Osman, ein Architekturstudent aus Istanbul, verfällt einem Buch und auch der wunderschönen jungen Canan, in deren Hand er es zum ersten Mal gesehen hat. Eines Tages ist Canan plötzlich verschwunden, und er macht sich auf die Suche nach ihr und auch nach der Welt, die das Buch beschreibt. Irgendwo in Anatolien trifft er sie wieder; beide überstehen schreckliche Unfälle, treffen auf Verschwörer, lernen den Kopf einer Geheimorganisation kennen, der alles Westliche, besonders Bücher, so haßt, dass er vor Morden und Attentaten nicht zurückschreckt...
Teils Road novel, teils metaphysischer Krimi, erzählt der Roman von der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Osman, Architekturstudent aus Istanbul, verfällt einem rätselhaften Buch und zugleich der wunderschönen jungen Frau Canan, in deren Hand er das Buch zum ersten Mal gesehen hat. Als Canan plötzlich verschwindet, begibt sich Osman auf die Suche nach ihr und nach der Welt, die das Buch beschreibt. Teils Road novel, teils metaphysischer Krimi, erzählt der Roman von der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Teils Road novel, teils metaphysischer Krimi, erzählt der Roman von der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Osman, Architekturstudent aus Istanbul, verfällt einem rätselhaften Buch und zugleich der wunderschönen jungen Frau Canan, in deren Hand er das Buch zum ersten Mal gesehen hat. Als Canan plötzlich verschwindet, begibt sich Osman auf die Suche nach ihr und nach der Welt, die das Buch beschreibt. Teils Road novel, teils metaphysischer Krimi, erzählt der Roman von der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998Wenn einer hielte und führte mich zum Ararat
Die Staatsbürgerschaft der Poesie: Der junge türkische Schriftsteller Orhan Pamuk zeigt Europa, was Erzählen heißt
Das letzte, was wir von einem Roman erwarten, ist die Wahrheit. Am allerwenigsten erwartet man sie von einem Werk, das so beginnt: "Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich." So alt wirkt dieser Satz, so abgenutzt, so heruntergekommen auf seinem langen Weg von Augustinus über Novalis bis zu Michael Ende, daß man ihm bestenfalls etwas sinnlos Bemühtes und Spielerisches zutraut. Doch in diesem Werk ist alles anders. "Das neue Leben", der jüngste Roman des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, mag sich nicht an die Tatsachen halten. Aber er erzählt lauter Wahrheiten.
Osman - ein junger Mann aus Istanbul, der nicht zufällig so heißt - liest ein Buch. Der Leser weiß nicht, was Osman in diesem Buch liest, und es spielt auch lange Zeit keine Rolle. Aber der Schnitt ist gezogen, einer muß sein Leben ändern. Der junge Mann, ein ganz gewöhnlicher Student des Ingenieurwesens, verläßt die kleine Wohnung, die er mit seiner Mutter teilt, und wo, wie in allen Nachbarwohnungen auch, der Fernseher zum Abendessen läuft. Er kehrt seinem Viertel mit dem bescheidenen Wohlstand den Rücken. Er gibt das Studium auf. Ergriffen von einer wehmütigen Schwärmerei, betört von der Hoffnung, das geliebte Mädchen wiederzusehen, besteigt er einen Bus, halb Detektiv und halb Pilger.
Er nimmt auf einem der hinteren Sitze Platz und dämmert durch das Land, begleitet von gewöhnlichen Reisenden mit gewöhnlichen Anliegen. Durch seine halbgeschlossenen Lider sieht er die Steppe, die von den schielenden Schweinwerfern des Busses beleuchtet wird, sieht Strommasten, Lastwagen und die schwarzblaue Nacht. Dann besteigt er einen anderen Bus, irgendeinen. Und einen dritten, vierten und fünften, jeden Tag zwei oder drei. Immer weiter gerät er in den armen, tief in seinen Traditionen verwurzelten Orient. Das Buch hat ihn aus dem Abendland vertrieben.
