeristischen Séancen symbiotisch verbunden. Ein leichtes Spiel, denn es handelt sich um Zwillingsschwestern, die durch kindsraubende Zigeuner auseinandergerissen worden waren. Weil sie aber nicht nur Empathie, sondern auch die Erbschaft eines Onkels in Kalkutta teilen, gerät auch der Baron unter Verdacht. Es geht um das Vermögen der Schwestern und um eine hastig abgeschlossene Lebensversicherung.
Charles Warren Adams' Roman "Das Mysterium von Notting Hill" versammelt mit schlafwandelnden Damen, Herkunftsrätseln und Erbschaftsstreitigkeiten Versatzstücke aus Schauerliteratur und Sensationsromanen, die viktorianische Leser bei der Stange hielten. Warum lohnt es sich, die 1862 zunächst in Fortsetzungen publizierte Geschichte nun auch in der deutschen Übersetzung von Boris Greff und Matthias Marx für "Die Andere Bibliothek" zu lesen? Weil sie erstens in einer Form dargeboten wird, die Spannung auf überraschende Weise erzeugt, und weil sie zweitens zeigt, dass auch Gattungsgeschichte zum detektivischen Vergnügen geraten kann.
So wird der unglaubliche Fall der parallel dahinscheidenden Schwestern nicht als Erzählung einer verlässlichen Instanz präsentiert. Adams nutzt vielmehr den Gutachter im Versicherungsfall der verstorbenen Baronin R**, um den Lesern des Romans unterschiedliche Dokumente und Versionen vorzulegen. Erzählt wird dieser Fall als Kompilation aus Briefen, Tagebucheinträgen und Zeugenaussagen, in denen die eine Zwillingsschwester, zahlreiche Krankenschwestern und Ärzte sowie Vermieterinnen, Nachbarn und Dienstboten ihre Sicht der Ereignisse darlegen. Diese Stellungnahmen werden vom Versicherungsgutachter Mr. Henderson kommentiert und verbunden. Er enthält sich allerdings einer abschließenden Schlussfolgerung: "Meine Aufgabe ist erledigt; da Sie nun im Besitz aller Indizien sind, die vor Ihnen ausgebreitet wurden, wird Ihr Urteil genauso gut sein wie meines."
Hendersons Zusammenstellung lädt auch die Leser des Romans ein, nach winzigen Spuren und leicht zu übersehenden Indizien zu suchen. Diese Erzählstrategie war 1862 innovativ, aber sie ist nicht ohne Vorläufer und Nachahmer: Man kennt Ähnliches aus Shelleys "Frankenstein" und Stokers "Dracula", und schon in Poes 1842 publizierter erster Kriminalerzählung "Die Morde in der Rue Morgue" wurden den Lesern Zeitungsausschnitte und Zeugenaussagen präsentiert. Eine ähnliche Form der perspektivischen Auffächerung von Kriminalfällen setzte Wilkie Collins in den Romanen "Die Frau in Weiß" (1859) und "Der Monddiamant" (1868) ein, und Stevenson ließ in seiner Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1868) einen Anwalt ebenfalls Schritt für Schritt jene Zeugenbeobachtungen präsentieren, die sich allmählich zum gelösten Fall des gespaltenen Protagonisten verdichten.
Nun sollte sich die philologische Spurensuche nach gattungsgeschichtlichen "missing links" allerdings nicht in einem Wettkampf um die Entdeckung neuer Fälle von Ersttätern im Krimi-Genre erschöpfen. Jürgen Kaube rekonstruiert in seinem lesenswerten Nachwort zu Adams' Roman daher nicht allein die Enthüllung des Autors Charles Warren Adams, der erst 2011 als ein unter Pseudonym schreibender Verleger enttarnt werden konnte. Er fragt zudem, unter welchen Bedingungen sich Formen spannungsvollen Erzählens im späteren 19. Jahrhundert ausbilden konnten, die metaphysisches Böses allmählich in gesellschaftliche Rätsel verwandelten und deren Aufklärung in die Hände professioneller Ermittler legten. Zur Entstehungszeit von Adams' Roman treffen die Sensationskraft übersinnlicher Phänomene und das Bedürfnis nach ihrer Entzauberung noch so unvermittelt aufeinander, dass "Das Mysterium von Notting Hill" zur aufschlussreichen Kombination aus Geisterbeschwörung und früher wissenschaftlicher Kriminaltechnik gerät. Bereits hier spielen Ärzte eine entscheidende Rolle für die Domestizierung des Bösen: Immer wieder werden Materialproben unter Laborbedingungen untersucht, obwohl es bis zum Ende nicht gelingt, den Baron als Giftmörder zu entlarven.
