Produktdetails
- Bastei Lübbe Taschenbücher
- Verlag: Bastei Lübbe
- Gewicht: 130g
- ISBN-13: 9783404241170
- Artikelnr.: 24379944
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2008Die Unmöglichkeit der Unmöglichkeit
Was wäre, wenn die Achsenmächte den Krieg gewonnen hätten? Philip K. Dicks beunruhigender Roman "Das Orakel vom Berge" wird wiederaufgelegt
Mancher hat sich später gefragt, wann das ganze Elend begonnen habe, ob es schon damals, 1932, war, als Franklin D. Roosevelt erschossen wurde, oder erst gegen Ende der Dreißiger, als Amerika noch immer keinen Weg aus der Weltwirtschaftskrise fand. Als die Japaner dann Pearl Harbor bombardierten, war es jedenfalls zu spät, die Weichen anders zu stellen, und als das Deutsche Reich seine erste Atombombe über New York abwarf, kapitulierten die Vereinigten Staaten bedingungslos.
Nein, wie die Deutschen und die Japaner den Zweiten Weltkrieg gewannen, die Erde unter sich aufteilten und die Vereinigten Staaten zerstückelten, das ist nicht die Geschichte, die Philip K. Dick in seinem Roman "Das Orakel vom Berge" erzählt; es ist die Vorgeschichte - und in der Gegenwart dieses Buchs haben soeben die sechziger Jahre begonnen, ein graues, träges, melancholisches Jahrzehnt, das nichts gemein hat mit den bunten, lustigen Sechzigern, an die wir uns zu erinnern glauben. Der Westen, die Pazifischen Staaten von Amerika, ist besetzt von den Japanern, die mit autoritärer Milde herrschen. Im Osten, der unter deutscher Verwaltung steht, geht es, wie man sich erzählt, viel grausamer zu. Im Herzland, in den Rocky Mountains, liegt das unabhängige Terrain, das Vichy der Amerikaner. Und in Berlin, so wird gemeldet, ist der Führer, Martin Bormann, verstorben; Joseph Goebbels hat die Diadochenkämpfe gewonnen, und weil die Leute an der Westküste nichts Genaues wissen, flüstern sie einander Gerüchte zu: Werden die Deutschen, fünfzehn Jahre nach dem letzten Krieg, ihre Wasserstoffbomben auf Japan schießen?
"Das Orakel vom Berge" ist unter jenen Romanen, die, kontrafaktisch gewissermaßen, einen anderen Verlauf der Geschichte imaginieren, nicht der erste - und der beste, wenn man literarischen Feinsinn und die sogenannte Originalität des Ausdrucks zum Maßstab machte, ist er sicher auch nicht. "The Man in the High Castle" (wie der Originaltitel heißt) ist aber, scheinbar paradox, paradigmatisch und einzigartig zugleich - ein Werk der Verstörung, der Beunruhigung, ein Roman, der nicht nur die Grenzen seines Genres sprengt; seine Wirkung und seine Wucht reißen auch die meisten jener Bastionen nieder, welche die sogenannte Wirklichkeit davor schützen sollen, dass, wenn es zu eng wird im Reich des Fiktionalen, die Geister und Gespenster zu uns herüberkommen, um uns zu verzaubern. Ich habe, als weltraumsüchtiger, überlichtgeschwindigkeitsbetrunkener, zukunftsbesessener Elf- oder Zwölfjähriger, den Roman gelesen. Und konnte noch Monate danach nicht fassen, was darin stand. Und heute, da "Das Orakel vom Berge" wiederaufgelegt wird, wünschte ich mir, ich könnte das Buch noch einmal zum ersten Mal lesen.
Philip K. Dick ist unter den literarischen Geheimtipps der Superstar, und unter den Großen der amerikanischen Literatur ist er der große Halbbekannte; die Kenner verehren ihn als Propheten, den Kinogängern ist Dick schon deshalb bekannt, weil dieser Name im Vorspann der Romanverfilmungen "Blade Runner", "Total Recall", "Minority Report" stand; überhaupt ist das ganze Genre ohne Dicks geistige Pionierarbeit kaum denkbar - wollte man einen Lehrfilm über Dicks Gedanken, Fragen, Motive so inszenieren, dass auch Begriffsstutzige ihn verstünden, käme vermutlich etwas Ähnliches wie die "Matrix" heraus.