Orhan Pamuk, 1952 geboren und in Istanbul aufgewachsen, erzählt die Geschichte einer Wiedergeburt. Sie enthält nicht einen politischen Satz. Und doch ist sie voller Politik. Je weiter der Student den zivilisierten Westen hinter sich läßt, je abgelegener die Orte werden, desto tiefer scheint der Held in ein ursprüngliches Land vorzudringen. Aber lange noch bemerkt er die Neonschriften, die den Namen von Oberschulen verkünden, oder die alten Villen, die nun "Palasthotel Frohsinn" oder "Palasthotel Komfort" heißen. Er spürt den Waren der Vergangenheit nach, er bemerkt, wo die westlichen Limonaden noch nicht den türkischen Sprudel verdrängt haben, wo die Männer das alte "OPA"-Rasierwasser benutzen und wo die wollenen Handschuhe einen Filzeinsatz auf der Handfläche tragen. Die Aufmerksamkeit, die der junge Mann den kleinen Dingen zuwendet, gleicht dem Spürsinn, mit dem die islamischen Fundamentalisten jeden westlichen Markenartikel als Zeichen einer atheistischen Kulturrevolution verfolgen. Die wahre Wiedergeburt des Helden wäre das Wunder einer zurückgekehrten alten Welt.
Und so rollt der Bus, das Fahrzeug des armen Mannes, das jeden Winkel dieses großen Landes erreicht und ohne das auch die islamische Revolution ihre Ziele nicht erreichen könnte. Er rollt über die Heimat der Derwische, die Landstraße. Vorne, über dem Sitz des Fahrers, flimmern die Videos auf dem Bildschirm, dort wird auf amerikanisch und türkisch geliebt und gemordet, dort verschwören sich die Verbrecher und siegen die Tugendhaften. Wie ein Leitstern leuchtet dieser Apparat, und oft genug nimmt der Held in seinem Halbschlaf oder in seinen Tagträumen dieses Licht als göttliche Weisung, als engelhafte Erscheinung wahr. Orhan Pamuks "Neues Leben" ist ein Buch vom Reisen, und wie in allen "road novels" ist das Land wie eine heilige Schrift, die man ernst, aber unbefangen lesen muß, eine Lehre vom ewigen Kreislauf der Dinge. Man mag fahren, wohin man will, immer gibt es eine durchbrochene weiße Linie, die hinter dem Horizont verschwindet, und immer drehen sich die Räder des großen Automobils um sich selbst. Wenn man weit genug nach Osten reist, gerät man irgendwann in die großen Ebenen des Westens.
Orhan Pamuk hat aber auch einen türkischen Bildungsroman geschrieben - ein ungewöhnlicher Fall von doppelter poetischer Staatsbürgerschaft, eine Verbindung zwischen der mystischen Reise des Sufismus mit der deutschen Romantik. Heinrich von Ofterdingen, der vor zweihundert Jahren auszog, um zu lernen, daß die Welt ein einziges Gedicht sei, ist der ältere Bruder seines Helden Osman. "In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt", erfährt Heinrich, "die alten Geschichten und Schriften sind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntnis von der überirdischen Welt zuteil wird." Beide, Heinrich und Osman, machen sich auf die Reise, um das Buch durch die Erfahrung zu überwinden. Diese Verbindung, dieser Sprung über die Jahrhunderte und die Kulturen ist eine Herausforderung an den westlichen Leser. Pamuk erinnert das Abendland an den eigenen Enthusiasmus, mit dem einer wie Novalis von der beseelten Welt schwärmte. Auch dies war die Idee einer Wiedergeburt, und der Enthusiasmus für einen neuen, moralischen Staat war ihr nicht fremd.
Aber es reicht offenbar nicht aus, einmal wiedergeboren zu werden. Das Geheimnis des neuen Lebens liegt immer noch vor dem Helden. Endlos kann die Reise gehen, das Wunder tritt nicht ein. Aber wer so weit gefahren ist, der kann nicht schlicht ins abgelegte Leben, in die Welt der vielen kleinen und großen Kompromisse zurückkehren. Irgendwann muß es einen Punkt geben, an dem es einfacher zu sein scheint, das andere Ufer zu erreichen. "Ich wurde von einem lauten Reißen und einer wuchtigen Kraft erschüttert, die an meinen Eingeweiden rüttelte, flog von meinem Platz, schlug gegen den Sitz vor mir, stieß mit Stahl- und Blech- und Aluminium- und Glassplittern zusammen, stieß wütig zu, wurde gestoßen, wurde zusammengestaucht. Im gleichen Augenblick fiel ich als ein vollkommen anderer nochmals zurück und fand mich selbst auf demselben Sitz im Omnibus wieder. Doch der Omnibus war nicht mehr derselbe . . . Durch die hintere Tür des Wagens stieg ich aus in den Garten der Nacht." Endlos werden nun die Wiedergeburten; sie kommen plötzlich und mit Gewalt.