Dass dieser übersinnliche Fähigkeiten eingesetzt hat, um sich das Vermögen der Zwillingsschwestern zu sichern, hätte Adams' Nachfolger Arthur Conan Doyle nicht befremdet. Dieser hat zwar mit Sherlock Holmes eine Ikone viktorianischen Rationalismus geschaffen, aber noch in den 1920er Jahren dafür gekämpft, die Feen-Darstellungen auf gefälschten Fotografien als reale Phänomene zu deuten. Conan Doyle hat selbst als Arzt praktiziert, und er stellte seinem exzentrischen Privatermittler jenen Dr. Watson an die Seite, dessen nüchterne Beschränktheit dafür sorgt, dass auch Leser in einem realistischen Erzähltempo mitermitteln können. Ein "Dr. Watson" taucht namentlich bereits in Adams' Roman als Zeuge auf.
JULIKA GRIEM
Charles Warren Adams: "Das Mysterium von Notting Hill". Aus dem Englischen von Boris Greff und Matthias Marx. Mit einem Nachwort von Jürgen Kaube und Illustr. von George du Maurier. Die Andere Bibliothek, Berlin 2014. 205 S., br., 20,- [Euro].
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Gegen Telepathie gibt es keine Policen: Charles Warren Adams lässt "Das Mysterium von Notting Hill" 1862 aus dem Geist des Spiritismus und der Versicherungswirtschaft hervorgehen.
Zwei kränkelnde Gattinnen versterben unter ähnlichen Umständen, die eine Vergiftung nahelegen. Der verdächtige Ehemann erliegt seinem Kummer unter Polizeischutz, der Ehemann der zweiten, ein Amateurchemiker namens Baron R**, hat die beiden Frauen in mesmeristischen Séancen symbiotisch verbunden. Ein leichtes Spiel, denn es handelt sich um Zwillingsschwestern, die durch kindsraubende Zigeuner auseinandergerissen worden waren. Weil sie aber nicht nur Empathie, sondern auch die Erbschaft eines Onkels in Kalkutta teilen, gerät auch der Baron unter Verdacht. Es geht um das Vermögen der Schwestern und um eine hastig abgeschlossene Lebensversicherung.
Charles Warren Adams' Roman "Das Mysterium von Notting Hill" versammelt mit schlafwandelnden Damen, Herkunftsrätseln und Erbschaftsstreitigkeiten Versatzstücke aus Schauerliteratur und Sensationsromanen, die viktorianische Leser bei der Stange hielten. Warum lohnt es sich, die 1862 zunächst in Fortsetzungen publizierte Geschichte nun auch in der deutschen Übersetzung von Boris Greff und Matthias Marx für "Die Andere Bibliothek" zu lesen? Weil sie erstens in einer Form dargeboten wird, die Spannung auf überraschende Weise erzeugt, und weil sie zweitens zeigt, dass auch Gattungsgeschichte zum detektivischen Vergnügen geraten kann.
So wird der unglaubliche Fall der parallel dahinscheidenden Schwestern nicht als Erzählung einer verlässlichen Instanz präsentiert. Adams nutzt vielmehr den Gutachter im Versicherungsfall der verstorbenen Baronin R**, um den Lesern des Romans unterschiedliche Dokumente und Versionen vorzulegen. Erzählt wird dieser Fall als Kompilation aus Briefen, Tagebucheinträgen und Zeugenaussagen, in denen die eine Zwillingsschwester, zahlreiche Krankenschwestern und Ärzte sowie Vermieterinnen, Nachbarn und Dienstboten ihre Sicht der Ereignisse darlegen. Diese Stellungnahmen werden vom Versicherungsgutachter Mr. Henderson kommentiert und verbunden. Er enthält sich allerdings einer abschließenden Schlussfolgerung: "Meine Aufgabe ist erledigt; da Sie nun im Besitz aller Indizien sind, die vor Ihnen ausgebreitet wurden, wird Ihr Urteil genauso gut sein wie meines."
