Nach dem überwältigenden Erfolg seines Romans 'Der Liebeswunsch' widmet sich Dieter Wellershoff in zehn subtilen Erzählungen der Beschreibung der alltäglichen Glückssuche der Menschen unserer Zeit.
Was kann noch als normal gelten, wenn es keine verbindlichen Lebensformen mehr gibt, stattdessen aber die übermächtige Forderung an jeden Einzelnen, das Beste aus seinem Leben zu machen und sein persönliches Glück zu finden? Dieter Wellershoff hat einen so einfühlsamen wie kritischen Blick für die Illusionsanfälligkeit dieser Seelenlage, in der Leidenschaft und Sicherheitsbedürfnis, Hingabe und Abgrenzung, Wahrheitswunsch und Selbsttäuschung sich in widersprüchlichen, labilen Bindungen und Schattenspielen vermischen.
In seinen Erzählungen aus den letzten drei Jahren führt er Menschen zueinander, die sich in ihrem Leben eingerichtet zu haben glauben und unversehens mit Wünschen und Sehnsüchten konfrontiert werden, die sie sich bisher nicht eingestanden haben. So beginnen Prozesse der Ver
Was kann noch als normal gelten, wenn es keine verbindlichen Lebensformen mehr gibt, stattdessen aber die übermächtige Forderung an jeden Einzelnen, das Beste aus seinem Leben zu machen und sein persönliches Glück zu finden? Dieter Wellershoff hat einen so einfühlsamen wie kritischen Blick für die Illusionsanfälligkeit dieser Seelenlage, in der Leidenschaft und Sicherheitsbedürfnis, Hingabe und Abgrenzung, Wahrheitswunsch und Selbsttäuschung sich in widersprüchlichen, labilen Bindungen und Schattenspielen vermischen.
In seinen Erzählungen aus den letzten drei Jahren führt er Menschen zueinander, die sich in ihrem Leben eingerichtet zu haben glauben und unversehens mit Wünschen und Sehnsüchten konfrontiert werden, die sie sich bisher nicht eingestanden haben. So beginnen Prozesse der Ver
Pressestimmen zu "Der Liebeswunsch":
"Der Liebeswunsch ist ein spannender Roman, den man bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen möchte. Wellershoff ist ein Psychologe, der das Beziehungstheater nicht weniger scharf durchschaut als etwa Botho Strauß, allerdings mit mehr Wohlwollen im Blick." Wolfgang Schneider, FAZ
"Dieter Wellershoff zeigt, dass der Roman immer noch für die großen Gefühle taugt und Mitgefühl mobilisieren kann. Ein erzählerisches Meisterstück." Volker Hage, Der Spiegel
"Das Schicksal seiner Figuren hat Wellershoff fest in der Hand. Starke Momente, wenn er in Bildern erzählt: kalter Glanz, wie Gemälde Edward Hoppers." Focus
"Was die subtile Darstellung latenter Spannungs- und Konfliktzustände betrifft, so kann kaum ein anderer Vertreter der zeitgenössischen Literatur Wellershoff das Wasser reichen." Markus Schwering, Kölner Stadt-Anzeiger
"Der Liebeswunsch ist ein spannender Roman, den man bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen möchte. Wellershoff ist ein Psychologe, der das Beziehungstheater nicht weniger scharf durchschaut als etwa Botho Strauß, allerdings mit mehr Wohlwollen im Blick." Wolfgang Schneider, FAZ
"Dieter Wellershoff zeigt, dass der Roman immer noch für die großen Gefühle taugt und Mitgefühl mobilisieren kann. Ein erzählerisches Meisterstück." Volker Hage, Der Spiegel
"Das Schicksal seiner Figuren hat Wellershoff fest in der Hand. Starke Momente, wenn er in Bildern erzählt: kalter Glanz, wie Gemälde Edward Hoppers." Focus
"Was die subtile Darstellung latenter Spannungs- und Konfliktzustände betrifft, so kann kaum ein anderer Vertreter der zeitgenössischen Literatur Wellershoff das Wasser reichen." Markus Schwering, Kölner Stadt-Anzeiger