An die Stelle des Schicksals, das den einzelnen erhebt oder vernichtet, ist der Unfall getreten. Er wird nicht absichtlich herbeigeführt, aber gewollt ist er doch: "Über mir vereinzelte Sterne, neben mir ein echtes Stück Felsgestein. Ich berührte es sehnsüchtig und spürte das unbeschreibliche Empfinden der wahren Berührung." Im Tod ist Schlaf oder Versöhnung oder Wiedergeburt - "Entwerden" heißt das Wort dafür in der islamischen Mystik. Auch das ist eine romantische Idee, und sosehr der Leser dem Helden diese Vorstellung glaubt, so sehr vermutet er doch, daß sich dahinter auch eine religiöse Idee von großer Aktualität verbirgt: der islamische Märtyrer, dem das Himmelreich sofort versprochen ist.
Orhan Pamuk hat einen Roman geschrieben, der wie ein großes Haushaltsbuch der Türkei ist. Die Menschen sind darin verzeichnet und ihre Berufe, die Dinge und ihre Namen, die Buslinien und die Bahnhöfe, die Geräusche eines Dieselmotors und die Fettflecken auf den Brillengläsern, die politischen Verschwörungen und die Wanderwege der Störche. "Mein Verstand war hell erleuchtet", erklärt der Student, "wie die Lokale, in denen wir während der Rast auf unseren nächtlichen Busfahrten unsere Suppe löffelten, aber auch vollkommen durcheinander." Daß der Leser dem jungen Helden durch seine Geschichte folgt, über Wandlungen hinweg, die ihn erst zum Liebhaber einer unerreichbaren Schönheit, dann zum Detektiv im höchsten Auftrag und schließlich zum Verschwörer gegen die moderne Zeit machen, spricht für die literarischen Fähigkeiten seines Autors. Darüber hinaus aber beginnt man zu verstehen, wie ein Land beschaffen sein mag, das vielleicht zum Westen gehört, von dem man aber nach den fast acht Jahrzehnten einer weltlichen Regierung fürchten muß, er könne bald zu einem islamischen Staat werden. Dieser helle Blick ist weit mehr, als man heute von einem Roman erwarten kann.
Ein Bus fährt durch die Steppe. "Drei Ortschaften und zwei schmutzige Flußläufe weiter sahen wir", heißt es über eine der vielen Bekanntschaften auf der Reise, "daß unser Jüngling auf halber Strecke ausstieg und in die Richtung eines stacheldrahtumzäunten, wachturmbewehrten Militärlagers geschickt wurde, wo es von den Wänden schrie: ,Welch ein Glück, ein Türke zu sein!'" Noch einmal wird dieser Satz zitiert, als Ausruf eines Spielzeugmännchens in einer Kuckucksuhr. Darüber hinaus ist die Türkei eine Fiktion, ein gescheitertes nationales Projekt wie die Eisenbahn, deren Streckennetz in Anatolien nicht weiter ausgebaut wurde, als es mit der dirigistischen Wirtschaftspolitik der Kemalisten zu Ende ging und die Lokomotive des nationalen Fortschritts in der Steppe steckenblieb. Wer immer hier lebt, denkt zuerst an seine Familie, sein Dorf oder sich selbst, aber nicht an seinen Staat.
Ein Bus ist keine Eisenbahn. Schwankend bringt er eine kleine Gruppe von Menschen an ein beliebiges Ziel, er verbindet Orte, die nicht wirklich miteinander verbunden sind, er braucht dafür keinen großen Plan. "Du bist nicht von hier" - Orhan Pamuk beschreibt diese kleinen, in sich geschlossenen Welten, die Domänen von lokalen Herrschern, die über sich keine Macht mehr wissen. Den religiösen Eiferern stehen keine Figuren gegenüber, in denen sich der laizistische Staat verkörpert, und wenn das Militär erscheint, dann wirkt es wie eine Macht, die nicht einmal böse ist, sondern nur fremd. Die Türkei, der Staat, hat hier selbst etwas von einem Jenseits, etwas Metaphysisches, und es verbindet sich mit den Heilsversprechen der Religion:
"Alle beschimpfen, was unsere seit Hunderten von Jahren dem Glauben mit seinen Moscheen, Gebetsstätten und Feiertagen, dem Propheten, den Scheichs und dem Denkmal Atatürks treu verbundene Stadt für heilig erachtet. Nein, wir werden keinen
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Wein trinken, nein, sie werden uns nicht dazu bringen, Coca-Cola zu trinken . . . Soll man sich diesen Hochmut gegenüber dem Storch Adebar, der uns seit zwanzig Jahren behütet, und der Mannschaft der eifrigen Feuerwehr gefallen lassen? Hat Atatürk die Griechen deswegen vertrieben?" Was aus dem Westen kommt, ist wie ein sündiger Anschlag auf die islamische Gemeinde. Das zeigt Pamuk, und so wenig er dem Fanatismus die Schärfe und die Roheit nimmt, so sehr läßt er ihn doch als Empörung über den schäbigen Lauf der Welt bestehen.
