Produktdetails
- Verlag: Erker-Galerie und Verlag
- Seitenzahl: 205
- Deutsch
- Abmessung: 280mm
- Gewicht: 922g
- ISBN-13: 9783905546514
- ISBN-10: 3905546515
- Artikelnr.: 10159828
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2001Ellötend folgt el ihlen Spulen
Hinreißend: Friedrich Dürrenmatts Zeichnungen für Charlotte Kerr
Als wär's ein Theaterstück von ihm: 1990, nach dem Fall der deutsch-deutschen Grenze, wurden per Zeitungsannonce neue Herrchen und Frauchen für die nunmehr beschäftigungslosen Volkspolizei-Hunde gesucht, und Friedrich Dürrenmatt, dem gerade sein alter Schäferhund gestorben war, bemühte sich um eines der Tiere. Oder besser: Seine Frau Charlotte Kerr bemühte sich darum, denn Dürrenmatt, der noch im selben Jahr sterben sollte, steckte wie immer ganz in seiner Arbeit. Doch das versprochene, offenbar ausnehmend schöne Tier, mit dem Dürrenmatt sogar fotografiert werden sollte, um weitere gutherzige Interessenten anzulocken, wurde kurz vor der Übergabe nach Amerika verschickt, wo man sich einen größeren Erlös versprach. Dürrenmatt und seine Frau gingen leer aus. Zum Trost zeichnete er ihr mit dem Filzschreiber ein "Stasirhinozeros", oder nein: Es muß "Stasilinozelos" heißen.
Denn Dürrenmatt hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Charlotte Kerr mit selbstangefertigten Zeichnungen zu beglücken, auf denen er selbst als Nashorn, sie als Tigerin und außerdem noch drei weitere Akteure ihre Späße trieben. Die Verkörperung durch die beiden Tiere ging auf einen Scherz von Maximilian Schell zurück, die zwei Roboter Vinzenz und Vinzenza verdankten sich dem Science-fiction-Film "Das schwarze Loch", der das Paar durch seinen niedlichen Adroiden begeistert hatte, und schließlich war da noch P.P., eine winzige Figur ohne individuelle Züge, deren Name ein Kürzel für "Pallepittli" ist. Das war einmal der Name gewesen, bei dem ein kleines, noch nicht sehr sprachvirtuoses Mädchen den jungen Friedrich gerufen hatte: "Pfarrers Fritzli" sollte das heißen. Die kindliche Lautverschiebung von R zum L wurde zum Prinzip der Texte, die Dürrenmatt seinen schnell dahingeworfenen Nashornzeichnungen beigab. Deshalb also das "Stasilinozelos".
Eine Auswahl dieser denkbar persönlichen Zeichnungen hat Charlotte Kerr nun zusammengestellt und als Buch veröffentlicht: wunderbar selbstironische Bilder, die so manche private Begebenheit verarbeiten, aber auch von einigen beruflichen Kalamitäten künden, wie etwa die beiden nach dem Verriß des letzten Dürrenmatt-Buches, "Das Durcheinandertal", im "Literarischen Quartett" entstandenen Blätter. Man möchte dem Nashorn und der Tigerin nicht in ihrer Fabelwelt begegnen, wenn man beiden zuvor einen Tort zugefügt hat.
Über das reine Vergnügen hinaus, das diese Bilder bereiten, sind die Erläuterungen, die Charlotte Kerr zum Inhalt gibt, bemerkenswert. Man begleitet sie in die gemeinsame Wohnung in Neuchâtel, hört Dürrenmatt dabei zu, wie er die Gegenstände seines Schreibzimmers zum Leben erweckt - den Stuhl Sebastian, die beiden Lampen Emma und Eulalia, den homoerotischen Kugelschreiber Lumpi -, sieht mit ihm fern und hofft mit ihm auf reichlich unfreiwilligen Humor auf Skiern bei den Sportübertragungen. Und man blickt ihm beim Schreiben über die Schulter - also beim Alltag, "den er liebte, das Gleichmaß der Stunden, Tage, in dem Bilder aufsteigen, Gedanken sich formen können, Tage ohne Eigendynamik, Tage der Denkdynamik, unbeschrieben wie das weiße Blatt Papier".
