Stephen Crane war ein Getriebener, er lebte ein Leben unter Hochdruck, als hätte er geahnt, dass ihm nur wenig Zeit bemessen war. Geboren 1871 in Newark, New Jersey, starb er nur achtundzwanzigjährig an Tuberkulose, die
er sich vermutlich als Schiffbrüchiger nach dem Untergang der Commodore zugezogen hatte - eine Erfahrung, deren literarische Verarbeitung seinen Ruhm als Erzähler begründen sollte.
Kritiker sahen in Crane durch seine intensiven Milieustudien und die Nähe zur Reportage den ersten amerikanischen Naturalisten, doch weist der Autor mit seinen Stilbrüchen, der rhythmisierten Sprache und den geradezu filmischen Dialogen eher ins 20. Jahrhundert, zu Faulkner und Joyce.
Hier nun sind Stephen Cranes stärkste (Meeres-)Erzählungen vereint - größten- teils erstmals auf Deutsch. Sie laden ein, diesen noch viel zu wenig bekannten Pionier der nordamerikanischen Moderne (neu) zu entdecken.
er sich vermutlich als Schiffbrüchiger nach dem Untergang der Commodore zugezogen hatte - eine Erfahrung, deren literarische Verarbeitung seinen Ruhm als Erzähler begründen sollte.
Kritiker sahen in Crane durch seine intensiven Milieustudien und die Nähe zur Reportage den ersten amerikanischen Naturalisten, doch weist der Autor mit seinen Stilbrüchen, der rhythmisierten Sprache und den geradezu filmischen Dialogen eher ins 20. Jahrhundert, zu Faulkner und Joyce.
Hier nun sind Stephen Cranes stärkste (Meeres-)Erzählungen vereint - größten- teils erstmals auf Deutsch. Sie laden ein, diesen noch viel zu wenig bekannten Pionier der nordamerikanischen Moderne (neu) zu entdecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2017Vier Männer im Boot, vom Kentern bedroht
Warum und wie oft muss man Klassiker neu übersetzen? Zum Beispiel Stephen Crane.
Anfang 1897 schiffte sich in Florida ein junger Mann auf einem Dampfer mit dem stolzen Namen "Commodore" nach Kuba ein. Es war keine Vergnügungsfahrt, denn der Mann sollte für eine große Zeitung über den Freiheitskampf der Kubaner gegen Spanien berichten, und im Laderaum lagen Waffen für die dortigen Freischärler. Unweit der Küste, an einer Sandbank, schlug das Schiff leck und sank. Der "Korrespondent" trieb dreißig Stunden lang in einem kleinen Beiboot mit dem Kapitän, dem Koch und einem Maschinisten in der aufgewühlten See. Da die erhoffte Rettung vom Ufer her ausblieb, musste der gefährliche Ritt durch die Brandung am Ende gewagt werden. Das Boot kenterte, drei konnten sich retten, der Maschinist ertrank.
Dieser Schiffbruch machte Schlagzeilen. Mit dem Privileg des Augenzeugen und mit professioneller Fixigkeit brachte der Journalist schon kurz nach der Rettung seine dramatische Version der Havarie als "Stephen Crane's Own Story" auf den Markt. Die Odyssee im Beiboot wurde dabei ausgespart. "Ich denke, ich werde diese Geschichte lieber ein andermal erzählen", hieß es vielversprechend.
Crane war damals mit einem Roman aus den Slums der Bowery und der Bürgerkriegsgeschichte "The Red Badge of Courage" bereits ein Markenname für die naturalistische Erkundung extremer Grenzsituationen. Statt wie sonst eine fiktionale Perspektive der Betroffenen zu entwerfen, konnte er jetzt aus dem eigenen todesnahen Erleben schöpfen. Gegenüber seinem englischen Bewunderer H. G. Wells beklagte er sich später über die karge Ausbeute des kubanischen Unternehmens, das seine Gesundheit zerrüttete - nur ein oder zwei Stories seien dabei herausgekommen. "Aber die sind unsterblich", gab Wells zurück. Er zitiert diese Unterhaltung in seinem Nachruf auf Crane, der mit 28 Jahren in Badenweiler an Tuberkulose starb.
