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Ein intensiver Roman von den Abgründen und der unausgesprochenen Komplizenschaft in einer modernen Ehe.

Produktbeschreibung
Ein intensiver Roman von den Abgründen und der unausgesprochenen Komplizenschaft in einer modernen Ehe.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Zu groß für die Möbel, zu klein für den Palast
D'Annunzios Roman "L'Innocente" / Von Eberhard Rathgeb

Ein Mann hält ein Kind im Arm. Die Nacht ist kalt, das Fenster offen. Das Kind ist kaum geboren und braucht vor allem Wärme. Der Mann hebt das Kind in die Winterluft. Es genügen Sekunden, damit die Eiseskälte sich im Kind festsetzt. Am nächsten Tag ist das Kind tot. Keiner ahnt den Mord. Der Mörder wohnt im selben Haus, in dem er den Mord ausgeführt hat, und er lebt im Kreis der Familie, die ihm reinen Gewissens glaubt. Er muß nicht fürchten, daß eine Instanz auf Erden ihn richten könnte. Und dennoch treibt es ihn, sich anzuklagen, sich zu erklären, sein Geheimnis zu enthüllen. Das ist die Exposition des Romans "L'Innocente", den Gabriele D'Annunzio im Jahr 1881 schreibt. Das Buch wird ein Jahr darauf in Italien veröffentlicht, kurze Zeit später liegt es in französischer Übersetzung vor, und 1886 erscheint der Roman auf deutsch mit dem Titel "Der Unschuldige". Das Buch ist zu jener Zeit ein großer Erfolg. Es liegt nun in neuer deutscher Übersetzung unter dem Titel "Das Opfer" vor.

Als Hugo von Hofmannsthal den Roman rezensiert, weist er auf eine Schwäche des Buches hin. Er sieht, daß der "raffinierte Verismus der Seelenzergliederung" in "Phantastik umschlägt", und zwar dort, wo die Ehefrau des Kindmörders sich in ein Symbol auflöst, ganz "leidende Anmut, eine graziöse Märtyrerin, reizend und unwirklich" wird. Dieser Verlust an Individualität ist der Konstruktion geschuldet. Der Roman "L'Innocente" ist vor allem ein psychologisches Experiment über Moral, ein Exempel in Sachen Gemeinverträglichkeit. Die Menschen in D'Annunzios Geschichten, meint Hofmannsthal, hätten einen "gemeinsamen Grundzug: jene unheimliche Willenlosigkeit, die sich nach und nach als Grundzug des in der gegenwärtigen Literatur abgespiegelten Lebens herauszustellen scheint, jenes Erleben des Lebens nicht als eine Kette von Handlungen, sondern von Zuständen".

Gabriele D'Annunzio hatte in seinem ersten Roman "Lust" die ästhetische Lebenshaltung herausgefordert. Seinem Helden Andrea Sperelli gab er die Kontur eines Menschen, dem der Ausdruck mehr wert ist als der Gedanke, der sein Dasein als Kunstwerk zu gestalten versucht und dem die moralische Maxime mitgegeben ist, die Kunst des Lebens bestehe darin, die Wahrheit zu verdunkeln. Keine leichte Aufgabe für den einundzwanzigjährigen Erben Andrea Sperelli, der sich im Sommer 1884 in Rom im Palazzo Zuccari einrichtet und zum Künstler aus Gelegenheit avanciert, während er der Empfindsamkeit seiner Nerven und seiner Sinne nicht Herr wird. Die wollüstige, allseits begehrte Elena verführt Sperelli im ersten Teil des Buches; die holde und treue Maria, Mutter einer Tochter, läutert ihn im zweiten, und im dritten verlangt ihn, der alle guten Vorsätze über Bord wirft, nach beider Liebe. Das hat zur Folge, daß er beide Frauen verliert, weil er beide, die eine mit der anderen, betrügt.