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Gediegen" und "altmodisch" wirken diese Erzählungen nur auf den ersten Blick, wirbt Rezensent Martin Krumbholz für den jüngsten Erzählband des Kölner Schriftstellers Dieter Wellershoff; sie haben bewusst etwas Unaufgeregtes, niemals Saloppes. Wellershoffs Art der Figurenzeichnung erscheint Krumbholz stets von äußerster Sorgfalt und geradezu "defensiv". Ein Autor, der Geduld, ja Verständnis für seine Charaktere aufbringt. Dazu brauche es Lebenserfahrung, meint Krumbholz, und davon besitze der mittlerweile 80-jährige Wellershoff ausreichend. Seine jüngsten Erzählungen handeln von Paaren, deren gescheiterten Ehen, von Trennungen, Liebschaften, von Entfremdung und Überbrückungsversuchen; sie zeichnen minutiös kleine Risse, Veränderungen, Versuchsanordnungen nach, die, so Krumbholz, nach "sauberen Lösungen" schreien würden, die Wellershoff aber nie anbiete. Kunstvoll belasse es der Autor bei Andeutungen, kleinen Bewusstseinsänderungen - "ein Gefühl für das Fehlende" stellt sich ein, meint der Rezensent und gibt zu: "Im Grunde ist alles gesagt." Mehr braucht "Das normale Leben nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Expeditionen ins Menschentierreich
Variationen des Liebeswahlakts: Dieter Wellershoffs neue Erzählungen / Von Patrick Bahners
Soll der Mensch sich ein Beispiel an den Ameisen nehmen? Die fragen nicht lange, was sie tun sollen, sondern tun eben etwas. Das Fragen ist der Beruf des Mannes, der in Dieter Wellershoffs Roman "Der Liebeswunsch" einer alten Freundin, seiner früheren Verlobten, diese Lektion über das Tierreich erteilt. Leonhard ist Vorsitzender Richter am Landgericht. Marlene verließ Leonhard, um Paul zu heiraten, Leonhards besten Freund. Marlene und Paul sind Ärzte. Nach dem Treuebruch haben die drei ihren Freundschaftsbund restauriert, als heilte nicht die Zeit, sondern der gute Wille alle Wunden. Nun hat sich, als wäre Liebesverrat ein naturgesetzmäßiges Geschehen, die Geschichte wiederholt. Paul hat Marlene mit Anja betrogen, Leonhards junger Frau. In dieser Lage klärt Leonhard Marlene über die Ameisen auf. Sie hätten dasselbe Problem wie die Menschen. "Sie sorgen dafür, daß das Leben weitergeht." Haben sie andere Lösungen? "Sie sind die andere Lösung. Sie haben nämlich keine Wahl. Alles ist so, wie es immer ist." Anjas Ehe mit Leonhard ist eine Falle, in die sie geraten ist, weil sie keine Wahl zu haben glaubte. "Nie zuvor hatte sie daran gedacht zu heiraten, nicht, weil sie es ablehnte, sondern weil sie annahm, dies sei, wie das ganze übrige normale Leben, für sie nicht vorgesehen." Der Wahlakt zerstört, als sie ihn dann doch ins Auge faßt und in die Tat umsetzt, die bürgerliche Ordnung, die komplizierte Balance des Mobiles der vier Personen.
Fünf Jahre nach dem großen Romanerfolg legt Dieter Wellershoff nun eine Sammlung von Erzählungen vor, die das normale Leben, von dem die Liebesnärrin des Romans sich ausgeschlossen wähnte, im Titel führen und zum Thema haben. Die Texte - darunter Langgeschichten eines Umfangs von siebzig Seiten, aber auch impressionistische Skizzen, die ebensogut als Teile eines Tage- oder Notizbuchs hätten publiziert werden können - kommen in der Reihenfolge ihrer Entstehung zum Abdruck. Weshalb diese eigentümliche editorische Entscheidung, wie sie gewöhnlich erst der postume Herausgeber eines Lebenswerks trifft? Der Autor deutet die Möglichkeit eines autobiographischen Gehalts an. Die Normalität seines Personals besteht in der Routine wiederholter Verrichtungen, die durch eine unerwartete Begegnung gestört wird, häufig durch eine Konfrontation mit der Vergangenheit. Auch der Schriftsteller führt ein normales Leben, sorgt dafür, daß es weitergeht, indem er einen Text an den anderen reiht.
Die chronologische Reihenfolge seiner Werke ist so gut wie jede andere. Jede Umgruppierung legte nahe, die Erzählungen liefen auf einen höheren Sinn hinaus. Der Sinnsuche steht schon das offene Ende der typischen Wellershoff-Geschichte entgegen. Zum Schluß obsiegt regelmäßig das normale Leben, das nicht weiter der Rede wert ist. Die Form einer solchen Erzählung läßt sich als Fragment bestimmen: Sie bietet ein aus dem Zusammenhang gerissenes Stück Biographie. Wie Bruchstücke wirken die Geschichten des neuen Bandes namentlich im Verhältnis zum fünf Jahre älteren Roman. Es sind Etüden, die Figuren, Motive und Szenen des Meisterwerks variieren.