Unsterblich ist kein zu großes Wort für "Das offene Boot", Cranes beste Geschichte. Sie wird in der dritten Person erzählt; Crane ist in der Rolle des Reporters mit an Bord und fungiert zugleich als Ironiker über dem Geschehen: "Von einer Theaterloge aus betrachtet, hätte das Ganze ohne Zweifel etwas sehr Malerisches gehabt . . ." So wechselt Nähe mit Distanz. Die Männer im Boot, so heißt es gleich am Anfang, können die Farbe des Himmels nicht kennen, weil sie wie gebannt auf die schiefergrau hochschäumenden Wogen starren. Am Ende glänzen die Wellen malerisch im Mondlicht, aber die Männer wissen aus ihrem enormen Erleben die Stimme des Meeres zu deuten. "They felt that they could be interpreters" heißt der nachklingende Schlusssatz.
Das Geschehen vollzieht sich in sieben Abschnitten, die eher Momentaufnahmen als vorwärtsdrängende Szenen eines Dramas sind, weil sie die Handlung zu einer subjektiv empfundenen Ewigkeit zerdehnen. Dabei spielt die motivische Wiederholung eine wichtige Rolle: die unablässig anrollenden Wellen, das ewige Wasserschöpfen, der unerreichbare Uferstreifen mit seinen ironischen Vertikalen Leuchtturm und Windmühle, und der refrainartig wiederholte Stoßseufzer: "Wenn ich jetzt hier ertrinke, warum im Namen aller Götter der sieben Meere war es mir dann vergönnt, so weit zu kommen?" Dies die Neuübersetzung von Lucien Deprijck; das Original sagt es etwas anders: "why, in the name of the seven mad gods who rule the sea . . ."
Die Götter spielen in diesem gar nicht mehr romantischen Naturspektakel verrückt, das heißt, sie sind demonstrativ abwesend. Wenn der Mensch merkt, dass die Natur ihn für irrelevant hält, so der Erzähler, möchte er am liebsten Ziegelsteine nach dem Tempel werfen und wird wütend, weil es weder Steine noch Tempel gibt. Die Windmühle ragt wie ein Riese am Ufer auf, aber sie kehrt der Not der Ameisen den Rücken zu. Diesselbe Welle, die den Reporter aus einer gefährlichen Strömung reißt, ertränkt den Maschinisten. Das offene Boot wird in dieser Konstellation zum Symbol für die subtle brotherhood of men im Zeichen des gemeinsamen Schiffbruchs. Man versteht sich auf wortkarge Weise und erfährt die Schönheit der Natur als Aspekt ihrer Furchtbarkeit.
Dass der Hamburger Mareverlag sich dieses Klassikers annehmen würde, der so gut in sein Programm passt, war absehbar. Unübersetzt war er nicht: Es gibt ein halbes Dutzend deutscher Fassungen, darunter sehr lesbare. Worin liegt also das Novum der Neuausgabe? Auf den ersten Blick in der Ausstattung, wie oft bei diesem Verlag von erlesener Schönheit. Dann in der Textauswahl des Bandes: Sie stellt der Titelgeschichte nicht nur die beiden anderen, stark abweichenden Fassungen des Schiffbruchs zur Seite, sondern auch eine Serie unterschiedlicher Geschichten mit maritimer Note. Was die Übersetzung angeht, so hält sich die Freude des Kritikers in Grenzen.