Und wer sich ein wenig tiefer hineinbohrt in Dicks Prosa, sieht bald, dass dieser Autor, der sein Schreiben so lange mit Amphetaminen befeuerte, bis er glaubte, er lebe im Jahr 70 n. Chr. und das Römische Reich sei niemals untergegangen - dass Dick also bei all seinen literarischen Laborversuchen mit Zukunftsdrogen, künstlicher Intelligenz und dem Leben auf dem Mars und noch ferneren Welten immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen kam: Die Einheit und Autonomie des Subjekts sind eine Illusion, die sich unter genauer Beobachtung in nichts auflöst. Auch Androiden träumen, wenngleich von elektrischen Schafen, und wenn ich denke, dass ich dächte, sollte ich mich besser fragen, wer mir diesen Unsinn eingeredet hat.
Der einzig sichere Weg zur Selbsterkenntnis ist die totale Paranoia - was ich für meinen ureigenen Vorrat an Erinnerungen, Träumen, Wünschen halte, ist womöglich industriell und in Serie gefertigt und wird demnächst gegen neuere Software ausgetauscht. Dass Dicks Zukunft unsere Gegenwart ist, merkt man nicht bloß daran, dass all das durch Dicks Kopf und Dicks Prosa spukte, lange bevor man in Paris lernte, das Wörtchen Poststrukturalismus richtig zu buchstabieren; es offenbarte sich in den vergangenen Jahren auch in den literarischen Versuchen jener Autoren, die sich an die eigene Jugend erinnern wollten und wenig mehr in ihren Köpfen fanden als die verblassten und verwaschenen Bilder alter Fernsehserien.
Im "Orakel vom Berge" fertigt Philip K. Dick selber solche Bilder an; seine Prosa liest sich, als hätte jemand die Farbe und die Schärfe herausgedreht, sein kontrafaktisches Kalifornien ist, gewissermaßen, schwarzweiß und grobkörnig, und was man als literarischen Mangel deuten könnte, scheint aber Dicks Methode zu sein. Vier Menschen versuchen hier, einigermaßen zurechtzukommen, zwei amerikanische Männer, eine Frau, ein Japaner, den die Nachrichten aus Tokyo und Berlin verwirren; diese Menschen stellen, wenn sie ihre Welt nicht mehr durchschauen, ihre Fragen ans I Ging, dessen Antworten sie aber erst recht nicht verstehen. Sie werden, fast täglich, von einem seltsamen Gefühl ergriffen, einem Unbehagen, einem grundsätzlichen Zweifel, der aber keinen Gegenstand findet.
Und das ist das Besondere, das Einzigartige und schwer zu Verkraftende an diesem Roman: Wo andere Autoren kontrafaktischer Romane, so unterschiedliche Schriftsteller wie Robert Harris (in dessen "Fatherland" die Deutschen den Krieg in Europa gewonnen haben und einen kalten Krieg gegen Amerika führen) oder Philip Roth (in dessen "Verschwörung gegen Amerika" der Nazifreund Charles Lindbergh zum Präsidenten gewählt wird) bis zu Christian Kracht (in dessen "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" Lenin nicht in den plombierten Zug gestiegen ist und statt Russlands die Schweiz revolutioniert hat), wo diese Autoren also ihre Werkzeuge vor allem dazu gebrauchen, diesen anderen Welten eine innere Stimmigkeit und Plausibilität zu geben, da ist Dicks fiktives Kalifornien von Anfang an porös und instabil, verdüstert vom Schatten des Zweifels, durchlöchert von bösen Ahnungen.
Klar, der Umstand, dass so viele dieser kontrafaktischen Geschichten um die Nazis kreisen, um die Frage, ob sie den Krieg hätten gewinnen können: das ist wohl der Versuch, literarisch zurechtzukommen mit dem Schock, dem Entsetzen, der Unfassbarkeit, dass so ein böser Wahnsinn, so ein dummer, blutiger Albtraum überhaupt den Status des Wirklichen erreichen konnte. Und insofern stellt jedes dieser Bücher auch die absolut berechtigte Frage, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Geschichte schreiben könne.
Dick, in dessen Text immer wieder angedeutet wird, dass die Nazis gerade dabei seien, den Schwarzafrikanern anzutun, was sie zuvor den Juden angetan haben, Dick geht viel weiter - es ist, als hätten die Verbrechen des Nationalsozialismus die ganze Tektonik dessen, was möglich, wirklich, historisch sei, erschüttert und aus der Balance gestoßen.