"Im Vorbeigehen", das letzte und kürzeste Stück, beschreibt die Zufallsbegegnung mit einer verflossenen Geliebten. Dasselbe Tagtraumbild der wiedergefundenen Zeit steht am Anfang des Romans. Anja, die ewige Magistrandin, kehrt wieder als Bea, die Dichterin, die sich mit Übersetzungen über Wasser hält. Wie Anjas Leben "etwas Unfühlbares und Gleitendes angenommen" hatte, so sieht Beas Gesicht im Spiegel so aus, "als wäre alles an ihr vorbeigeglitten wie ein fremder, unverstandener Traum". "Das Sommerfest" handelt von einer Ehefrau, die sich in den Kopf gesetzt hat, ihren korrekten, erfolgreichen Mann und ihre eigenwillige Schwester, die Pech mit den Männern hat, einander näherzubringen. In der Nacht nach dem Fest verläßt ihr Mann das Ehebett. Der Verdacht, daß sie ihn bei seiner Schwägerin zu suchen hat, ist unabweisbar. "Sie konnte nichts mehr dagegen ins Feld führen, was gleich wahrscheinlich war. Dennoch entglitt es ihr wieder, als ob es nur ein Hirngespinst wäre, eine fremde Geschichte, weit außerhalb des eigenen Lebens." So muß sich im "Liebeswunsch" Marlene Rechenschaft darüber ablegen, daß sie im Floridaurlaub quasi planvoll Gelegenheiten für die Annäherung von Paul und Anja geschaffen hat.
Das Entgleitende läßt sich nur um den Preis schmerzlicher Selbsterkenntnis festhalten. Wie kann man die Macht der Gewohnheit brechen, ohne das Gesetz des Lebens zu leugnen?
Diese Frage hat Dieter Wellershoff, der am 3. November achtzig Jahre alt wird, sowohl in literaturtheoretischen wie in autobiographischen Schriften erörtert. Im Unterschied zum Ameisenstaat hat die Menschengesellschaft Geschichte. Alles könnte anders sein. Aber eben an der Kontingenz der Arrangements, in denen wir uns eingerichtet haben, erweist sich die Macht des Schicksals. Wir haben die Wahl und setzen einen Naturzwang in Gang. Wellershoff betrachtet die Menschen als Zoologe. Er verzeichnet Temperaturen und Aggregatzustände: "Eine kalte Neugier erfüllte Bea. Es war zur Neugier geronnene Angst, die augenblicklich wieder zur Angst werden konnte." Es macht den Reiz von Wellershoffs Prosa aus, daß die Lakonie des Protokollanten die Haltung des Erzählers auch dort prägt, wo er die Perspektive seiner Protagonisten einnimmt. Es sind Selbstversuchspersonen, die am eigenen Leib eine fremde Geschichte erfahren.
"Der Rückzug" ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der der Welt abhanden kommt - in winzigen Schritten, die sich an der Veränderung seiner Umwelt ablesen lassen. In der Metzgerei, "die sich auf den Verkauf von Snacks und die Ausgabe von warmen Mahlzeiten umgestellt hatte", saß man "an einem der Einzeltische, die alle so hoch waren, daß die Köpfe der Esser dicht über ihre gefüllten Teller gebeugt waren, was den Eindruck einer allgemeinen Gefräßigkeit macht". Wenn das Endprodukt der sozialen Evolution die Vereinzelung ist, wird der Mensch zum Tier.
Ein Monstrum tritt in dieser Erzählung auf, ein Kunstgeschichtsprofessor, der so klein ist, daß er eine Fußbank benötigt, um das Katheder zu besteigen. Durch eine böse Bemerkung sorgt er dafür, daß der Rückzug des Helden aus dem Leben schon vor dem Erwerb der akademischen Qualifikation für das bürgerliche Dasein beginnt: Er legt die Doktorarbeit beiseite und wird Buchhändler - wie Wellershoff (freilich mit Doktorarbeit, über Benn, den Dichter des Menschentierlebens) Lektor wurde. Den Zwerg, der in überfüllten Hörsälen über "Das Bild des Menschen in der Kunst der Gegenwart" spricht, hat es an der Universität Bonn, an der Wellershoff studierte, wirklich gegeben. Es hat etwas Unheimliches, inmitten der durch ihre Austauschbarkeit wiedererkennbaren Charaktere Wellershoffs diesem Porträt zu begegnen. Einmal soll der Vortragende im Eifer der Lichtbilderklärung ausgerutscht sein. "Und als hätte eine unsichtbare Instanz befunden, nun wäre es genug und die rhetorische Prachtentfaltung nicht länger zumutbar, war der Redner mitten in seinem Satz, so ruckartig wie eine an einer Schnur von der Bühne gerissene Puppe, mit einem jähen Aufschrei hinter dem Katheder versunken." Kann man sich vorstellen, daß jemand Schriftsteller wird, um mit unsichtbarer Hand Puppen zu führen und den bösen Geist der Jugendzeit vom Podest zu stoßen? Rhetorische Prachtentfaltung ist Dieter Wellershoff jedenfalls immer noch zuwider.
