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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2011

Das Albtraumschiff der Irrungen und Wirrungen

Als Katherine Anne Porters Gesellschaftsroman "Das Narrenschiff" 1962 erstmals erschien, wurde es zum internationalen Bestseller - nur nicht in Deutschland. Jetzt lässt sich die Lektüre nachholen.

Von Wolfgang Schneider

Ein opulenter, siebenhundert Seiten starker Roman über eine Seereise von Veracruz nach Bremerhaven - das scheint die ideale Lektüre für alle Freunde von Traumschiffen. Aber wer auf prächtige exotische Kulissen, romantische Extremsituationen und Glamour hofft, wird sich bald aufs Albtraumschiff versetzt fühlen, wenn er bei Katherine Anne Porter an Bord geht. Schon die Eingangsszene, die das Hafenviertel von Veracruz und das hektische Treiben vor dem Ablegen schildert, läuft auf ein emblematisches Bild menschlichen Elends hinaus: die akribische Beschreibung eines "raffiniert verstümmelten und deformierten" Bettlers, der hingeworfene Brocken vom Fußboden frisst.

Der Titel des Romans beruft sich auf Sebastian Brants "Narrenschiff", erschienen 1494 und das erfolgreichste Buch der deutschen Literatur vor der Lutherbibel: eine große Allegorie auf die Dummheit und Verworfenheit der menschlichen Gesellschaft. Eine Vielfalt von Narrheiten wird vorgeführt - Porter übernimmt das Motiv und spielt mit der allegorischen Sinnbildlichkeit, auch wenn ihr "Narrenschiff" als komplexer realistischer Gesellschaftsroman zu lesen ist. Passagiere aus vielen Nationen haben sich im Jahr 1931 auf dem Dampfer "Vera" versammelt; fast durchwegs gestrandete, unzufriedene, gezeichnete Menschen.

Das Treibmittel für Porters psychologische Erzählkunst ist die aufgezwungene Intimität mit ihren vielen unerfreulichen Einblicken. Die Menschen können einander auf dem Schiff nicht entgehen; oft müssen sie die engen Kabinen mit Fremden teilen, Misstrauen und Ablehnung gehen einher mit "zudringlicher, bohrender Neugier". Bei aller satirischen Distanz will auch die Erzählerin ihren etwa dreißig Hauptfiguren so nah wie möglich kommen. Sie kriecht ihnen mit der Technik moderner Introspektion unter die Schädeldecke und legt ihre modrigen seelischen Wurzelgeflechte bloß. Jeder auf diesem Schiff ist eingekapselt in seine höchstpersönliche Verzweiflung und Einsamkeit: der Rechtsanwalt Karl Baumgartner, der Frau und Sohn mit Trunksucht und Selbstmitleid quält; die achtzehnjährige Elsa Lutz, die an ihrer nachhaltig beschriebenen Hässlichkeit leidet; der moribunde Religionsfanatiker Willibald Graf, der von seinem geldgierigen und übelgelaunten Neffen Johann gepflegt wird; der unter Triebdruck stehende Chemiker William Denny, dem die geschiedene Mary Treadwell am Ende mit ihrem Pfennigabsatz die Visage blutig verunstaltet, oder der nationalsozialistische Modejournalist Siegfried Rieber, der von der Ausmerzung der Missratenen schwafelt und unterdessen mit Lizzi Spöckenkieker schäkert. Am Ende wird ihm der aggressive Schwede Arne Hansen eins mit dem Bierkrug überziehen, und mehr als die Platzwunde wird es Rieber schmerzen, dass sie ihm von einem echt nordischen Hünen beigebracht wurde.

Deutsche Narren geben auf der "Vera" den Ton an, was angesichts des deutschen Sonderwegs in den Nationalsozialismus plausibel erscheint. Zu den Passagieren gehören Geschäftsleute, die in Mexiko zu tun hatten, ein Tabakhändler, ein Vertreter eines Ölkonzerns, ein heimkehrender Hotelier und ein Bildungsträger wie Professor Hutten, der eine deutsche Schule geleitet hat. Die deutsche Gesellschaft um 1930, wie sie hier von einer Amerikanerin satirisch porträtiert wird, ist schwer erträglich: mit ihrem teutonischen Hochmut, ihrem selbstgerechten Sendungsbewusstsein und betulichen Damen, die das Moralisieren wie einen Volkssport betreiben.