"Ich habe Angst vor dem Alltag", schreibt Charlotte Kerr an anderer Stelle. Um diese Angst zu vertreiben, zeichnete Dürrenmatt ihr die Abenteuer der munteren Fünf. Und aus dem Dialog, den die liebevollen Bilder mit den Erinnerungen seiner Frau eingehen, entsteht mehr als eine bloße Reminiszenz; aus den Seiten ersteht der seit elf Jahren tote Schriftsteller neu, verwandelt zum Nashorn, doch nicht dickhäutig, sondern verspielt wie die Figur selbst - und von ungeheurer Zärtlichkeit wie auf jener wunderbaren Zeichnung, die als einzige im Buch farbig gestaltet ist, einer Bebilderung von Schillers "Glocke": "Ellötend folgt el ihlen Spulen . . ." Und darunter sieht man die Tigerin davonlaufen, und hinter ihr, die Arme voller Blumen, schreitet das Rhinozeros. Knallrot im Gesicht.
ANDREAS PLATTHAUS
Friedrich Dürrenmatt: "Das Nashorn schreibt der Tigerin". Bild-Geschichten. Herausgegeben und kommentiert von Charlotte Kerr. Erker-Verlag, St. Gallen 2001. 206 S., 76 Abb., br., 64,20 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinreißend: Friedrich Dürrenmatts Zeichnungen für Charlotte Kerr
Als wär's ein Theaterstück von ihm: 1990, nach dem Fall der deutsch-deutschen Grenze, wurden per Zeitungsannonce neue Herrchen und Frauchen für die nunmehr beschäftigungslosen Volkspolizei-Hunde gesucht, und Friedrich Dürrenmatt, dem gerade sein alter Schäferhund gestorben war, bemühte sich um eines der Tiere. Oder besser: Seine Frau Charlotte Kerr bemühte sich darum, denn Dürrenmatt, der noch im selben Jahr sterben sollte, steckte wie immer ganz in seiner Arbeit. Doch das versprochene, offenbar ausnehmend schöne Tier, mit dem Dürrenmatt sogar fotografiert werden sollte, um weitere gutherzige Interessenten anzulocken, wurde kurz vor der Übergabe nach Amerika verschickt, wo man sich einen größeren Erlös versprach. Dürrenmatt und seine Frau gingen leer aus. Zum Trost zeichnete er ihr mit dem Filzschreiber ein "Stasirhinozeros", oder nein: Es muß "Stasilinozelos" heißen.
Denn Dürrenmatt hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Charlotte Kerr mit selbstangefertigten Zeichnungen zu beglücken, auf denen er selbst als Nashorn, sie als Tigerin und außerdem noch drei weitere Akteure ihre Späße trieben. Die Verkörperung durch die beiden Tiere ging auf einen Scherz von Maximilian Schell zurück, die zwei Roboter Vinzenz und Vinzenza verdankten sich dem Science-fiction-Film "Das schwarze Loch", der das Paar durch seinen niedlichen Adroiden begeistert hatte, und schließlich war da noch P.P., eine winzige Figur ohne individuelle Züge, deren Name ein Kürzel für "Pallepittli" ist. Das war einmal der Name gewesen, bei dem ein kleines, noch nicht sehr sprachvirtuoses Mädchen den jungen Friedrich gerufen hatte: "Pfarrers Fritzli" sollte das heißen. Die kindliche Lautverschiebung von R zum L wurde zum Prinzip der Texte, die Dürrenmatt seinen schnell dahingeworfenen Nashornzeichnungen beigab. Deshalb also das "Stasilinozelos".
