Delphi war der Nabel der (griechischen) Welt, das Delphische Orakel eine der einflussreichsten Institutionen der Antike. Marion Giebel gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte und Praktiken des Orakels. Im Zentrum ihrer Darstellung stehen die Orakelsprüche selbst und ihre (Be-)Deutung. Erfasst werden politische und religiöse, öffentliche und private Weissagungen von den Zeiten der griechischen Kolonisation bis in die römische Kaiserzeit.Sprachen: Deutsch, Griechisch (bis 1453), Latein
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2001 Lesetipp zum Wochenende
Pythias Pensum
Geschichten vom Orakel in Delphi
Ein wilder antiker Partyschreck war eins der letzten Opfer der Pythia, der Seherin des delphischen Orakels – Nero, der gnadenlose Topstar der dekadenten Rom-Schickeria, seines Zeichens Kaiser und Gott. Er solle sich vor dem 73.Lebensjahr in Acht nehmen, wurde ihm vom Orakel bedeutet, und beruhigt richtete der junge Wüstling sich auf ein langes Leben ein. Das grausige Ende kam aber schneller als gedacht – gemeint war nicht das 73. Jahr im Leben Neros, sondern in dem Galbas, der ihn auf dem Thron ablöste und seinem Machtrausch, im Jahr 69 n. Chr., ein Ende setzte.
Die Nero-Episode war eins der letzten provokanten Missverständnisse, für die das Orakel von Delphi berühmt geworden ist – ein römisches Nachspiel zu einer großen Institution der griechischen Welt. Das Spiel mit Missverständissen war wesentlich für Delphi, mit falschen Deutungen und vorschnellen Schlüssen. Das „Gnothi sauton” war dort das große Prinzip, die Aufforderung, sich selbst zu erkennen: es galt auf die Neben- und Untertöne zu hören, im Gesagten zu entdecken, was unaussprechlich mitklang. Weshalb man nie von bewusster Täuschung reden konnte, wenn es anders kam, als angeblich vorhergesagt, allenfalls eine Art göttlicher Ironie konstatieren mochte. Alles ist gesagt, aber man weiß nicht, was es bedeutet – zuletzt orakelte Bill Clinton in diesem Sinne, angesichts des Ausgangs der amerikanischen Präsidentschaftswahlen.
In Delphi hat man immer auch Politik gemacht – legendäre Beispiele, von Herodot berichtet, aus der Schulzeit bestens in Erinnerung, sind das Schicksal des Lyderkönigs Kroisos, der sich auf einen großen Eroberungszug begeben und dafür sich vom Orakel rückversichern wollte – „Kroisos wird, überschreitend den Halys, zerstören ein Großreich” – oder die Perserkriege der Athener, die Strategie ihres Kriegsherrn Themistokles, die Taktik der Schlacht von Salamis.
Es sind Geschichten vom Mittelpunkt, vom Nabel der Welt, die hier erzählt werden – der Omphalos war der edle Stein im Heiligtum des Apollon. Für die Entstehung der Kultstätte gibt es verschiedene erzählerische Varianten. Hat Apollon hier den Drachen Python besiegt. Oder ist ihm, wie Aischylos es beschreibt im dritten Teil seiner „Orestie”, das Heiligtum anvertraut worden durch eine genealogische Kette, von der Erdmutter Gaia, über Themis, die Göttin des Rechts, Phoibe, Leto – der Mutter des Gottes: die Verbindung von mütterlicher Tiefe mit dem jugendlich männlichen Licht, eine geniale Mischung von Ahnung und Klarheit.
Vaterschaft und Viehzucht
Marion Giebel hat für ihren Band die Quellen nach den großen, historisch-mythischen Geschichten durchforscht, aber auch auf den Alltag hin, die Praxis, mit der Pythia – in Glanzzeiten gab’s sogar zwei – ihr Pensum zu bewältigen versuchte. Priester und Propheten standen ihr zur Seite, die die Fragen in Form brachten, die Antworten niederschrieben, für die Fragesteller und fürs Archiv. Mit den banalsten Problemen wurde die Pythia vollgelabert – ob man eine Reise unternehmen, ein Geschäft riskieren sollte, wie man Fragen zu Vaterschaft oder Viehzucht klärt. Alles immer streng nach dem Ritual, business as usual: die Reinigungsriten, ein Opferkuchen, ein Geldopfer. Und das Opfertier natürlich, das geteilt wurde zwischen dem Gott , seinen Angestellten und den Ratsuchenden. „Allerdings hieß es, um in Delphi satt zu werden, müsse man sich noch eine Portion Fleisch kaufen ...”
Es gab keine Ekstase in Delphi, wenn die Pythia auf ihrem Dreifuß hockte, durch ein paar Schlucke aus der Kassotisquelle, ein paar Lorbeerblätter, ein wenig Weihrauch in seherische Stimmung gebracht. Apo tripodos, „vom Dreifuß” wurde zur Redewendung, wenn etwas als authentisch gelten sollte. Auch Homer hat hier Auskunft erhalten, über seinen ihm nicht bekannten Geburtsort. „Glücklicher und Unseliger, denn zu beidem wurdest du geboren, / das Vaterland suchst du; ein Mutterland, kein Vaterland hast du. / Ios, die Insel, ist das Vaterland der Mutter, das dich im Tode / empfangen wird. Doch hüte dich vor dem Rätsel der Jungen.” Mit diesen Jungen waren ein paar Fischer gemeint, die mit leerem Boot zurückkamen und auf die Frage Homers eine wahrhaft lausige Lösung hatten: „Was wir fingen, ließen wir dort – was wir nicht fingen, bringen wir mit.” Über dieses Rätsel hat Homer sich den Kopf zerbrochen, erzählt Pausanias, er ist darüber melancholisch geworden und schließlich gestorben.