Dieter Wellershoff: "Das normale Leben". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 314 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Variationen des Liebeswahlakts: Dieter Wellershoffs neue Erzählungen / Von Patrick Bahners
Soll der Mensch sich ein Beispiel an den Ameisen nehmen? Die fragen nicht lange, was sie tun sollen, sondern tun eben etwas. Das Fragen ist der Beruf des Mannes, der in Dieter Wellershoffs Roman "Der Liebeswunsch" einer alten Freundin, seiner früheren Verlobten, diese Lektion über das Tierreich erteilt. Leonhard ist Vorsitzender Richter am Landgericht. Marlene verließ Leonhard, um Paul zu heiraten, Leonhards besten Freund. Marlene und Paul sind Ärzte. Nach dem Treuebruch haben die drei ihren Freundschaftsbund restauriert, als heilte nicht die Zeit, sondern der gute Wille alle Wunden. Nun hat sich, als wäre Liebesverrat ein naturgesetzmäßiges Geschehen, die Geschichte wiederholt. Paul hat Marlene mit Anja betrogen, Leonhards junger Frau. In dieser Lage klärt Leonhard Marlene über die Ameisen auf. Sie hätten dasselbe Problem wie die Menschen. "Sie sorgen dafür, daß das Leben weitergeht." Haben sie andere Lösungen? "Sie sind die andere Lösung. Sie haben nämlich keine Wahl. Alles ist so, wie es immer ist." Anjas Ehe mit Leonhard ist eine Falle, in die sie geraten ist, weil sie keine Wahl zu haben glaubte. "Nie zuvor hatte sie daran gedacht zu heiraten, nicht, weil sie es ablehnte, sondern weil sie annahm, dies sei, wie das ganze übrige normale Leben, für sie nicht vorgesehen." Der Wahlakt zerstört, als sie ihn dann doch ins Auge faßt und in die Tat umsetzt, die bürgerliche Ordnung, die komplizierte Balance des Mobiles der vier Personen.
Fünf Jahre nach dem großen Romanerfolg legt Dieter Wellershoff nun eine Sammlung von Erzählungen vor, die das normale Leben, von dem die Liebesnärrin des Romans sich ausgeschlossen wähnte, im Titel führen und zum Thema haben. Die Texte - darunter Langgeschichten eines Umfangs von siebzig Seiten, aber auch impressionistische Skizzen, die ebensogut als Teile eines Tage- oder Notizbuchs hätten publiziert werden können - kommen in der Reihenfolge ihrer Entstehung zum Abdruck. Weshalb diese eigentümliche editorische Entscheidung, wie sie gewöhnlich erst der postume Herausgeber eines Lebenswerks trifft? Der Autor deutet die Möglichkeit eines autobiographischen Gehalts an. Die Normalität seines Personals besteht in der Routine wiederholter Verrichtungen, die durch eine unerwartete Begegnung gestört wird, häufig durch eine Konfrontation mit der Vergangenheit. Auch der Schriftsteller führt ein normales Leben, sorgt dafür, daß es weitergeht, indem er einen Text an den anderen reiht.
Die chronologische Reihenfolge seiner Werke ist so gut wie jede andere. Jede Umgruppierung legte nahe, die Erzählungen liefen auf einen höheren Sinn hinaus. Der Sinnsuche steht schon das offene Ende der typischen Wellershoff-Geschichte entgegen. Zum Schluß obsiegt regelmäßig das normale Leben, das nicht weiter der Rede wert ist. Die Form einer solchen Erzählung läßt sich als Fragment bestimmen: Sie bietet ein aus dem Zusammenhang gerissenes Stück Biographie. Wie Bruchstücke wirken die Geschichten des neuen Bandes namentlich im Verhältnis zum fünf Jahre älteren Roman. Es sind Etüden, die Figuren, Motive und Szenen des Meisterwerks variieren.