Auch der Antisemitismus ist an Bord. Wilhelm Freytag wird als Jude des Kapitänstisches verwiesen, obwohl er keiner ist, anders als Julius Löwenthal, der von der Autorin allerdings nicht mit höheren Sympathiewerten ausgestattet wird. Er ist ein merkwürdiger Fremdgänger, verachtet die "Gojim" und ihre unreinen Fleischspeisen und handelt mit katholischen Devotionalien, als wäre es eine beliebige Ware. "Er verkroch sich in das dunkle, luftlose Ghetto seiner Seele" - kaum denkbar, dass heute ein Autor einen solchen Satz über eine jüdische Figur riskieren würde. Er zeigt eine Gefahr dieser Autorin: das allzu Plakative.

"Das Narrenschiff" hat keine dramatische Handlung, sondern reiht kunstvoll Episoden aneinander. Dass das eigentliche Talent Porters die Erzählung ist, wird gerade auf Romanlänge deutlich. Eine der seltenen Aufgipfelungen besteht darin, dass die verhätschelte Bulldogge des Professorenehepaars von bösartigen Kindern über Bord geworfen wird. Einer der spanischen Underdogs stirbt bei der Rettung; das Tier aber kann dank beherzten Eingreifens des Schiffsarztes reanimiert werden. Auch diese Inszenierung des Klassengegensatzes ist überdeutlich geraten.

Die Darstellung des geschlossenen sozialen Mikrokosmos mit seinen wachsenden Feindseligkeiten erinnert an den "Zauberberg", von dem Porter sichtlich beeinflusst ist. Wie bei Thomas Mann werden die nationalen Eigentümlichkeiten der Figuren so stark profiliert, dass es heute bisweilen Stereotypenalarm auslöst. Mitunter ist schwer zu unterscheiden, wo der Rassismus kritisiert wird und wo er der Autorin womöglich selbst hinterrücks unterläuft. Wie im "Zauberberg" entwickelt sich am Ende eine "große Gereiztheit". Es kommt zu Übergriffen und Blessuren während eines Maskenfests, das von einer spanischen Tanztruppe dämonisch befeuert wird. Insbesondere die Darstellung dieses zigeunerhaften, munter amoralischen, bettelnden und stehlenden Völkchens, das der feineren Gesellschaft einen spöttischen Zerrspiegel vorhält, könnte heute von Überempfindlichen als unkorrekt empfunden werden. "Sie liefen in einem liederlichen Haufen herum wie halb gezähmte Tiere . . ." Lassen wir es als erlebte Rede gelten.

Katherine Anne Porter (1890 bis 1980) hatte bereits früh mit Kurzgeschichten Aufmerksamkeit erregt. Als nach zahlreichen Erzählsammlungen 1962 ihr einziger Roman erschien, wurde er ein internationaler Bestseller. In Deutschland allerdings blieb die Aufnahme reserviert. Einige Rezensenten fühlten sich gekränkt von der karikaturhaften Darstellung der deutschen Figuren; andere fanden es verharmlosend, dass Nazismus und Antisemitismus so einfach unter die reichhaltige Kollektion menschlicher Narrheiten rubriziert werden. Aus heutiger Sicht gibt es eher ein ästhetisches Problem: Man ist allzu schnell fertig mit den sich selbst entlarvenden Nazi-Spießern. In Literatur und Film kommen nur noch kultivierte Nationalsozialisten in Frage: kalte, machtgestützte Charmeure, hochreflektierte Unmenschen, unbanale Böse - siehe Littell oder Tarantino.

Interessanter als die politische Kritik ist deshalb Porters desillusionierte Darstellung von Liebe und Ehe. Ob ältere Ehepaare oder jüngere Beziehungen: Auf der "Vera" ist ein erbitterter Kampf der Geschlechter im Gang, ein ständiger Wechsel von Streit und Versöhnung, von muffig gewordenen Sehnsüchten und frischen Enttäuschungen, kleinen und großen Irritationen durch den jeweils zuständigen Partner. Kurz: ein einziges Narrentreiben.

Porter hat viele Jahre an dem Roman gearbeitet - man spürt die Sorgfalt auch in der bewährten Übersetzung Susanna Rademachers, die nur leichte Überarbeitungen nötig hatte. Die aufwendigen Beschreibungen bieten einen Reichtum an Adjektiven, wie er heute in jeder Schreibschule ausgetrieben würde. "Das Narrenschiff" ist kein Jahrhundertwerk der ersten Reihe, aber ein intelligentes, menschenkundiges und unterhaltsames Buch, das gerade hierzulande noch mit Interesse zu lesen ist. Elke Schmitter weist im Nachwort darauf hin, dass es nur wenige große Gesellschaftsromane gebe, die von Frauen geschrieben wurden. Dies ist einer.

Katherine Anne Porter: "Das Narrenschiff".

Aus dem Amerikanischen von Susanna Rademacher. Überarbeitete und kommentierte Neuausgabe. Mit einem Nachwort von Elke Schmitter. Manesse Verlag, Zürich 2010. 703 S., geb., 26,95 [Euro].

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