Er entgiftet den Fundamentalismus, indem er ihm poetischen Raum gewährt. Zu den schönsten Passagen dieses Romans zählt die Tagung der "Vertreter mit gebrochenem Herzen" in der kleinen Stadt Güdül. Gerufen von Dr. Narin, einem jener finsteren Fürsten der Provinz, einem Herrn über eine Pastorale, die sehr den Idealen der Refah-Partei ähnelt, versammeln sich die Vertreter in der Oberschule, um sich gegenseitig neue Erfindungen vorzustellen: den ersten automatischen Schweinefleisch-Detektor der Türkei, die im Handumdrehen Kupons aus der Zeitung schneidende Schere, den Apparat zum Aufbewahren der Zeit. All diese Geräte sind von doppelter Bedeutung. Sie betreiben Mimikry mit der Welt der technischen Moderne, und sie sind gleichzeitig türkische Bedeutungsmaschinen. Was sich als Rückkehr zu den alten Werten, zu den bescheidenen, warenzeichenlosen Gerätschaften gibt, ist schon im Augenblick seiner Entstehung von einer Moderne inspiriert, die den Ararat längst erreicht hat.
Und so geht es mit allen Gegenständen der nationalen und religiösen Besinnung. Der Engel, der den reisenden Studenten begleitet, als sei dieser Heinrich Wackenroders "kunstliebender Klosterbruder", verschmilzt mit dem Fernsehschirm über dem Busfahrer, die amerikanischen Videos liefern die Vorbilder für die Verfolgungen, in denen die Sendboten einer fundamentalistischen Verschwörung ihre Gegner niedermachen. Am Ursprung des heiligen Buches, das den Helden aus seiner Bahn wirft und nach Anatolien reisen läßt, stehen ein paar Bücher, die eher zufällig und von überall her ihren Weg in das Leben des Helden gefunden haben: erbauliche Bildergeschichten, Dantes "Neues Leben", Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" und die technischen Prophetien von Jules Verne. Das Buch, das wie eine heftige Erinnerung an die Tradition der östlichen Mystik erscheint, nährt sich auch aus westlichen Quellen.
Am Ende der Reise, in einem Dorf weit jenseits der "entseelten Dinge", trifft er auf den alten Fabrikanten, der einst Osmans Kindheit mit den echten türkischen Bonbons der Marke "Neues Leben" versüßte. Ein Sinnspruch war auf der Verpackung abgedruckt, zusammen mit einem langbeinigen Engel - und dieser Engel, so stellt es sich heraus, war Marlene Dietrich nachempfunden. Die geheimnisvolle Botschaft hat es nie gegeben.
Orhan Pamuk hat ein leichtes Buch über etwas unerhört Schweres geschrieben. Er hat Anatolien zu einer wunderbar urbanen Landschaft, zu einem Ort der Weltliteratur gemacht. Viele tausend Fäden hat er mit großem literarischen Können verknüpft, und daraus ist nicht nur ein wirklichkeitstreues, sondern auch ein spannendes Bild entstanden. Im Handumdrehen gelangt man nun aus dem Abendland in den Orient, vom achtzehnten ins zwanzigste Jahrhundert und wieder zurück.
Für den Helden allerdings kommt die Einsicht zu spät. Enttäuscht vom Besuch beim alten Fabrikanten, beschwert von einem gebrochenen Herzen, betrogen um das Geheimnis, das er hinter dem "Neuen Leben" vermutete, freut er sich über die erste, moderne Raststätte, an der sein Bus Station macht. Wie eine Oase leuchtet sie auf seinem Weg, ein "truck stop" in der Prärie. Er nimmt sich vor, sein Leben von nun an mit Zuversicht und Sorgfalt zu führen, der Tochter Süßigkeiten aus der Konditorei zu holen, seine Wohnung zu pflegen und ein Fußballspiel zu sehen. Aufgemuntert setzt er sich zum ersten Mal auf einen vorderen Platz, gleich neben den Fahrer, und blickt dem Westen entgegen. Da aber erscheint der Engel auf der Windschutzscheibe. Er trägt die Lichter eines unausweichlich auf der eigenen Fahrbahn entgegenkommenden Lastwagens.