FRITZ GÖTTLER
MARION GIEBEL: Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. Griechisch/ Deutsch. Reclam Verlag, Stuttgart 2001. 126 Seiten, 6 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Pythias Pensum
Geschichten vom Orakel in Delphi
Ein wilder antiker Partyschreck war eins der letzten Opfer der Pythia, der Seherin des delphischen Orakels – Nero, der gnadenlose Topstar der dekadenten Rom-Schickeria, seines Zeichens Kaiser und Gott. Er solle sich vor dem 73.Lebensjahr in Acht nehmen, wurde ihm vom Orakel bedeutet, und beruhigt richtete der junge Wüstling sich auf ein langes Leben ein. Das grausige Ende kam aber schneller als gedacht – gemeint war nicht das 73. Jahr im Leben Neros, sondern in dem Galbas, der ihn auf dem Thron ablöste und seinem Machtrausch, im Jahr 69 n. Chr., ein Ende setzte.
Die Nero-Episode war eins der letzten provokanten Missverständnisse, für die das Orakel von Delphi berühmt geworden ist – ein römisches Nachspiel zu einer großen Institution der griechischen Welt. Das Spiel mit Missverständissen war wesentlich für Delphi, mit falschen Deutungen und vorschnellen Schlüssen. Das „Gnothi sauton” war dort das große Prinzip, die Aufforderung, sich selbst zu erkennen: es galt auf die Neben- und Untertöne zu hören, im Gesagten zu entdecken, was unaussprechlich mitklang. Weshalb man nie von bewusster Täuschung reden konnte, wenn es anders kam, als angeblich vorhergesagt, allenfalls eine Art göttlicher Ironie konstatieren mochte. Alles ist gesagt, aber man weiß nicht, was es bedeutet – zuletzt orakelte Bill Clinton in diesem Sinne, angesichts des Ausgangs der amerikanischen Präsidentschaftswahlen.
In Delphi hat man immer auch Politik gemacht – legendäre Beispiele, von Herodot berichtet, aus der Schulzeit bestens in Erinnerung, sind das Schicksal des Lyderkönigs Kroisos, der sich auf einen großen Eroberungszug begeben und dafür sich vom Orakel rückversichern wollte – „Kroisos wird, überschreitend den Halys, zerstören ein Großreich” – oder die Perserkriege der Athener, die Strategie ihres Kriegsherrn Themistokles, die Taktik der Schlacht von Salamis.
Es sind Geschichten vom Mittelpunkt, vom Nabel der Welt, die hier erzählt werden – der Omphalos war der edle Stein im Heiligtum des Apollon. Für die Entstehung der Kultstätte gibt es verschiedene erzählerische Varianten. Hat Apollon hier den Drachen Python besiegt. Oder ist ihm, wie Aischylos es beschreibt im dritten Teil seiner „Orestie”, das Heiligtum anvertraut worden durch eine genealogische Kette, von der Erdmutter Gaia, über Themis, die Göttin des Rechts, Phoibe, Leto – der Mutter des Gottes: die Verbindung von mütterlicher Tiefe mit dem jugendlich männlichen Licht, eine geniale Mischung von Ahnung und Klarheit.
Vaterschaft und Viehzucht
Marion Giebel hat für ihren Band die Quellen nach den großen, historisch-mythischen Geschichten durchforscht, aber auch auf den Alltag hin, die Praxis, mit der Pythia – in Glanzzeiten gab’s sogar zwei – ihr Pensum zu bewältigen versuchte. Priester und Propheten standen ihr zur Seite, die die Fragen in Form brachten, die Antworten niederschrieben, für die Fragesteller und fürs Archiv. Mit den banalsten Problemen wurde die Pythia vollgelabert – ob man eine Reise unternehmen, ein Geschäft riskieren sollte, wie man Fragen zu Vaterschaft oder Viehzucht klärt. Alles immer streng nach dem Ritual, business as usual: die Reinigungsriten, ein Opferkuchen, ein Geldopfer. Und das Opfertier natürlich, das geteilt wurde zwischen dem Gott , seinen Angestellten und den Ratsuchenden. „Allerdings hieß es, um in Delphi satt zu werden, müsse man sich noch eine Portion Fleisch kaufen ...”
Es gab keine Ekstase in Delphi, wenn die Pythia auf ihrem Dreifuß hockte, durch ein paar Schlucke aus der Kassotisquelle, ein paar Lorbeerblätter, ein wenig Weihrauch in seherische Stimmung gebracht. Apo tripodos, „vom Dreifuß” wurde zur Redewendung, wenn etwas als authentisch gelten sollte. Auch Homer hat hier Auskunft erhalten, über seinen ihm nicht bekannten Geburtsort. „Glücklicher und Unseliger, denn zu beidem wurdest du geboren, / das Vaterland suchst du; ein Mutterland, kein Vaterland hast du. / Ios, die Insel, ist das Vaterland der Mutter, das dich im Tode / empfangen wird. Doch hüte dich vor dem Rätsel der Jungen.” Mit diesen Jungen waren ein paar Fischer gemeint, die mit leerem Boot zurückkamen und auf die Frage Homers eine wahrhaft lausige Lösung hatten: „Was wir fingen, ließen wir dort – was wir nicht fingen, bringen wir mit.” Über dieses Rätsel hat Homer sich den Kopf zerbrochen, erzählt Pausanias, er ist darüber melancholisch geworden und schließlich gestorben.
FRITZ GÖTTLER
MARION GIEBEL: Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. Griechisch/ Deutsch. Reclam Verlag, Stuttgart 2001. 126 Seiten, 6 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Titel: Das Orakel von Delphi. Geschichte und TexteFritz Gö