"Im Vorbeigehen", das letzte und kürzeste Stück, beschreibt die Zufallsbegegnung mit einer verflossenen Geliebten. Dasselbe Tagtraumbild der wiedergefundenen Zeit steht am Anfang des Romans. Anja, die ewige Magistrandin, kehrt wieder als Bea, die Dichterin, die sich mit Übersetzungen über Wasser hält. Wie Anjas Leben "etwas Unfühlbares und Gleitendes angenommen" hatte, so sieht Beas Gesicht im Spiegel so aus, "als wäre alles an ihr vorbeigeglitten wie ein fremder, unverstandener Traum". "Das Sommerfest" handelt von einer Ehefrau, die sich in den Kopf gesetzt hat, ihren korrekten, erfolgreichen Mann und ihre eigenwillige Schwester, die Pech mit den Männern hat, einander näherzubringen. In der Nacht nach dem Fest verläßt ihr Mann das Ehebett. Der Verdacht, daß sie ihn bei seiner Schwägerin zu suchen hat, ist unabweisbar. "Sie konnte nichts mehr dagegen ins Feld führen, was gleich wahrscheinlich war. Dennoch entglitt es ihr wieder, als ob es nur ein Hirngespinst wäre, eine fremde Geschichte, weit außerhalb des eigenen Lebens." So muß sich im "Liebeswunsch" Marlene Rechenschaft darüber ablegen, daß sie im Floridaurlaub quasi planvoll Gelegenheiten für die Annäherung von Paul und Anja geschaffen hat.
Das Entgleitende läßt sich nur um den Preis schmerzlicher Selbsterkenntnis festhalten. Wie kann man die Macht der Gewohnheit brechen, ohne das Gesetz des Lebens zu leugnen?
Diese Frage hat Dieter Wellershoff, der am 3. November achtzig Jahre alt wird, sowohl in literaturtheoretischen wie in autobiographischen Schriften erörtert. Im Unterschied zum Ameisenstaat hat die Menschengesellschaft Geschichte. Alles könnte anders sein. Aber eben an der Kontingenz der Arrangements, in denen wir uns eingerichtet haben, erweist sich die Macht des Schicksals. Wir haben die Wahl und setzen einen Naturzwang in Gang. Wellershoff betrachtet die Menschen als Zoologe. Er verzeichnet Temperaturen und Aggregatzustände: "Eine kalte Neugier erfüllte Bea. Es war zur Neugier geronnene Angst, die augenblicklich wieder zur Angst werden konnte." Es macht den Reiz von Wellershoffs Prosa aus, daß die Lakonie des Protokollanten die Haltung des Erzählers auch dort prägt, wo er die Perspektive seiner Protagonisten einnimmt. Es sind Selbstversuchspersonen, die am eigenen Leib eine fremde Geschichte erfahren.
"Der Rückzug" ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der der Welt abhanden kommt - in winzigen Schritten, die sich an der Veränderung seiner Umwelt ablesen lassen. In der Metzgerei, "die sich auf den Verkauf von Snacks und die Ausgabe von warmen Mahlzeiten umgestellt hatte", saß man "an einem der Einzeltische, die alle so hoch waren, daß die Köpfe der Esser dicht über ihre gefüllten Teller gebeugt waren, was den Eindruck einer allgemeinen Gefräßigkeit macht". Wenn das Endprodukt der sozialen Evolution die Vereinzelung ist, wird der Mensch zum Tier.
Ein Monstrum tritt in dieser Erzählung auf, ein Kunstgeschichtsprofessor, der so klein ist, daß er eine Fußbank benötigt, um das Katheder zu besteigen. Durch eine böse Bemerkung sorgt er dafür, daß der Rückzug des Helden aus dem Leben schon vor dem Erwerb der akademischen Qualifikation für das bürgerliche Dasein beginnt: Er legt die Doktorarbeit beiseite und wird Buchhändler - wie Wellershoff (freilich mit Doktorarbeit, über Benn, den Dichter des Menschentierlebens) Lektor wurde. Den Zwerg, der in überfüllten Hörsälen über "Das Bild des Menschen in der Kunst der Gegenwart" spricht, hat es an der Universität Bonn, an der Wellershoff studierte, wirklich gegeben. Es hat etwas Unheimliches, inmitten der durch ihre Austauschbarkeit wiedererkennbaren Charaktere Wellershoffs diesem Porträt zu begegnen. Einmal soll der Vortragende im Eifer der Lichtbilderklärung ausgerutscht sein. "Und als hätte eine unsichtbare Instanz befunden, nun wäre es genug und die rhetorische Prachtentfaltung nicht länger zumutbar, war der Redner mitten in seinem Satz, so ruckartig wie eine an einer Schnur von der Bühne gerissene Puppe, mit einem jähen Aufschrei hinter dem Katheder versunken." Kann man sich vorstellen, daß jemand Schriftsteller wird, um mit unsichtbarer Hand Puppen zu führen und den bösen Geist der Jugendzeit vom Podest zu stoßen? Rhetorische Prachtentfaltung ist Dieter Wellershoff jedenfalls immer noch zuwider.
