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Produktdetails
  • Steidl Taschenbücher
  • Verlag: Steidl
  • Originaltitel: Beneath the Stone the Scorpion
  • Seitenzahl: 320
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 282g
  • ISBN-13: 9783882436822
  • ISBN-10: 3882436824
  • Artikelnr.: 25264415
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.1997

Boulevard Balkan
George Taboris Debütroman aus dem Jahr 1944 · Von Peter Demetz

Die Archäologie der Literatur ist eine undankbare, riskante Affäre, aber diesmal, im Falle George Taboris, ist das anders. Sein erster Roman, den der Steidl-Verlag nach mehr als fünfzig Jahren wieder in einer deutschen Übersetzung publiziert, signalisiert einen klugen und widerstandsbereiten Kopf; und es ist gar nicht notwendig, uns mit Nachweisen zu kommen, wie das Wend Kässens in seinem sonst so instruktiven Nachwort tut, Tabori wäre schon immer von der richtigen Partei gewesen. Nur das? Es müßte auch andere Gründe geben als die masochistische Sucht nach ritueller Betroffenheit, um einen spannenden Roman mit intellektuellem Vergnügen zu lesen, und selbst wenn es ein höchst inkorrektes Vergnügen wäre.

Taboris Roman "Das Opfer", zum ersten Mal 1944 in London und dann im Frühling 1945 in New York erschienen, ist ein politischer Roman noir der besten Sorte, mit allem, was dazugehört, Nazi-Schurken, rumänischen Mata-Hari-Imitationen, einer höheren Tochter linker Observanz (Taboris Lieblingsgeschöpf), balkanischen Cafés mit bulgarischen Attachés dritten Ranges, Istanbuler Liebesnestern, und wenn sich die unvorhergesehenen Ereignisse häufen, ist das nie Zufall, denn die Geheimdienststellen, die einen wie die anderen, haben ihre Finger im schmutzigen Spiel. Tabori war also schon immer ein geschickter Mixer: viel Graham Greene, zu Zeiten ein Gran Arthur Koestler, auch alte Walter-Slezak-Anekdoten, von wegen Lokalfarbe, und epigrammatische Formulierungen, die an die Budapester Komödien von Ferenc Molnár erinnern. "Sie beichtete schon, ehe sie zu sündigen begann", so heißt es von einer Engländerin und kühlen Ehefrau.

Dieser Roman ist durch und durch Theater, denn der Erzähler sagt kein Wort, und allein die Figuren reden laut oder in stummen Monologen. Die Ereignisse sind, ganz nach der aristotelischen Boulevard-Manier, auf einen Abend und eine lange Nacht zusammengedrängt, und die enge Szene, das feudale Quartier eines deutschen Majors im okkupierten Serbien, entfaltet sich durch obsessive Erinnerungen und durch die Spionageakten, die ein erstaunlicher Agent der deutschen Abwehr mit sich schleppt, über viele Städte und Vorkriegsjahre hinweg.

Ein englischer Captain, Fallschirmspringer, wird von deutschen Mannschaften aufgegriffen und dem Major präsentiert, der sich als Gentleman der alten Schule zeigen will und zugleich nicht umhinkann, dem Engländer die eigene gesellschaftliche Überlegenheit zu beweisen. Jedenfalls gelingt es dem Captain, dem Major nicht in die kleinen psychologischen Fallen zu gehen, die er für ihn parat hält. Er darf im Gastzimmer ruhen, und da trifft auch schon der Abwehragent aus dem Hauptquartier ein, der den Captain als Londoner Auslandskorrespondenten identifiziert, den er in Budapest und Sofia beschattet hat. Der Engländer wirbt um die schweigsame Flora, und die ist die Tochter eines einflußreichen Publizisten der ungarischen Landwirtepartei, den die Wilhelmstraße für sich zu gewinnen hofft.

Wird der Engländer sprechen, seinen Auftrag und Helfershelfer verraten oder die unerträgliche Tortur auf sich nehmen, die der Agent für ihn bereithält? Die unvorhergesehene Wendung bleibt nicht aus, wir dürfen aufatmen, aber auch nicht ganz so frei, denn wir bewegen uns nicht in der Welt James Bonds, und Tabori kennt die zerrissene Welt, von der er schreibt, aus eigener Erfahrung. Seine politischen Details sind erdrückend genau.

Der Verlag hat sich, zumindest laut Klappentext, deshalb dazu entschlossen, Taboris Erstling aufzulegen, weil der Roman, der die Wandlungen eines deutschen Majors zu verstehen suchte, von der amerikanischen Kritik "mit Empörung" aufgenommen worden war; wir sollen den malträtierten Autor für die amerikanische Ungunst entschädigen. Das ist aber gar nicht notwendig, ein Blick in den amerikanischen "Book Review Digest" (Band 1945) belehrt darüber, daß die wichtigsten amerikanischen Organe, einschließlich der "New York Times", des "New Yorker" und der damals noch bedeutenden "Saturday Review of Literature", rund acht Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht mit ihrem Lob nicht sparten.