Orhan Pamuk: "Das neue Leben". Roman. Hanser Verlag, München und Wien 1998. Aus dem Türkischen übersetzt von Ingrid Iren. 348 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Staatsbürgerschaft der Poesie: Der junge türkische Schriftsteller Orhan Pamuk zeigt Europa, was Erzählen heißt
Das letzte, was wir von einem Roman erwarten, ist die Wahrheit. Am allerwenigsten erwartet man sie von einem Werk, das so beginnt: "Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich." So alt wirkt dieser Satz, so abgenutzt, so heruntergekommen auf seinem langen Weg von Augustinus über Novalis bis zu Michael Ende, daß man ihm bestenfalls etwas sinnlos Bemühtes und Spielerisches zutraut. Doch in diesem Werk ist alles anders. "Das neue Leben", der jüngste Roman des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, mag sich nicht an die Tatsachen halten. Aber er erzählt lauter Wahrheiten.
Osman - ein junger Mann aus Istanbul, der nicht zufällig so heißt - liest ein Buch. Der Leser weiß nicht, was Osman in diesem Buch liest, und es spielt auch lange Zeit keine Rolle. Aber der Schnitt ist gezogen, einer muß sein Leben ändern. Der junge Mann, ein ganz gewöhnlicher Student des Ingenieurwesens, verläßt die kleine Wohnung, die er mit seiner Mutter teilt, und wo, wie in allen Nachbarwohnungen auch, der Fernseher zum Abendessen läuft. Er kehrt seinem Viertel mit dem bescheidenen Wohlstand den Rücken. Er gibt das Studium auf. Ergriffen von einer wehmütigen Schwärmerei, betört von der Hoffnung, das geliebte Mädchen wiederzusehen, besteigt er einen Bus, halb Detektiv und halb Pilger.
Er nimmt auf einem der hinteren Sitze Platz und dämmert durch das Land, begleitet von gewöhnlichen Reisenden mit gewöhnlichen Anliegen. Durch seine halbgeschlossenen Lider sieht er die Steppe, die von den schielenden Schweinwerfern des Busses beleuchtet wird, sieht Strommasten, Lastwagen und die schwarzblaue Nacht. Dann besteigt er einen anderen Bus, irgendeinen. Und einen dritten, vierten und fünften, jeden Tag zwei oder drei. Immer weiter gerät er in den armen, tief in seinen Traditionen verwurzelten Orient. Das Buch hat ihn aus dem Abendland vertrieben.
Orhan Pamuk, 1952 geboren und in Istanbul aufgewachsen, erzählt die Geschichte einer Wiedergeburt. Sie enthält nicht einen politischen Satz. Und doch ist sie voller Politik. Je weiter der Student den zivilisierten Westen hinter sich läßt, je abgelegener die Orte werden, desto tiefer scheint der Held in ein ursprüngliches Land vorzudringen. Aber lange noch bemerkt er die Neonschriften, die den Namen von Oberschulen verkünden, oder die alten Villen, die nun "Palasthotel Frohsinn" oder "Palasthotel Komfort" heißen. Er spürt den Waren der Vergangenheit nach, er bemerkt, wo die westlichen Limonaden noch nicht den türkischen Sprudel verdrängt haben, wo die Männer das alte "OPA"-Rasierwasser benutzen und wo die wollenen Handschuhe einen Filzeinsatz auf der Handfläche tragen. Die Aufmerksamkeit, die der junge Mann den kleinen Dingen zuwendet, gleicht dem Spürsinn, mit dem die islamischen Fundamentalisten jeden westlichen Markenartikel als Zeichen einer atheistischen Kulturrevolution verfolgen. Die wahre Wiedergeburt des Helden wäre das Wunder einer zurückgekehrten alten Welt.
Und so rollt der Bus, das Fahrzeug des armen Mannes, das jeden Winkel dieses großen Landes erreicht und ohne das auch die islamische Revolution ihre Ziele nicht erreichen könnte. Er rollt über die Heimat der Derwische, die Landstraße. Vorne, über dem Sitz des Fahrers, flimmern die Videos auf dem Bildschirm, dort wird auf amerikanisch und türkisch geliebt und gemordet, dort verschwören sich die Verbrecher und siegen die Tugendhaften. Wie ein Leitstern leuchtet dieser Apparat, und oft genug nimmt der Held in seinem Halbschlaf oder in seinen Tagträumen dieses Licht als göttliche Weisung, als engelhafte Erscheinung wahr. Orhan Pamuks "Neues Leben" ist ein Buch vom Reisen, und wie in allen "road novels" ist das Land wie eine heilige Schrift, die man ernst, aber unbefangen lesen muß, eine Lehre vom ewigen Kreislauf der Dinge. Man mag fahren, wohin man will, immer gibt es eine durchbrochene weiße Linie, die hinter dem Horizont verschwindet, und immer drehen sich die Räder des großen Automobils um sich selbst. Wenn man weit genug nach Osten reist, gerät man irgendwann in die großen Ebenen des Westens.
