Seit zehn Jahren erforscht der Wiener Biologe Franz Wilhelm Caspari auf einer Insel in Indonesien die vermeintlich ausgestorbene Schmetterlingsart "Calyptra lachrypagus". In und um sein Haus mit Garten, das Caspari von einem geheimnisvollen Privatier zur Verfügung gestellt wurde, züchtet er die winzigen Nachtfalter, deren Ernährung aus menschlichen Tränen besteht. Um diese zu bekommen, ist Caspari nicht nur Zaungast bei allen Begräbnissen der Insel, sondern versucht auch auf listige Weise, Freunde und Bekannte für die Tränengewinnung einzuspannen. Andrea Grill gelingt in ihrem Roman Erstaunliches: Sie verwandelt Vorgänge der Naturwissenschaft in einen Roman voller Witz und Sinnlichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2015Wissenschaftler sein ist ein Lebensstil
Große Gefühle und endlose Missverständnisse: Andrea Grill gelingt mit "Das Paradies des Doktor Caspari" ein höchst skurriler und vergnüglicher Roman über einen Schmetterlingsforscher.
Unter allen Spezialisten der Naturwissenschaft gehören die Lepidopterologen vielleicht zu den einsamsten. Ihr Gegenstandsbereich, die Schmetterlinge, ist mit mehr als 160 000 Arten so riesig, dass sich zwischen zwei Forschern nur selten ein Gespräch über dieselbe Spezies entwickeln kann. Im Unterschied zu Urs Widmer und seiner flatterhaften Parodie "Der Kongreß der Paläolepidopterologen" ist die österreichische Autorin Andrea Grill selbst vom Fach. Wie der Titelheld ihres zweiten Romans "Das Paradies des Doktor Caspari" hat sie in Amsterdam promoviert, und zwar über endemische Schmetterlinge, die nur auf Sardinien vorkommen.
Dieses wundervoll verrückte Buch beschert, um es gleich vorwegzusagen, ein seltenes Lesevergnügen. Franz Wilhelm Rosalie Caspari, ein vierunddreißigjähriger Entomologe, ist von der Idee besessen, auf einer Insel im Indischen Ozean die als ausgestorben geltende Schmetterlingsart "Calyptra lachryphagus" wiederfinden und retten zu wollen. Ihr Geheimnis steckt leider schon in der fiktiven taxonomischen Bezeichnung, denn der lateinische Zusatz "lachryphagus" zum Familiennamen "Calyptra" - zu der in Südostasien wirklich auch ein paar Blutsauger zählen - heißt übersetzt nichts anderes als Tränenfresser. Sollten Casparis Vorgänger, die seltene lokale Sträucher als einzige Nahrungsquelle des Falters vermuteten, den Namen nicht selbst hergeleitet haben? Oder warum verkennt er selbst bei seiner jahrelangen Suche nach einem einzigen verbliebenen Exemplar in den Wäldern der ebenfalls erfundenen Insel Mangalemi diesen allzu offensichtlichen symbiotischen Zusammenhang mit Säugetieren oder Menschen?
Wichtiger als diese kleine Unschärfe ist das unerschöpfliche Potential an phantastischen Einfällen, auf die der "Tränenmelker" Caspari kommen muss, um seine mühsam aus einem einzigen Weibchen entwickelte Zucht ernähren zu können. So staffiert Grill ihre exotische Erzählwelt mit allerlei kuriosen Figuren aus. Die Haushaltshilfe des einsamen Forschers wird manchmal unter irgendeinem Vorwand gerufen, weil sie über seine sentimentalen und traurigen Geschichten ungehemmt weinen kann. Der Inseltankwart, der freie Benzinfüllungen gegen Modelleisenbahnen von Touristen tauscht und Caspari den Spitznamen "Teacake" verleiht, weil dieser ohne solche süßen Zutaten den bitteren indischen Tee nicht verträgt, ist ein großer Vermittler. Er kennt beispielsweise Lehrer einer Privatschule, deren Schüler Caspari durch Horrorgeschichten zum Heulen bringt. Oder er verbindet ihn mit dem Trainer der lokalen Fußballmannschaft, den der Forscher mit viel Geld um einen Sieg bringt, um so die Gesichter enttäuschter Fans richtig mit Tränen zu überschwemmen.
Dieser feine Sinn für skurrile Charaktere macht den Reiz dieses Romans aus. Manchmal erinnern sie an das Kabinett schrägster Typen in Elias Canettis "Der Ohrenzeuge". Darin haust auch ein "Tränenwärmer", der täglich sentimentale Filme im Kino besucht, weil er das warme Nass auf seinen Wangen so sehr liebt. Einen wie ihn hätte Caspari brauchen können. Als Figur wächst er über seine bizarren Verrichtungen zugleich weit hinaus. Er verkörpert die prinzipielle Einsamkeit der Forscherexistenz, die ungeheure Selbstermutigung verlangt, scheiternde Experimente und ständige Zurückweisungen von Zeitschriftenherausgebern verkraften muss. "Wissenschaftlersein ist ein Lebensstil. Daneben ist nichts anderes möglich", heißt es einmal lapidar. Nicht einmal der eigenen Familie kann Caspari seine Tätigkeit fasslich machen: Der Schwester erscheint all das als "Dauerurlaub", mit der italienischen Großmutter verbindet ihn nur ein bizarrer, fernwirkender Handschmeichler, der Vater übt in sinnlosen E-Mails sein Italienisch, statt wirkliche Fragen zu stellen.