Dieter Wellershoff: "Das normale Leben". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 314 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2006Der Gentleman-Erzähler
Dieter Wellershoffs Erzählungsband „Das normale Leben”
Am Ende steht der Satz: „Die Gefahr oder die Chance oder was immer es gewesen sein mochte, war vorbei.” Er ist programmatisch, wie alle Schlusssätze in diesem Buch. Die Erzählungen Dieter Wellershoffs sind vom Ende her zu lesen. Die letzte, nur vier Seiten lange Episode schildert, wie ein Mann auf der Straße einer ehemaligen Geliebten begegnet. Während sie aufeinander zugehen, überlegt er, ob er sie ansprechen soll und wie es wäre, die alte Beziehung noch einmal zu erneuern. Vielleicht müsste er nur ihren Namen sagen, um die Fremdheit zu überwinden. Aber dann sind sie auch schon aneinander vorbei gegangen. Beide tun so, als hätten sie sich nicht gesehen. Sie verschwindet wieder in der Menge. Er fühlt sich seltsam leicht und körperlos. Und dann kommt auch schon der abschließende Satz: „Die Gefahr oder die Chance oder was immer es gewesen sein mochte, war vorbei.”
Als „Probebühne” und „Simulationsraum” betrachtet Dieter Wellershoff die Literatur. Als „psychologischer Realismus” sind die Texte des Kölner Schriftstellers kategorisiert worden. Wellershoff ist ein erzählerischer Gentleman, immer korrekt, absolut formvollendet. Seine Schlusssätze sind so diskret wie unerbittlich. Sie schließen sich hinter den Geschichten wie Theatervorhänge und erweitern doch den Blick. Sie zeigen, dass die Normalität - ganz im Gegensatz zur formalen Intaktheit dieser Prosa - immer nur scheinbar wiederhergestellt ist. In ihnen steckt die vibrierende Anstrengung, die es kostet, eine mühsam etablierte Ordnung aufrechtzuerhalten.
„Alles war wie immer” endet eine Erzählung über den Opernbesuch eines sich zum Frösteln fremd gewordenen Ehepaares. Während der Vorstellung sitzen Mann und Frau wie Klötze nebeneinander. Sie, in Gedanken versunken, trauert einer Liebesgeschichte nach, die vor kurzem zu Ende ging. In der Pause steht der Geliebte dann plötzlich vor ihr, weist sie aber, da er von der eigenen Gattin begleitet wird, mit einem angedeuteten Kopfschütteln ab, während ihr Mann mit den Worten „Etwas Frisches tut gut, nicht wahr?” die Sektgläser bringt. Die Rückkehr in den Alltag, mit der diese Geschichte endet, klingt regelrecht bedrohlich. Das Ehepaar steigt ins Auto und fährt aus dem Parkhaus: „Langsam glitt der Wagen die Rampe hoch. Draußen dann die Stadt, die Lichtreklamen, der Verkehr. Und Schweigen. Wie ein Urteil, das vollstreckt wurde.”
Wellershoff erzählt von Eheverhältnissen und Liebesbeziehungen, von Verstrickungen in ungelebte Wünsche und den Fallstricken der Sehnsucht. Er zeigt Menschen in ihrer Einsamkeit, mit all ihren intimen Begierden und Phantasien, ohne sie dabei jemals bloßzustellen. Ihre Illusionen sind nicht weniger real als die sogenannte Realität. Die Geschichten sind Momentaufnahmen, deren äußeres Geschehen eher unspektakulär wirkt, weil die Dramatik sich im Inneren der Figuren abspielt. Wellershoffs Helden sind Künstler, Autoren, Intellektuelle, also der Teil des Bürgertums, für den die bürgerlichen Konventionen des Zusammenlebens nicht selbstverständlich sind. Häufig handelt es sich um ältere Herren, die, von Krankheit gezeichnet, eine Art Inventur ihres Gefühlslebens erstreben. Aber ebenso glaubhaft kann Wellershoff aus der Perspektive einer jungen Studentin, einer Lyrikerin oder der Antiquitäten verkaufenden Ehefrau eines Innenarchitekten erzählen. Der letzte Satz ihrer Geschichte lautet: „Vielleicht kann ich mich einmal rächen, dachte sie. Wenn es dann noch wichtig ist.”