Orhan Pamuk hat aber auch einen türkischen Bildungsroman geschrieben - ein ungewöhnlicher Fall von doppelter poetischer Staatsbürgerschaft, eine Verbindung zwischen der mystischen Reise des Sufismus mit der deutschen Romantik. Heinrich von Ofterdingen, der vor zweihundert Jahren auszog, um zu lernen, daß die Welt ein einziges Gedicht sei, ist der ältere Bruder seines Helden Osman. "In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt", erfährt Heinrich, "die alten Geschichten und Schriften sind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntnis von der überirdischen Welt zuteil wird." Beide, Heinrich und Osman, machen sich auf die Reise, um das Buch durch die Erfahrung zu überwinden. Diese Verbindung, dieser Sprung über die Jahrhunderte und die Kulturen ist eine Herausforderung an den westlichen Leser. Pamuk erinnert das Abendland an den eigenen Enthusiasmus, mit dem einer wie Novalis von der beseelten Welt schwärmte. Auch dies war die Idee einer Wiedergeburt, und der Enthusiasmus für einen neuen, moralischen Staat war ihr nicht fremd.
Aber es reicht offenbar nicht aus, einmal wiedergeboren zu werden. Das Geheimnis des neuen Lebens liegt immer noch vor dem Helden. Endlos kann die Reise gehen, das Wunder tritt nicht ein. Aber wer so weit gefahren ist, der kann nicht schlicht ins abgelegte Leben, in die Welt der vielen kleinen und großen Kompromisse zurückkehren. Irgendwann muß es einen Punkt geben, an dem es einfacher zu sein scheint, das andere Ufer zu erreichen. "Ich wurde von einem lauten Reißen und einer wuchtigen Kraft erschüttert, die an meinen Eingeweiden rüttelte, flog von meinem Platz, schlug gegen den Sitz vor mir, stieß mit Stahl- und Blech- und Aluminium- und Glassplittern zusammen, stieß wütig zu, wurde gestoßen, wurde zusammengestaucht. Im gleichen Augenblick fiel ich als ein vollkommen anderer nochmals zurück und fand mich selbst auf demselben Sitz im Omnibus wieder. Doch der Omnibus war nicht mehr derselbe . . . Durch die hintere Tür des Wagens stieg ich aus in den Garten der Nacht." Endlos werden nun die Wiedergeburten; sie kommen plötzlich und mit Gewalt.
An die Stelle des Schicksals, das den einzelnen erhebt oder vernichtet, ist der Unfall getreten. Er wird nicht absichtlich herbeigeführt, aber gewollt ist er doch: "Über mir vereinzelte Sterne, neben mir ein echtes Stück Felsgestein. Ich berührte es sehnsüchtig und spürte das unbeschreibliche Empfinden der wahren Berührung." Im Tod ist Schlaf oder Versöhnung oder Wiedergeburt - "Entwerden" heißt das Wort dafür in der islamischen Mystik. Auch das ist eine romantische Idee, und sosehr der Leser dem Helden diese Vorstellung glaubt, so sehr vermutet er doch, daß sich dahinter auch eine religiöse Idee von großer Aktualität verbirgt: der islamische Märtyrer, dem das Himmelreich sofort versprochen ist.
Orhan Pamuk hat einen Roman geschrieben, der wie ein großes Haushaltsbuch der Türkei ist. Die Menschen sind darin verzeichnet und ihre Berufe, die Dinge und ihre Namen, die Buslinien und die Bahnhöfe, die Geräusche eines Dieselmotors und die Fettflecken auf den Brillengläsern, die politischen Verschwörungen und die Wanderwege der Störche. "Mein Verstand war hell erleuchtet", erklärt der Student, "wie die Lokale, in denen wir während der Rast auf unseren nächtlichen Busfahrten unsere Suppe löffelten, aber auch vollkommen durcheinander." Daß der Leser dem jungen Helden durch seine Geschichte folgt, über Wandlungen hinweg, die ihn erst zum Liebhaber einer unerreichbaren Schönheit, dann zum Detektiv im höchsten Auftrag und schließlich zum Verschwörer gegen die moderne Zeit machen, spricht für die literarischen Fähigkeiten seines Autors. Darüber hinaus aber beginnt man zu verstehen, wie ein Land beschaffen sein mag, das vielleicht zum Westen gehört, von dem man aber nach den fast acht Jahrzehnten einer weltlichen Regierung fürchten muß, er könne bald zu einem islamischen Staat werden. Dieser helle Blick ist weit mehr, als man heute von einem Roman erwarten kann.