Am Ende des Romans kehrt ein niedergeschlagener Held in seine Wohnung heim. Das Leben als Kunstwerk liegt in Scherben, weil keine Strenge dem Treiben eine Grenze setzt, der reine Ausdruck ohne den festen Willen zur Form im "Jetzt" versandet. Die ästhetische Lebenshaltung geht an ihrem inneren Widerspruch zugrunde, alles der Freiheit des Genießens zu unterwerfen und damit doch von allem abhängig zu sein. D'Annunzio erweist sich schon in seinem Erstlingswerk als Meister der Seelenschau und psychologischen Raffinesse.

Ungebrochen aber bleibt die Hoffnung D'Annunzios, für die Souveränität der Individualität einen bleibenden, den Genuß überdauernden Ausdruck zu finden. Es ist nur konsequent, daß er sich darauf einem psychologischen Experiment widmet: Der neue Held heißt Tullio Hermil, und er ist insofern ein legitimer Nachfolger des Andrea Sperelli, als ihm zwar die Kunst als Ausdruck seiner Eigenart verwehrt ist, er aber ebenso sein Leben von der Idee her zu gestalten trachtet, daß er eine Ausnahme ist, einzigartig. Seit sieben Jahren ist er mit Giuliana verheiratet. Sie haben zwei Töchter. Vier Jahre besteht die Ehe, als Tullio zum erstenmal seine Frau betrügt. Seine Eskapaden verletzen seine Frau tief. Aber er zwingt sie, mit den Konsequenzen zweier Ansichten zu leben: Zum einen ziert er sich als Gefangener einer unerschöpflichen Gier nach sinnlichen Sensationen, zum anderen stilisiert er sich als auserlesenen Geist, der es als Verrat an sich selbst versteht, wenn er seinen exquisiten Neigungen zu den Frauen nicht nachgegeben hätte. Wenn ihn aber die Sündenlast des Egoismus zu sehr drückt, bittet er seine Frau um Vergebung, beschwört die Tragik seiner sinnlichen Natur und will seine Taten im tiefen Brunnen des Vergessens versenkt sehen.

Gabriele D'Annunzio verwirft für seine Helden die Vorstellung, es gäbe so etwas wie einen Willen als Quelle des Handelns. Der freie Wille hätte von vornherein eine Moral legitimiert, in der für eine Ausnahme kein Platz gewesen wäre. Wenn es nur um Gründe und Ursachen ginge, dann wäre das Pathos des Sinnlichen eine schale Geste, die Helden würden vergleichbar, aus den Ausnahmen würden Mitläufer.

Die sogenannten Willenskundgebungen seziert D'Annunzio so lange, bis er in jeder die Nervenfasern bloßgelegt hat. Er macht aus Handlungen Zustände, die dank ihrer körperlichen Gebundenheit nicht reproduzierbar, nicht wiederholbar, nicht vergleichbar sein sollen. In diesen Freiraum stellt D'Annunzio seinen Helden. Der Kette von Zuständen entspricht eine erzählerische Perspektive der Innerlichkeit, die Monologisierung der Ereignisse. Darin liegt die Modernität des Romans "L'Innocente". Die Reizbarkeit schlägt in der Innerlichkeit um in einen Sturm der Regungen, der zumindest die Fiktion eines Selbst rettet.

Der Kummer bringt Giuliana nicht um. Sie lernt gar einen gefeierten Dichter kennen, der ihr nicht nur ein Buch widmet, sondern sie auch schwängert. Die verzweifelte Giuliana erfleht von Tullio Vergebung, ist zum Selbstmord bereit, um die Schande von der Familie zu nehmen. Im Ehemann, der er nun ein von Leid zu Boden gedrücktes Geschöpf sieht, wächst das Mitleid. Die beiden schließen einen Bund des Schweigens. Das Kind läßt aber sich nicht vergessen, es wächst und wird geboren. In Tullio aber setzt sich die Idee fest, er müsse das Kind aus der Welt schaffen , um seine Frau, sich selbst, sie beide als Paar, seine Familie vor Traurigkeit und Trug zu retten. Das Kind wird der Illusion des Vergessens geopfert. Doch diese Tat bringt die erhoffte Erlösung von der Erinnerung nicht.