Damals, in den frühen Sechzigern, als Dick sein Manuskript verfasste, kam ja, als Konsequenz der Quantenmechanik, die Hypothese auf, dass alles, was möglich, in irgendeinem Paralleluniversum auch wirklich sei - und Dick, so scheint es, kommt auf ganz anderen, dunkleren Wegen zu einem ähnlichen Ergebnis: Was soll denn noch unmöglich, was kann überhaupt undenkbar sein - in einer Welt, in der die unvorstellbaren Verbrechen des Nationalsozialismus wirklich und tatsächlich geschehen sind? Einmal, als er nahe der Bucht spazieren geht, wird der Japaner von einer schweren Unwahrscheinlichkeitsattacke heimgesucht, und dann steht er am Rand jenes Embarcadero Freeways, der in unserer Welt noch immer am Ufer entlangführt, und staunt über nie gesehene Menschen, Häuser und Autos.
Und einer nach dem anderen erfahren die Menschen im "Orakel vom Berge" von der Existenz eines Buches, welches "Die Plage der Heuschrecke" heißt und eine Welt beschreibt, in welcher die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Immer mehr Menschen lesen dieses Buch, immer gefährlicher wird es für die herrschende Macht - und die Erzählung, so viel vom Plot muss hier leider verraten werden, scheint letztlich hinauszulaufen auf die gleichermaßen verrückte wie verständliche Hoffnung, dass die Menschen demnächst aufhören könnten, daran zu glauben, dass ein Sieg der Achsenmächte jemals möglich war. Und dass dann der ganze Spuk vorüberginge.
Philip K. Dick war kein Philosoph; man muss "Das Orakel vom Berge" nicht als Pamphlet gegen den Determinismus lesen und schon gar nicht als Beitrag zur Erkenntnistheorie; eher ist es die Gebrauchsanleitung für eine radikale Skepsis, die überall dort angemessen wäre, wo jemand eine Entscheidung für "alternativlos" erklärt und das Wirkliche mit dem Vernünftigen gleichsetzt. Was geschieht, wenn die allgemeine Übereinkunft darüber, was wirklich und was wichtig sei, sich auflöst, weil sie auf Fiktionen beruhte: Das erleben wir ja gerade mit; und auch angesichts dieser, mit vollem Recht sogenannten Vertrauenskrise, ist Philip K. Dick der Autor des Moments. Realität ist nichts als unser Vertrauen in sie.
CLAUDIUS SEIDL
Philip K. Dick: "Das Orakel vom Berge". Heyne-Verlag, 350 Seiten, 9,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was wäre, wenn die Achsenmächte den Krieg gewonnen hätten? Philip K. Dicks beunruhigender Roman "Das Orakel vom Berge" wird wiederaufgelegt
Mancher hat sich später gefragt, wann das ganze Elend begonnen habe, ob es schon damals, 1932, war, als Franklin D. Roosevelt erschossen wurde, oder erst gegen Ende der Dreißiger, als Amerika noch immer keinen Weg aus der Weltwirtschaftskrise fand. Als die Japaner dann Pearl Harbor bombardierten, war es jedenfalls zu spät, die Weichen anders zu stellen, und als das Deutsche Reich seine erste Atombombe über New York abwarf, kapitulierten die Vereinigten Staaten bedingungslos.
Nein, wie die Deutschen und die Japaner den Zweiten Weltkrieg gewannen, die Erde unter sich aufteilten und die Vereinigten Staaten zerstückelten, das ist nicht die Geschichte, die Philip K. Dick in seinem Roman "Das Orakel vom Berge" erzählt; es ist die Vorgeschichte - und in der Gegenwart dieses Buchs haben soeben die sechziger Jahre begonnen, ein graues, träges, melancholisches Jahrzehnt, das nichts gemein hat mit den bunten, lustigen Sechzigern, an die wir uns zu erinnern glauben. Der Westen, die Pazifischen Staaten von Amerika, ist besetzt von den Japanern, die mit autoritärer Milde herrschen. Im Osten, der unter deutscher Verwaltung steht, geht es, wie man sich erzählt, viel grausamer zu. Im Herzland, in den Rocky Mountains, liegt das unabhängige Terrain, das Vichy der Amerikaner. Und in Berlin, so wird gemeldet, ist der Führer, Martin Bormann, verstorben; Joseph Goebbels hat die Diadochenkämpfe gewonnen, und weil die Leute an der Westküste nichts Genaues wissen, flüstern sie einander Gerüchte zu: Werden die Deutschen, fünfzehn Jahre nach dem letzten Krieg, ihre Wasserstoffbomben auf Japan schießen?