Ein Bus fährt durch die Steppe. "Drei Ortschaften und zwei schmutzige Flußläufe weiter sahen wir", heißt es über eine der vielen Bekanntschaften auf der Reise, "daß unser Jüngling auf halber Strecke ausstieg und in die Richtung eines stacheldrahtumzäunten, wachturmbewehrten Militärlagers geschickt wurde, wo es von den Wänden schrie: ,Welch ein Glück, ein Türke zu sein!'" Noch einmal wird dieser Satz zitiert, als Ausruf eines Spielzeugmännchens in einer Kuckucksuhr. Darüber hinaus ist die Türkei eine Fiktion, ein gescheitertes nationales Projekt wie die Eisenbahn, deren Streckennetz in Anatolien nicht weiter ausgebaut wurde, als es mit der dirigistischen Wirtschaftspolitik der Kemalisten zu Ende ging und die Lokomotive des nationalen Fortschritts in der Steppe steckenblieb. Wer immer hier lebt, denkt zuerst an seine Familie, sein Dorf oder sich selbst, aber nicht an seinen Staat.
Ein Bus ist keine Eisenbahn. Schwankend bringt er eine kleine Gruppe von Menschen an ein beliebiges Ziel, er verbindet Orte, die nicht wirklich miteinander verbunden sind, er braucht dafür keinen großen Plan. "Du bist nicht von hier" - Orhan Pamuk beschreibt diese kleinen, in sich geschlossenen Welten, die Domänen von lokalen Herrschern, die über sich keine Macht mehr wissen. Den religiösen Eiferern stehen keine Figuren gegenüber, in denen sich der laizistische Staat verkörpert, und wenn das Militär erscheint, dann wirkt es wie eine Macht, die nicht einmal böse ist, sondern nur fremd. Die Türkei, der Staat, hat hier selbst etwas von einem Jenseits, etwas Metaphysisches, und es verbindet sich mit den Heilsversprechen der Religion:
"Alle beschimpfen, was unsere seit Hunderten von Jahren dem Glauben mit seinen Moscheen, Gebetsstätten und Feiertagen, dem Propheten, den Scheichs und dem Denkmal Atatürks treu verbundene Stadt für heilig erachtet. Nein, wir werden keinen
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Wein trinken, nein, sie werden uns nicht dazu bringen, Coca-Cola zu trinken . . . Soll man sich diesen Hochmut gegenüber dem Storch Adebar, der uns seit zwanzig Jahren behütet, und der Mannschaft der eifrigen Feuerwehr gefallen lassen? Hat Atatürk die Griechen deswegen vertrieben?" Was aus dem Westen kommt, ist wie ein sündiger Anschlag auf die islamische Gemeinde. Das zeigt Pamuk, und so wenig er dem Fanatismus die Schärfe und die Roheit nimmt, so sehr läßt er ihn doch als Empörung über den schäbigen Lauf der Welt bestehen.
Er entgiftet den Fundamentalismus, indem er ihm poetischen Raum gewährt. Zu den schönsten Passagen dieses Romans zählt die Tagung der "Vertreter mit gebrochenem Herzen" in der kleinen Stadt Güdül. Gerufen von Dr. Narin, einem jener finsteren Fürsten der Provinz, einem Herrn über eine Pastorale, die sehr den Idealen der Refah-Partei ähnelt, versammeln sich die Vertreter in der Oberschule, um sich gegenseitig neue Erfindungen vorzustellen: den ersten automatischen Schweinefleisch-Detektor der Türkei, die im Handumdrehen Kupons aus der Zeitung schneidende Schere, den Apparat zum Aufbewahren der Zeit. All diese Geräte sind von doppelter Bedeutung. Sie betreiben Mimikry mit der Welt der technischen Moderne, und sie sind gleichzeitig türkische Bedeutungsmaschinen. Was sich als Rückkehr zu den alten Werten, zu den bescheidenen, warenzeichenlosen Gerätschaften gibt, ist schon im Augenblick seiner Entstehung von einer Moderne inspiriert, die den Ararat längst erreicht hat.