Die "New York Times" nannte das Buch einen der "eindrucksvollsten und treffendsten Romane, die dem Krieg entstammten", und rühmte Tabori als "Meister der Imagination", der "New Yorker" sprach von einem jener "eleganten Thriller, die zivile Schrecknisse verbergen"; die "Saturday Review of Literature" lobte die "gute, sehr gute Qualität seines Schreibens, die dramatische Komposition und die dunkle, gespannte Atmosphäre der quälerischen Introspektion" des Majors.

Man kann also nicht eben behaupten, daß die amerikanischen Kritiker Taboris literarische Tugenden ignoriert hätten; die Frage ist viel eher, ob Major von Borst die Hauptfigur genannt werden darf, die all unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll, oder der erbarmungslose Agent Hirtenberg (in der Literatur wäre es nicht das erste Mal, daß uns das Satanische ganz besonders anlockt). Der Major ist im Grunde ein Pragmatiker, der sich an die kleinen Dinge des Dienstbetriebes hält, um sich im "Korsett" der Tradition wohl zu fühlen; und solange er als "Deutscher und Offizier" noch weiß, daß die systematische Balance der Legitimität funktioniert, hier Wehrmacht, dort Partei, mag "der Österreicher" mit den "Juden, Zigeunern und Eskimos" tun, was er will.

Das ist wahrhaftig nicht neu, und je mehr sich Borst in seinen inneren Monologen selbst entblößt, desto deutlicher tritt der Langweiler aus dem Adlon zutage - es ist allein die geliebte und gehaßte Nadja, seine serbische Ehefrau mit der gelblichen Haut und den langen Armen, die ihn, gegen seinen Willen, zu Verwirrung, Empfindungskraft, Todesangst und Menschlichkeit reizt. Ohne Nadja, die nicht nur dem Namen nach aus der surrealen Welt André Bretons kommt, wäre es um seine Humanität übel bestellt und jede Wandlungsmöglichkeit ausgeschlossen.

Taboris schärfere Provokation liegt darin, nicht allein den preußischen Major verstehen zu wollen. Mehr noch: Er will den Agenten Hirtenberg, gegen alle Abstraktionen von Nazi-Schergen, individualisieren, gewissenlos, ehrgeizig, zynisch und zugleich von einer Intelligenz, der es weder an Witz noch an analytischer Sachlichkeit mangelt, und wenn Hirtenberg gar beginnt, von der Schönheit Istanbuls zu schwärmen oder von den griechischen Verkäuferinnen, deren "Hintern in den engen Kleidern wie Gelee wackeln", höre ich eher Tabori selbst als die Figur.

Die schreckliche Vereinfachung ist jedenfalls Taboris Sache nicht, auch nicht im Schrecklichen; und nirgends wird der Gegensatz von zynischer Stimme und leidenschaftlichen Geschehnissen produktiver als im tragischen Kernstück des Romans, in dem Hirtenberg, kalt und kalkulierend, die Geschichte von der glühenden Zuneigung des Engländers zur zögernden Flora aus seinen Erinnerungen, Akten und Protokollen abgehörter Telefongespräche rekonstruiert. Kälte und Emotionalität reiben sich aneinander, und die Geschichte von Liebe und Tod, die sonst Gefahr liefe, im Kitsch zu verdämmern, bleibt uns, eben weil der Erzähler seine Gefühle, sofern er welche besitzt, auf Eis gelegt hat, unvergeßlich ins Gedächtnis eingebrannt (so könnte Jago über Desdemona berichten, wenn er für den türkischen Geheimdienst gearbeitet hätte).

Die Übersetzerin Ursula Grützmacher-Tabori ist sich klar darüber, daß sie dem Roman noir am besten dient, wenn sich die Sprache nicht gegen die Spannung schiebt, und ich nehme mir das Privileg des Pedanten heraus, an ihrer flüssigen Version ein wenig zu tüfteln, weil mich manche Anachronismen in meinem Illusionsbedürfnis stören. Ich bin fast gewiß, daß ein Offizier aus gutem Hause im Jahre 1941 seine Pläne nicht "durchzieht", sondern ausführt - ebenso wie der Agent sich nicht als "Brutalo" bezeichnen würde. Schwamm drüber: Der alte Roman ist lesbar wie am ersten Tag, und Tabori stellt uns schon in seinem Erstling die Frage, ob wir im politischen Stoffe steckenbleiben oder uns zur freien Anschauung seines literarischen Arrangements, um nicht zu sagen der Form, erheben wollen.

George Tabori: "Das Opfer". Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wend Kässens. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Grützmacher-Tabori. Steidl Verlag, Göttingen 1996. 256 S., geb., 38,- DM.

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