Hendersons Zusammenstellung lädt auch die Leser des Romans ein, nach winzigen Spuren und leicht zu übersehenden Indizien zu suchen. Diese Erzählstrategie war 1862 innovativ, aber sie ist nicht ohne Vorläufer und Nachahmer: Man kennt Ähnliches aus Shelleys "Frankenstein" und Stokers "Dracula", und schon in Poes 1842 publizierter erster Kriminalerzählung "Die Morde in der Rue Morgue" wurden den Lesern Zeitungsausschnitte und Zeugenaussagen präsentiert. Eine ähnliche Form der perspektivischen Auffächerung von Kriminalfällen setzte Wilkie Collins in den Romanen "Die Frau in Weiß" (1859) und "Der Monddiamant" (1868) ein, und Stevenson ließ in seiner Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1868) einen Anwalt ebenfalls Schritt für Schritt jene Zeugenbeobachtungen präsentieren, die sich allmählich zum gelösten Fall des gespaltenen Protagonisten verdichten.
Nun sollte sich die philologische Spurensuche nach gattungsgeschichtlichen "missing links" allerdings nicht in einem Wettkampf um die Entdeckung neuer Fälle von Ersttätern im Krimi-Genre erschöpfen. Jürgen Kaube rekonstruiert in seinem lesenswerten Nachwort zu Adams' Roman daher nicht allein die Enthüllung des Autors Charles Warren Adams, der erst 2011 als ein unter Pseudonym schreibender Verleger enttarnt werden konnte. Er fragt zudem, unter welchen Bedingungen sich Formen spannungsvollen Erzählens im späteren 19. Jahrhundert ausbilden konnten, die metaphysisches Böses allmählich in gesellschaftliche Rätsel verwandelten und deren Aufklärung in die Hände professioneller Ermittler legten. Zur Entstehungszeit von Adams' Roman treffen die Sensationskraft übersinnlicher Phänomene und das Bedürfnis nach ihrer Entzauberung noch so unvermittelt aufeinander, dass "Das Mysterium von Notting Hill" zur aufschlussreichen Kombination aus Geisterbeschwörung und früher wissenschaftlicher Kriminaltechnik gerät. Bereits hier spielen Ärzte eine entscheidende Rolle für die Domestizierung des Bösen: Immer wieder werden Materialproben unter Laborbedingungen untersucht, obwohl es bis zum Ende nicht gelingt, den Baron als Giftmörder zu entlarven.
Dass dieser übersinnliche Fähigkeiten eingesetzt hat, um sich das Vermögen der Zwillingsschwestern zu sichern, hätte Adams' Nachfolger Arthur Conan Doyle nicht befremdet. Dieser hat zwar mit Sherlock Holmes eine Ikone viktorianischen Rationalismus geschaffen, aber noch in den 1920er Jahren dafür gekämpft, die Feen-Darstellungen auf gefälschten Fotografien als reale Phänomene zu deuten. Conan Doyle hat selbst als Arzt praktiziert, und er stellte seinem exzentrischen Privatermittler jenen Dr. Watson an die Seite, dessen nüchterne Beschränktheit dafür sorgt, dass auch Leser in einem realistischen Erzähltempo mitermitteln können. Ein "Dr. Watson" taucht namentlich bereits in Adams' Roman als Zeuge auf.
JULIKA GRIEM
Charles Warren Adams: "Das Mysterium von Notting Hill". Aus dem Englischen von Boris Greff und Matthias Marx. Mit einem Nachwort von Jürgen Kaube und Illustr. von George du Maurier. Die Andere Bibliothek, Berlin 2014. 205 S., br., 20,- [Euro].
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