Die Seemannssprache klingt hier, wenigstens für Landratten, authentischer als früher: Die Ruderbank heißt Ducht, und ein Boot wird nicht zu Wasser gelassen, sondern abgefiert. Doch abgesehen davon, dass der Übersetzer, siehe oben, die Vorlage gern ein wenig verkürzt, den Satzbau entspannt und die Stilfarben ausbleicht, gibt es eine Steifheit des Tons, die so gar nicht zu Crane passen will: "Alles Gesprochene war den Vorgängen im Boot geschuldet" oder "Gleichmut der Natur angesichts des Kampfes jedes Einzelnen". Das Zischen einer Haiflosse, die das Wasser aufschlitzt, wird als "Sirren" wiedergegeben, und als sich dem Reporter eine rettende Hand entgegenstreckt, sagt er doch tatsächlich "Danke, alter Knabe"! Das implizite Versprechen jeder Neuübertragung eines Klassikers, diesen spürbar attraktiver zu präsentieren als die Vorläufer, wurde hier nur in recht äußerlichem Sinn gehalten.
WERNER VON KOPPENFELS
Stephen Crane: "Das offene Boot und andere Erzählungen".
Aus dem amerikanischen Englisch und hrsg. von Lucien Deprijck. Mare Verlag, Hamburg 2016. 238 S., geb. im Schuber, 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum und wie oft muss man Klassiker neu übersetzen? Zum Beispiel Stephen Crane.
Anfang 1897 schiffte sich in Florida ein junger Mann auf einem Dampfer mit dem stolzen Namen "Commodore" nach Kuba ein. Es war keine Vergnügungsfahrt, denn der Mann sollte für eine große Zeitung über den Freiheitskampf der Kubaner gegen Spanien berichten, und im Laderaum lagen Waffen für die dortigen Freischärler. Unweit der Küste, an einer Sandbank, schlug das Schiff leck und sank. Der "Korrespondent" trieb dreißig Stunden lang in einem kleinen Beiboot mit dem Kapitän, dem Koch und einem Maschinisten in der aufgewühlten See. Da die erhoffte Rettung vom Ufer her ausblieb, musste der gefährliche Ritt durch die Brandung am Ende gewagt werden. Das Boot kenterte, drei konnten sich retten, der Maschinist ertrank.
Dieser Schiffbruch machte Schlagzeilen. Mit dem Privileg des Augenzeugen und mit professioneller Fixigkeit brachte der Journalist schon kurz nach der Rettung seine dramatische Version der Havarie als "Stephen Crane's Own Story" auf den Markt. Die Odyssee im Beiboot wurde dabei ausgespart. "Ich denke, ich werde diese Geschichte lieber ein andermal erzählen", hieß es vielversprechend.
Crane war damals mit einem Roman aus den Slums der Bowery und der Bürgerkriegsgeschichte "The Red Badge of Courage" bereits ein Markenname für die naturalistische Erkundung extremer Grenzsituationen. Statt wie sonst eine fiktionale Perspektive der Betroffenen zu entwerfen, konnte er jetzt aus dem eigenen todesnahen Erleben schöpfen. Gegenüber seinem englischen Bewunderer H. G. Wells beklagte er sich später über die karge Ausbeute des kubanischen Unternehmens, das seine Gesundheit zerrüttete - nur ein oder zwei Stories seien dabei herausgekommen. "Aber die sind unsterblich", gab Wells zurück. Er zitiert diese Unterhaltung in seinem Nachruf auf Crane, der mit 28 Jahren in Badenweiler an Tuberkulose starb.
Unsterblich ist kein zu großes Wort für "Das offene Boot", Cranes beste Geschichte. Sie wird in der dritten Person erzählt; Crane ist in der Rolle des Reporters mit an Bord und fungiert zugleich als Ironiker über dem Geschehen: "Von einer Theaterloge aus betrachtet, hätte das Ganze ohne Zweifel etwas sehr Malerisches gehabt . . ." So wechselt Nähe mit Distanz. Die Männer im Boot, so heißt es gleich am Anfang, können die Farbe des Himmels nicht kennen, weil sie wie gebannt auf die schiefergrau hochschäumenden Wogen starren. Am Ende glänzen die Wellen malerisch im Mondlicht, aber die Männer wissen aus ihrem enormen Erleben die Stimme des Meeres zu deuten. "They felt that they could be interpreters" heißt der nachklingende Schlusssatz.