"Das Orakel vom Berge" ist unter jenen Romanen, die, kontrafaktisch gewissermaßen, einen anderen Verlauf der Geschichte imaginieren, nicht der erste - und der beste, wenn man literarischen Feinsinn und die sogenannte Originalität des Ausdrucks zum Maßstab machte, ist er sicher auch nicht. "The Man in the High Castle" (wie der Originaltitel heißt) ist aber, scheinbar paradox, paradigmatisch und einzigartig zugleich - ein Werk der Verstörung, der Beunruhigung, ein Roman, der nicht nur die Grenzen seines Genres sprengt; seine Wirkung und seine Wucht reißen auch die meisten jener Bastionen nieder, welche die sogenannte Wirklichkeit davor schützen sollen, dass, wenn es zu eng wird im Reich des Fiktionalen, die Geister und Gespenster zu uns herüberkommen, um uns zu verzaubern. Ich habe, als weltraumsüchtiger, überlichtgeschwindigkeitsbetrunkener, zukunftsbesessener Elf- oder Zwölfjähriger, den Roman gelesen. Und konnte noch Monate danach nicht fassen, was darin stand. Und heute, da "Das Orakel vom Berge" wiederaufgelegt wird, wünschte ich mir, ich könnte das Buch noch einmal zum ersten Mal lesen.
Philip K. Dick ist unter den literarischen Geheimtipps der Superstar, und unter den Großen der amerikanischen Literatur ist er der große Halbbekannte; die Kenner verehren ihn als Propheten, den Kinogängern ist Dick schon deshalb bekannt, weil dieser Name im Vorspann der Romanverfilmungen "Blade Runner", "Total Recall", "Minority Report" stand; überhaupt ist das ganze Genre ohne Dicks geistige Pionierarbeit kaum denkbar - wollte man einen Lehrfilm über Dicks Gedanken, Fragen, Motive so inszenieren, dass auch Begriffsstutzige ihn verstünden, käme vermutlich etwas Ähnliches wie die "Matrix" heraus.
Und wer sich ein wenig tiefer hineinbohrt in Dicks Prosa, sieht bald, dass dieser Autor, der sein Schreiben so lange mit Amphetaminen befeuerte, bis er glaubte, er lebe im Jahr 70 n. Chr. und das Römische Reich sei niemals untergegangen - dass Dick also bei all seinen literarischen Laborversuchen mit Zukunftsdrogen, künstlicher Intelligenz und dem Leben auf dem Mars und noch ferneren Welten immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen kam: Die Einheit und Autonomie des Subjekts sind eine Illusion, die sich unter genauer Beobachtung in nichts auflöst. Auch Androiden träumen, wenngleich von elektrischen Schafen, und wenn ich denke, dass ich dächte, sollte ich mich besser fragen, wer mir diesen Unsinn eingeredet hat.
Der einzig sichere Weg zur Selbsterkenntnis ist die totale Paranoia - was ich für meinen ureigenen Vorrat an Erinnerungen, Träumen, Wünschen halte, ist womöglich industriell und in Serie gefertigt und wird demnächst gegen neuere Software ausgetauscht. Dass Dicks Zukunft unsere Gegenwart ist, merkt man nicht bloß daran, dass all das durch Dicks Kopf und Dicks Prosa spukte, lange bevor man in Paris lernte, das Wörtchen Poststrukturalismus richtig zu buchstabieren; es offenbarte sich in den vergangenen Jahren auch in den literarischen Versuchen jener Autoren, die sich an die eigene Jugend erinnern wollten und wenig mehr in ihren Köpfen fanden als die verblassten und verwaschenen Bilder alter Fernsehserien.
Im "Orakel vom Berge" fertigt Philip K. Dick selber solche Bilder an; seine Prosa liest sich, als hätte jemand die Farbe und die Schärfe herausgedreht, sein kontrafaktisches Kalifornien ist, gewissermaßen, schwarzweiß und grobkörnig, und was man als literarischen Mangel deuten könnte, scheint aber Dicks Methode zu sein. Vier Menschen versuchen hier, einigermaßen zurechtzukommen, zwei amerikanische Männer, eine Frau, ein Japaner, den die Nachrichten aus Tokyo und Berlin verwirren; diese Menschen stellen, wenn sie ihre Welt nicht mehr durchschauen, ihre Fragen ans I Ging, dessen Antworten sie aber erst recht nicht verstehen. Sie werden, fast täglich, von einem seltsamen Gefühl ergriffen, einem Unbehagen, einem grundsätzlichen Zweifel, der aber keinen Gegenstand findet.