Das ist wie mit dem Beil geschrieben. Auch hier geht es um eine Ehe. Der Mann hat seine Frau in der Nacht zuvor und im eigenen Haus mit deren jüngerer Schwester betrogen. Minutiös schildert Wellershoff den Verlauf der Nacht, ein Sommerfest im Golfclub, die flirrende Atmosphäre und die leisen Veränderungen der emotionalen Gemengelage. Im Schlusssatz steckt der ganze Schmerz des Erlebten, die Möglichkeit der Rebellion und des Ausbruchs, aber auch die Rückkehr in ein resignatives „Weiter so”. Diese Wahl haben Wellershoffs Figuren immer wieder zu treffen. Indem sie keine Antwort darauf geben, entscheiden sie sich tendenziell eher zugunsten des Weitermachens. Der Abgrund, der sich geöffnet hat, schließt sich dann wieder.
Unterm Sternenhimmel
Und doch ist das „normale Leben”, von dem in der Titelgeschichte die Rede ist, viel mehr als nur eine aufrechterhaltene Kulisse der schönen Konventionen. In diesem Fall ist es ein Arzt, der seinem Patienten, einem älteren Schriftsteller, nach einer Herzattacke den floskelhaften Rat mitgibt, ins „normale Leben” zurückzukehren. Der Mann begibt sich daraufhin in seine Ferienwohnung nach Ahrenshoop und macht sich Hoffnungen darauf, die einstige Geliebte zurückzugewinnen. Ihr Besuch wird aber nicht zu einem Neuanfang, sondern zu einem letzten Abschied. Phantasie und Wirklichkeit lassen sich auch hier nicht zur Deckung bringen. Ist er also einmal mehr gescheitert, oder ist vielleicht gerade darin das „normale” Leben zu suchen? Der Schluss dieser Geschichte klingt für Wellershoff ungewohnt heiter. Da steht er am Strand unterm Sternenhimmel und ordnet die Gedanken: „Er war ein alter Mann, der auf Abruf lebte, versehen mit der Weisung, noch einmal und so lange es ging in sein normales Leben zurückzukehren. Wie auch immer es lief: Er hatte Grund, das zu feiern.” JÖRG MAGENAU
DIETER WELLERSHOFF: Das normale Leben. Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 306 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Dieter Wellershoffs Erzählungsband „Das normale Leben”
Am Ende steht der Satz: „Die Gefahr oder die Chance oder was immer es gewesen sein mochte, war vorbei.” Er ist programmatisch, wie alle Schlusssätze in diesem Buch. Die Erzählungen Dieter Wellershoffs sind vom Ende her zu lesen. Die letzte, nur vier Seiten lange Episode schildert, wie ein Mann auf der Straße einer ehemaligen Geliebten begegnet. Während sie aufeinander zugehen, überlegt er, ob er sie ansprechen soll und wie es wäre, die alte Beziehung noch einmal zu erneuern. Vielleicht müsste er nur ihren Namen sagen, um die Fremdheit zu überwinden. Aber dann sind sie auch schon aneinander vorbei gegangen. Beide tun so, als hätten sie sich nicht gesehen. Sie verschwindet wieder in der Menge. Er fühlt sich seltsam leicht und körperlos. Und dann kommt auch schon der abschließende Satz: „Die Gefahr oder die Chance oder was immer es gewesen sein mochte, war vorbei.”
Als „Probebühne” und „Simulationsraum” betrachtet Dieter Wellershoff die Literatur. Als „psychologischer Realismus” sind die Texte des Kölner Schriftstellers kategorisiert worden. Wellershoff ist ein erzählerischer Gentleman, immer korrekt, absolut formvollendet. Seine Schlusssätze sind so diskret wie unerbittlich. Sie schließen sich hinter den Geschichten wie Theatervorhänge und erweitern doch den Blick. Sie zeigen, dass die Normalität - ganz im Gegensatz zur formalen Intaktheit dieser Prosa - immer nur scheinbar wiederhergestellt ist. In ihnen steckt die vibrierende Anstrengung, die es kostet, eine mühsam etablierte Ordnung aufrechtzuerhalten.