Das Geschehen vollzieht sich in sieben Abschnitten, die eher Momentaufnahmen als vorwärtsdrängende Szenen eines Dramas sind, weil sie die Handlung zu einer subjektiv empfundenen Ewigkeit zerdehnen. Dabei spielt die motivische Wiederholung eine wichtige Rolle: die unablässig anrollenden Wellen, das ewige Wasserschöpfen, der unerreichbare Uferstreifen mit seinen ironischen Vertikalen Leuchtturm und Windmühle, und der refrainartig wiederholte Stoßseufzer: "Wenn ich jetzt hier ertrinke, warum im Namen aller Götter der sieben Meere war es mir dann vergönnt, so weit zu kommen?" Dies die Neuübersetzung von Lucien Deprijck; das Original sagt es etwas anders: "why, in the name of the seven mad gods who rule the sea . . ."
Die Götter spielen in diesem gar nicht mehr romantischen Naturspektakel verrückt, das heißt, sie sind demonstrativ abwesend. Wenn der Mensch merkt, dass die Natur ihn für irrelevant hält, so der Erzähler, möchte er am liebsten Ziegelsteine nach dem Tempel werfen und wird wütend, weil es weder Steine noch Tempel gibt. Die Windmühle ragt wie ein Riese am Ufer auf, aber sie kehrt der Not der Ameisen den Rücken zu. Diesselbe Welle, die den Reporter aus einer gefährlichen Strömung reißt, ertränkt den Maschinisten. Das offene Boot wird in dieser Konstellation zum Symbol für die subtle brotherhood of men im Zeichen des gemeinsamen Schiffbruchs. Man versteht sich auf wortkarge Weise und erfährt die Schönheit der Natur als Aspekt ihrer Furchtbarkeit.
Dass der Hamburger Mareverlag sich dieses Klassikers annehmen würde, der so gut in sein Programm passt, war absehbar. Unübersetzt war er nicht: Es gibt ein halbes Dutzend deutscher Fassungen, darunter sehr lesbare. Worin liegt also das Novum der Neuausgabe? Auf den ersten Blick in der Ausstattung, wie oft bei diesem Verlag von erlesener Schönheit. Dann in der Textauswahl des Bandes: Sie stellt der Titelgeschichte nicht nur die beiden anderen, stark abweichenden Fassungen des Schiffbruchs zur Seite, sondern auch eine Serie unterschiedlicher Geschichten mit maritimer Note. Was die Übersetzung angeht, so hält sich die Freude des Kritikers in Grenzen.
Die Seemannssprache klingt hier, wenigstens für Landratten, authentischer als früher: Die Ruderbank heißt Ducht, und ein Boot wird nicht zu Wasser gelassen, sondern abgefiert. Doch abgesehen davon, dass der Übersetzer, siehe oben, die Vorlage gern ein wenig verkürzt, den Satzbau entspannt und die Stilfarben ausbleicht, gibt es eine Steifheit des Tons, die so gar nicht zu Crane passen will: "Alles Gesprochene war den Vorgängen im Boot geschuldet" oder "Gleichmut der Natur angesichts des Kampfes jedes Einzelnen". Das Zischen einer Haiflosse, die das Wasser aufschlitzt, wird als "Sirren" wiedergegeben, und als sich dem Reporter eine rettende Hand entgegenstreckt, sagt er doch tatsächlich "Danke, alter Knabe"! Das implizite Versprechen jeder Neuübertragung eines Klassikers, diesen spürbar attraktiver zu präsentieren als die Vorläufer, wurde hier nur in recht äußerlichem Sinn gehalten.
WERNER VON KOPPENFELS
Stephen Crane: "Das offene Boot und andere Erzählungen".
Aus dem amerikanischen Englisch und hrsg. von Lucien Deprijck. Mare Verlag, Hamburg 2016. 238 S., geb. im Schuber, 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ausgewählte Erzählungen Cranes, von Lucien Deprijck einfühlsam ins Deutsche übertragen, präsentiert in einer schön gebundenen Ausgabe im Schuber. Sie wird der Bedeutung dieses Autors - nach vielen Taschenbuchausgaben - endlich gerecht."
Deutschlandfunk
Deutschlandfunk