Wem könnte er seine Tat bekennen, wem sein Geheimnis enthüllen? Diese Frage ist kokett. Der Roman selbst inszeniert ein Bekenntnis, indem er ein "Ich" als Mittelpunkt alles Geschehens inthronisiert. Die Psychologie eines Helden soll die moralische Norm unterlaufen, der Ausdruck des Seelischen die Strenge des moralischen Denkens aufbrechen. Doch tatsächlich ist der Roman ein Geständnis, weil das intellektuelle Terrain des Selbst auf dem Boden der allgemeinen Moral abgesteckt wird. D'Annunzio bietet seine darstellerischen Kräfte auf, um eben nicht, wie Hofmannsthal vermutet, in die bürgerliche Moral einzuschwenken. Und doch unterläuft der Roman dieses Konzept, weil D'Annunzio die Ausnahme innerhalb der Gemeinschaft etabliert. So wird aus dem Bekenntnis das Geständnis einer Schuld. Erst diese moralische Kategorie erlaubt es D'Annunzio, die Einzigartigkeit hervortreten zu lassen.

Tullio ist als Versuch moralischer Individualität gescheitert. Das psychologische Experiment wird nach der Tat abrupt abgebrochen. Es gibt kein Danach, weil alles nur auf diese Tat hin konzipiert war. So bleibt nur die Einsicht, daß ein Leben außerhalb der moralischen Gemeinschaft nicht möglich ist, wenn es dem Täter nicht die Sprache verschlagen soll. Jedes Reden, auch im Bekenntnis, hat einen Ansprechpartner, und mag er in einem Selbst liegen, mit dem Zwiesprache gehalten werden kann. Eine Tat mit der Vorbemerkung zu gestehen, menschliche Gerechtigkeit sei für diese Tat nicht zuständig, ist ein Kunstgriff, der nur aus dem Plan zu erklären ist, endlich einen Weg zu finden, wie ein "ästhetischer Traum", also Eigenart, Ausnahme, Wirklichkeit werden kann.

Der Titel der neuen und im Vergleich zur alten besseren deutschen Übersetzung "Das Opfer" verfehlt hier einen Zusammenhang der Werke. Er nimmt die Bemerkung Hofmannsthals von der "Atmosphäre des Familienzimmers" auf und suggeriert einen Psychologismus der Beziehung, für den D'Annunzio taub ist und den erst Luchino Visconti heraushört: Knapp hundert nach dem Erscheinen des Romans wird im Jahr 1976 Luchino Viscontis Film "L'Innocente - Die Unschuld" aus dem Nachlaß des im selben Jahr verstorbenen Regisseurs zum ersten Mal aufgeführt. Visconti hatte D'Annunzios Buch zur Vorlage eines Films gemacht, der die Distanz zum Roman nicht aufhebt, sondern sie verstärkt. Er hatte von dem Roman alles abgelöst, was dieser nur seinem gedanklichen Gehalt, seiner Stellung im Werk D'Annunzios verdankt. Die Adaption des Stoffes ist zu einer genuinen Anverwandlung geworden. Visconti zieht die Geschichte von der Unschuld in seine Abschiedsgeste an eine versunkene Welt mit ein.

Die Zeit der alten, adligen Welt ist, so zeigt es Viscontis Film "L'Innocente", endgültig vorbei. Geblieben sind die Häuser, und den Menschen, die dort noch wohnen, fällt es zunehmend schwerer, das diesen Räumen entsprechende Format an den Tag zu legen. D'Annunzio legt seine ganze Kraft in das Unternehmen, nicht nur zur Generation derer zu gehören, die, wie Hofmannsthal sagt, "Möbelpoesie" schreiben, sondern er will die Gehäuse der großen Zeiten wieder mit Leben füllen. Viscontis wehmütige Gelassenheit dagegen ist der Erkenntnis geschuldet, daß es in der historischen Zeit keine Wiederholung geben kann. Es ist dieses Wissen, das den Film von der Romanvorlage trennt und den Roman in die Ferne der Jahrhundertwende rückt.