Und so geht es mit allen Gegenständen der nationalen und religiösen Besinnung. Der Engel, der den reisenden Studenten begleitet, als sei dieser Heinrich Wackenroders "kunstliebender Klosterbruder", verschmilzt mit dem Fernsehschirm über dem Busfahrer, die amerikanischen Videos liefern die Vorbilder für die Verfolgungen, in denen die Sendboten einer fundamentalistischen Verschwörung ihre Gegner niedermachen. Am Ursprung des heiligen Buches, das den Helden aus seiner Bahn wirft und nach Anatolien reisen läßt, stehen ein paar Bücher, die eher zufällig und von überall her ihren Weg in das Leben des Helden gefunden haben: erbauliche Bildergeschichten, Dantes "Neues Leben", Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" und die technischen Prophetien von Jules Verne. Das Buch, das wie eine heftige Erinnerung an die Tradition der östlichen Mystik erscheint, nährt sich auch aus westlichen Quellen.
Am Ende der Reise, in einem Dorf weit jenseits der "entseelten Dinge", trifft er auf den alten Fabrikanten, der einst Osmans Kindheit mit den echten türkischen Bonbons der Marke "Neues Leben" versüßte. Ein Sinnspruch war auf der Verpackung abgedruckt, zusammen mit einem langbeinigen Engel - und dieser Engel, so stellt es sich heraus, war Marlene Dietrich nachempfunden. Die geheimnisvolle Botschaft hat es nie gegeben.
Orhan Pamuk hat ein leichtes Buch über etwas unerhört Schweres geschrieben. Er hat Anatolien zu einer wunderbar urbanen Landschaft, zu einem Ort der Weltliteratur gemacht. Viele tausend Fäden hat er mit großem literarischen Können verknüpft, und daraus ist nicht nur ein wirklichkeitstreues, sondern auch ein spannendes Bild entstanden. Im Handumdrehen gelangt man nun aus dem Abendland in den Orient, vom achtzehnten ins zwanzigste Jahrhundert und wieder zurück.
Für den Helden allerdings kommt die Einsicht zu spät. Enttäuscht vom Besuch beim alten Fabrikanten, beschwert von einem gebrochenen Herzen, betrogen um das Geheimnis, das er hinter dem "Neuen Leben" vermutete, freut er sich über die erste, moderne Raststätte, an der sein Bus Station macht. Wie eine Oase leuchtet sie auf seinem Weg, ein "truck stop" in der Prärie. Er nimmt sich vor, sein Leben von nun an mit Zuversicht und Sorgfalt zu führen, der Tochter Süßigkeiten aus der Konditorei zu holen, seine Wohnung zu pflegen und ein Fußballspiel zu sehen. Aufgemuntert setzt er sich zum ersten Mal auf einen vorderen Platz, gleich neben den Fahrer, und blickt dem Westen entgegen. Da aber erscheint der Engel auf der Windschutzscheibe. Er trägt die Lichter eines unausweichlich auf der eigenen Fahrbahn entgegenkommenden Lastwagens.
Orhan Pamuk: "Das neue Leben". Roman. Hanser Verlag, München und Wien 1998. Aus dem Türkischen übersetzt von Ingrid Iren. 348 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tout le monde ist elektrisiert von der "großartigen Fabulierkunst", dieses "so gut wie Borges oder Calvino" zu lesenden Erzählers "für alle Freunde des Raffinierten". Gabriele Killert, Die Zeit, 07.01.99
"Wie man dieses meisterlich geschliffene Juwel eines märchenhaften Romans vor dem Leser-Auge auch dreht und wendet: es blitzt und funkelt in immer neuen, anderen Lichtbrechungen." Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 25.11.98
"Orhan Pamuk hat ein leichtes Buch über etwas unerhört Schweres geschrieben. Er hat Anatolien zu einer wunderbar urbanen Landschaft, zu einem Ort der Weltliteratur gemacht. Viele tausend Fäden hat er mit großem literarischen Können verknüpft, und daraus ist nicht nur ein wirklichkeitstreues, sondern auch ein spannendes Bild entstanden." Thomas Steinfeld, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.98
"Wie man dieses meisterlich geschliffene Juwel eines märchenhaften Romans vor dem Leser-Auge auch dreht und wendet: es blitzt und funkelt in immer neuen, anderen Lichtbrechungen." Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 25.11.98
"Orhan Pamuk hat ein leichtes Buch über etwas unerhört Schweres geschrieben. Er hat Anatolien zu einer wunderbar urbanen Landschaft, zu einem Ort der Weltliteratur gemacht. Viele tausend Fäden hat er mit großem literarischen Können verknüpft, und daraus ist nicht nur ein wirklichkeitstreues, sondern auch ein spannendes Bild entstanden." Thomas Steinfeld, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.98