Eine Auswahl dieser denkbar persönlichen Zeichnungen hat Charlotte Kerr nun zusammengestellt und als Buch veröffentlicht: wunderbar selbstironische Bilder, die so manche private Begebenheit verarbeiten, aber auch von einigen beruflichen Kalamitäten künden, wie etwa die beiden nach dem Verriß des letzten Dürrenmatt-Buches, "Das Durcheinandertal", im "Literarischen Quartett" entstandenen Blätter. Man möchte dem Nashorn und der Tigerin nicht in ihrer Fabelwelt begegnen, wenn man beiden zuvor einen Tort zugefügt hat.
Über das reine Vergnügen hinaus, das diese Bilder bereiten, sind die Erläuterungen, die Charlotte Kerr zum Inhalt gibt, bemerkenswert. Man begleitet sie in die gemeinsame Wohnung in Neuchâtel, hört Dürrenmatt dabei zu, wie er die Gegenstände seines Schreibzimmers zum Leben erweckt - den Stuhl Sebastian, die beiden Lampen Emma und Eulalia, den homoerotischen Kugelschreiber Lumpi -, sieht mit ihm fern und hofft mit ihm auf reichlich unfreiwilligen Humor auf Skiern bei den Sportübertragungen. Und man blickt ihm beim Schreiben über die Schulter - also beim Alltag, "den er liebte, das Gleichmaß der Stunden, Tage, in dem Bilder aufsteigen, Gedanken sich formen können, Tage ohne Eigendynamik, Tage der Denkdynamik, unbeschrieben wie das weiße Blatt Papier".
"Ich habe Angst vor dem Alltag", schreibt Charlotte Kerr an anderer Stelle. Um diese Angst zu vertreiben, zeichnete Dürrenmatt ihr die Abenteuer der munteren Fünf. Und aus dem Dialog, den die liebevollen Bilder mit den Erinnerungen seiner Frau eingehen, entsteht mehr als eine bloße Reminiszenz; aus den Seiten ersteht der seit elf Jahren tote Schriftsteller neu, verwandelt zum Nashorn, doch nicht dickhäutig, sondern verspielt wie die Figur selbst - und von ungeheurer Zärtlichkeit wie auf jener wunderbaren Zeichnung, die als einzige im Buch farbig gestaltet ist, einer Bebilderung von Schillers "Glocke": "Ellötend folgt el ihlen Spulen . . ." Und darunter sieht man die Tigerin davonlaufen, und hinter ihr, die Arme voller Blumen, schreitet das Rhinozeros. Knallrot im Gesicht.
ANDREAS PLATTHAUS
Friedrich Dürrenmatt: "Das Nashorn schreibt der Tigerin". Bild-Geschichten. Herausgegeben und kommentiert von Charlotte Kerr. Erker-Verlag, St. Gallen 2001. 206 S., 76 Abb., br., 64,20 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Ellötend folgt el ihlen Spulen" - Hat man die kindliche Lautverschiebung von R zu L entdeckt, weiß der gebildete Leser, dass es sich um einen Vers aus Schillers "Glocke" handelt. Er kann aber noch nicht wissen, dass Friedrich Dürrenmatt die Zeile unter eine seiner persönlichen Zeichnungen für Charlotte Kerr geschrieben hat. Sie hat die Bilder nun zusammengestellt und in einem Band veröffentlicht. Die "wunderbar selbstironischen Bilder" sind zuallererst vergnüglich, lobt Rezensent , so Andreas Platthaus, aber dank der Erläuterungen, die Charlotte Kerr zum Inhalt der Bilder gibt, erfahre der Leser neben Beruflichem auch so manch Privates über den Schriftsteller. Der Rezensent lobt das Zusammenspiel von Zeichnungen und Erinnerungen und die Tatsache, dass das Buch nicht nur eine "bloße Reminiszenz" an den Schriftsteller sei, sondern einen neuen Blick auf seine Person eröffne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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