„Alles war wie immer” endet eine Erzählung über den Opernbesuch eines sich zum Frösteln fremd gewordenen Ehepaares. Während der Vorstellung sitzen Mann und Frau wie Klötze nebeneinander. Sie, in Gedanken versunken, trauert einer Liebesgeschichte nach, die vor kurzem zu Ende ging. In der Pause steht der Geliebte dann plötzlich vor ihr, weist sie aber, da er von der eigenen Gattin begleitet wird, mit einem angedeuteten Kopfschütteln ab, während ihr Mann mit den Worten „Etwas Frisches tut gut, nicht wahr?” die Sektgläser bringt. Die Rückkehr in den Alltag, mit der diese Geschichte endet, klingt regelrecht bedrohlich. Das Ehepaar steigt ins Auto und fährt aus dem Parkhaus: „Langsam glitt der Wagen die Rampe hoch. Draußen dann die Stadt, die Lichtreklamen, der Verkehr. Und Schweigen. Wie ein Urteil, das vollstreckt wurde.”
Wellershoff erzählt von Eheverhältnissen und Liebesbeziehungen, von Verstrickungen in ungelebte Wünsche und den Fallstricken der Sehnsucht. Er zeigt Menschen in ihrer Einsamkeit, mit all ihren intimen Begierden und Phantasien, ohne sie dabei jemals bloßzustellen. Ihre Illusionen sind nicht weniger real als die sogenannte Realität. Die Geschichten sind Momentaufnahmen, deren äußeres Geschehen eher unspektakulär wirkt, weil die Dramatik sich im Inneren der Figuren abspielt. Wellershoffs Helden sind Künstler, Autoren, Intellektuelle, also der Teil des Bürgertums, für den die bürgerlichen Konventionen des Zusammenlebens nicht selbstverständlich sind. Häufig handelt es sich um ältere Herren, die, von Krankheit gezeichnet, eine Art Inventur ihres Gefühlslebens erstreben. Aber ebenso glaubhaft kann Wellershoff aus der Perspektive einer jungen Studentin, einer Lyrikerin oder der Antiquitäten verkaufenden Ehefrau eines Innenarchitekten erzählen. Der letzte Satz ihrer Geschichte lautet: „Vielleicht kann ich mich einmal rächen, dachte sie. Wenn es dann noch wichtig ist.”
Das ist wie mit dem Beil geschrieben. Auch hier geht es um eine Ehe. Der Mann hat seine Frau in der Nacht zuvor und im eigenen Haus mit deren jüngerer Schwester betrogen. Minutiös schildert Wellershoff den Verlauf der Nacht, ein Sommerfest im Golfclub, die flirrende Atmosphäre und die leisen Veränderungen der emotionalen Gemengelage. Im Schlusssatz steckt der ganze Schmerz des Erlebten, die Möglichkeit der Rebellion und des Ausbruchs, aber auch die Rückkehr in ein resignatives „Weiter so”. Diese Wahl haben Wellershoffs Figuren immer wieder zu treffen. Indem sie keine Antwort darauf geben, entscheiden sie sich tendenziell eher zugunsten des Weitermachens. Der Abgrund, der sich geöffnet hat, schließt sich dann wieder.
Unterm Sternenhimmel
Und doch ist das „normale Leben”, von dem in der Titelgeschichte die Rede ist, viel mehr als nur eine aufrechterhaltene Kulisse der schönen Konventionen. In diesem Fall ist es ein Arzt, der seinem Patienten, einem älteren Schriftsteller, nach einer Herzattacke den floskelhaften Rat mitgibt, ins „normale Leben” zurückzukehren. Der Mann begibt sich daraufhin in seine Ferienwohnung nach Ahrenshoop und macht sich Hoffnungen darauf, die einstige Geliebte zurückzugewinnen. Ihr Besuch wird aber nicht zu einem Neuanfang, sondern zu einem letzten Abschied. Phantasie und Wirklichkeit lassen sich auch hier nicht zur Deckung bringen. Ist er also einmal mehr gescheitert, oder ist vielleicht gerade darin das „normale” Leben zu suchen? Der Schluss dieser Geschichte klingt für Wellershoff ungewohnt heiter. Da steht er am Strand unterm Sternenhimmel und ordnet die Gedanken: „Er war ein alter Mann, der auf Abruf lebte, versehen mit der Weisung, noch einmal und so lange es ging in sein normales Leben zurückzukehren. Wie auch immer es lief: Er hatte Grund, das zu feiern.” JÖRG MAGENAU
DIETER WELLERSHOFF: Das normale Leben. Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 306 Seiten, 18,90 Euro.
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»Es ist die Präzision und Dichte von Dieter Wellershoffs literarischer Verhängnisforschung, die einen in Bann schlägt. In der epischen Erkundung bürgerlicher Daseinsverfehlungen [...] nicht zu übertreffen.« Michael Braun NZZ