Die Handlung des Films "L'Innocente" nimmt Visconti ganz in die Räume zurück. Die Innerlichkeit des Romans wird zum Innenraum. Aus dem Monolog des Helden wird ein Dialog mit den beiden Frauen, mit der Ehefrau Giuliana und der Geliebten Teresa, von Gesichtern in Großaufnahme. In den Palästen und Villen wirken die Figuren einsam und verloren. Nur noch sogenannte Gesellschaften vermögen die entsprechenden Maße anzunehmen und die Räume zu füllen. Es fehle den einzelnen, insbesondere aber dem Helden, an Statur. Visconti stellt Tullio zwischen zwei Frauen, die er besitzen will und die er beide verliert, ähnlich wie es Andrea Sperelli mit Elena und Maria im Roman "Lust" ergeht. Tullios Niederlage besiegelt Visconti mit einem Selbstmord, das letzte Schauspiel eines Helden, der keiner ist, weil er Freiheit nur als Spiel ohne Ernst kennt. Bei Visconti triumphieren die Frauen: Die Ehefrau verstößt Tullio, als sie erfährt, daß er ihr Kind umgebracht hat. Und die Geliebte läßt Tullio fallen, weil er letztlich für sie nur eine Affäre unter anderen war. Aus ihrem Mund stammen die Sätze, die Tullio auf ein Mittelmaß reduzieren: "Wer weiß, warum ihr Männer den Wunsch habt, uns mit der einen Hand zu den Sternen hinaufzuheben und mit der anderen uns hinabzuziehen. Wieso laßt ihr uns hier auf Erden nicht einfach an eurer Seite gehen wie ein Geschöpf neben dem anderen. Die Frau an der Seite des Mannes. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger." Das ist zuviel verlangt. Der Held schießt sich theatralisch in die Brust. Die Geliebte flüchtet aus dem monströsen Haus und verschwindet im Morgennebel. Und Visconti hat aus dem Barock der Innerlichkeit, dem D'Annunzio anhängt, ein klassisches psychologisches Problem herausgeschlagen.

Gabriele D'Annunzio glaubt, das Selbst als Bekenntnis in Szene setzen zu können und ihm dadurch Größe zu geben. Aber die Anlage des Romans macht aus dem Bekenntnis ein Geständnis. Er findet keine Lösung für das moralische Dilemma der einzigartigen Tat in der Welt des Allgemeinen. Die Moral der Ausnahme bleibt Fiktion. Erst im Roman "Das Feuer", der im Jahre 1900 in Italien erscheint, gelingt es D'Annunzio, die Ästhetisierung der Individualität und die der Moral in der Vorstellung des Künstlers ineinanderfließen zu lassen. Über den neuen Helden hieß es dort: "Das außerordentliche Gefühl, das ihn mit Staunen erfüllt hatte, als er vom Thron der Dogen zum Volk gesprochen, nahm von neuem Besitz von ihm. In die Gemeinschaft seiner Seele mit der Seele der Menge hatte sich etwas Geheimnisvolles gemischt, etwas beinahe Göttliches; das Gefühl, das er für gewöhnlich von sich selbst hatte, war unendlich größer, machtvoller geworden; eine unbekannte Kraft schien in ihm entstanden zu sein, die die Grenzen seiner Person verwischte und seiner einzelnen Stimme die Machtfülle eines Chores verlieh. Heimlich verborgen schlummerte also in der Menge eine Schönheit, aus der nur der Dichter und der Held Blitze ziehen konnten." So gewinnt der "ästhetische Traum" langsam Ausmaße, für die die Paläste von einst schließlich zu klein wurden.

Gabriele D'Annunzio: "Das Opfer". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Virgilio Iafrate. Matthes & Seitz, München 1997. 337 S., geb., 48,- DM.

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