Und das ist das Besondere, das Einzigartige und schwer zu Verkraftende an diesem Roman: Wo andere Autoren kontrafaktischer Romane, so unterschiedliche Schriftsteller wie Robert Harris (in dessen "Fatherland" die Deutschen den Krieg in Europa gewonnen haben und einen kalten Krieg gegen Amerika führen) oder Philip Roth (in dessen "Verschwörung gegen Amerika" der Nazifreund Charles Lindbergh zum Präsidenten gewählt wird) bis zu Christian Kracht (in dessen "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" Lenin nicht in den plombierten Zug gestiegen ist und statt Russlands die Schweiz revolutioniert hat), wo diese Autoren also ihre Werkzeuge vor allem dazu gebrauchen, diesen anderen Welten eine innere Stimmigkeit und Plausibilität zu geben, da ist Dicks fiktives Kalifornien von Anfang an porös und instabil, verdüstert vom Schatten des Zweifels, durchlöchert von bösen Ahnungen.
Klar, der Umstand, dass so viele dieser kontrafaktischen Geschichten um die Nazis kreisen, um die Frage, ob sie den Krieg hätten gewinnen können: das ist wohl der Versuch, literarisch zurechtzukommen mit dem Schock, dem Entsetzen, der Unfassbarkeit, dass so ein böser Wahnsinn, so ein dummer, blutiger Albtraum überhaupt den Status des Wirklichen erreichen konnte. Und insofern stellt jedes dieser Bücher auch die absolut berechtigte Frage, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Geschichte schreiben könne.
Dick, in dessen Text immer wieder angedeutet wird, dass die Nazis gerade dabei seien, den Schwarzafrikanern anzutun, was sie zuvor den Juden angetan haben, Dick geht viel weiter - es ist, als hätten die Verbrechen des Nationalsozialismus die ganze Tektonik dessen, was möglich, wirklich, historisch sei, erschüttert und aus der Balance gestoßen.
Damals, in den frühen Sechzigern, als Dick sein Manuskript verfasste, kam ja, als Konsequenz der Quantenmechanik, die Hypothese auf, dass alles, was möglich, in irgendeinem Paralleluniversum auch wirklich sei - und Dick, so scheint es, kommt auf ganz anderen, dunkleren Wegen zu einem ähnlichen Ergebnis: Was soll denn noch unmöglich, was kann überhaupt undenkbar sein - in einer Welt, in der die unvorstellbaren Verbrechen des Nationalsozialismus wirklich und tatsächlich geschehen sind? Einmal, als er nahe der Bucht spazieren geht, wird der Japaner von einer schweren Unwahrscheinlichkeitsattacke heimgesucht, und dann steht er am Rand jenes Embarcadero Freeways, der in unserer Welt noch immer am Ufer entlangführt, und staunt über nie gesehene Menschen, Häuser und Autos.
Und einer nach dem anderen erfahren die Menschen im "Orakel vom Berge" von der Existenz eines Buches, welches "Die Plage der Heuschrecke" heißt und eine Welt beschreibt, in welcher die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Immer mehr Menschen lesen dieses Buch, immer gefährlicher wird es für die herrschende Macht - und die Erzählung, so viel vom Plot muss hier leider verraten werden, scheint letztlich hinauszulaufen auf die gleichermaßen verrückte wie verständliche Hoffnung, dass die Menschen demnächst aufhören könnten, daran zu glauben, dass ein Sieg der Achsenmächte jemals möglich war. Und dass dann der ganze Spuk vorüberginge.
Philip K. Dick war kein Philosoph; man muss "Das Orakel vom Berge" nicht als Pamphlet gegen den Determinismus lesen und schon gar nicht als Beitrag zur Erkenntnistheorie; eher ist es die Gebrauchsanleitung für eine radikale Skepsis, die überall dort angemessen wäre, wo jemand eine Entscheidung für "alternativlos" erklärt und das Wirkliche mit dem Vernünftigen gleichsetzt. Was geschieht, wenn die allgemeine Übereinkunft darüber, was wirklich und was wichtig sei, sich auflöst, weil sie auf Fiktionen beruhte: Das erleben wir ja gerade mit; und auch angesichts dieser, mit vollem Recht sogenannten Vertrauenskrise, ist Philip K. Dick der Autor des Moments. Realität ist nichts als unser Vertrauen in sie.
CLAUDIUS SEIDL
Philip K. Dick: "Das Orakel vom Berge". Heyne-Verlag, 350 Seiten, 9,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Orakel sagt: Dick lesen! Philipp Haibach Die Welt kompakt 20151125