Caspari hat auf der Insel nur zwei echte Freunde, die über seine Sorgen und Nöte aber ebenfalls nur wenig erfahren. Denn eigentlich lebt er allein für seine Schmetterlinge, mit denen ihn eine "Ehe im Sinne Dostojewskis" verbindet: "große Gefühle, endlose Missverständnisse, Enttäuschungen, Erklärungsversuche, Geldknappheit". Von der Bewerbung auf eine Juniorprofessur in Wien hat Caspari keinem erzählt. Und niemand weiß, dass in Indien wegen einiger außer Landes geschmuggelter Falter gerichtlich gegen ihn ermittelt wird. Nur Laien denken, das Sammeln von Insekten sei ein so unschuldiges Hobby wie bei Carl Spitzweg dargestellt. In detaillierten Listen zu den höchst unterschiedlichen internationalen Bestimmungen findet man zu Indien tatsächlich nur zwei Worte: "Forget it."
Was aus all dem wird, soll hier nicht verraten werden. Die Leser dieser gekonnt erzählten, perspektivenreichen Geschichte müssen es selbst ergründen. Nach den Erzählungen "Liebesmaschine N.Y.C.", dem Familienbuch "Der gelbe Onkel" und dem Gedichtband "Safari, Innere Wildnis" ist Andrea Grill mit diesem Roman wohl ihr bislang bestes Buch gelungen. Es lädt zu einer Forschungssafari in den Indischen Ozean ein.
ALEXANDER KOSENINA
Andrea Grill: "Das Paradies des Doktor Caspari". Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 284 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Große Gefühle und endlose Missverständnisse: Andrea Grill gelingt mit "Das Paradies des Doktor Caspari" ein höchst skurriler und vergnüglicher Roman über einen Schmetterlingsforscher.
Unter allen Spezialisten der Naturwissenschaft gehören die Lepidopterologen vielleicht zu den einsamsten. Ihr Gegenstandsbereich, die Schmetterlinge, ist mit mehr als 160 000 Arten so riesig, dass sich zwischen zwei Forschern nur selten ein Gespräch über dieselbe Spezies entwickeln kann. Im Unterschied zu Urs Widmer und seiner flatterhaften Parodie "Der Kongreß der Paläolepidopterologen" ist die österreichische Autorin Andrea Grill selbst vom Fach. Wie der Titelheld ihres zweiten Romans "Das Paradies des Doktor Caspari" hat sie in Amsterdam promoviert, und zwar über endemische Schmetterlinge, die nur auf Sardinien vorkommen.
Dieses wundervoll verrückte Buch beschert, um es gleich vorwegzusagen, ein seltenes Lesevergnügen. Franz Wilhelm Rosalie Caspari, ein vierunddreißigjähriger Entomologe, ist von der Idee besessen, auf einer Insel im Indischen Ozean die als ausgestorben geltende Schmetterlingsart "Calyptra lachryphagus" wiederfinden und retten zu wollen. Ihr Geheimnis steckt leider schon in der fiktiven taxonomischen Bezeichnung, denn der lateinische Zusatz "lachryphagus" zum Familiennamen "Calyptra" - zu der in Südostasien wirklich auch ein paar Blutsauger zählen - heißt übersetzt nichts anderes als Tränenfresser. Sollten Casparis Vorgänger, die seltene lokale Sträucher als einzige Nahrungsquelle des Falters vermuteten, den Namen nicht selbst hergeleitet haben? Oder warum verkennt er selbst bei seiner jahrelangen Suche nach einem einzigen verbliebenen Exemplar in den Wäldern der ebenfalls erfundenen Insel Mangalemi diesen allzu offensichtlichen symbiotischen Zusammenhang mit Säugetieren oder Menschen?
Wichtiger als diese kleine Unschärfe ist das unerschöpfliche Potential an phantastischen Einfällen, auf die der "Tränenmelker" Caspari kommen muss, um seine mühsam aus einem einzigen Weibchen entwickelte Zucht ernähren zu können. So staffiert Grill ihre exotische Erzählwelt mit allerlei kuriosen Figuren aus. Die Haushaltshilfe des einsamen Forschers wird manchmal unter irgendeinem Vorwand gerufen, weil sie über seine sentimentalen und traurigen Geschichten ungehemmt weinen kann. Der Inseltankwart, der freie Benzinfüllungen gegen Modelleisenbahnen von Touristen tauscht und Caspari den Spitznamen "Teacake" verleiht, weil dieser ohne solche süßen Zutaten den bitteren indischen Tee nicht verträgt, ist ein großer Vermittler. Er kennt beispielsweise Lehrer einer Privatschule, deren Schüler Caspari durch Horrorgeschichten zum Heulen bringt. Oder er verbindet ihn mit dem Trainer der lokalen Fußballmannschaft, den der Forscher mit viel Geld um einen Sieg bringt, um so die Gesichter enttäuschter Fans richtig mit Tränen zu überschwemmen.
Dieser feine Sinn für skurrile Charaktere macht den Reiz dieses Romans aus. Manchmal erinnern sie an das Kabinett schrägster Typen in Elias Canettis "Der Ohrenzeuge". Darin haust auch ein "Tränenwärmer", der täglich sentimentale Filme im Kino besucht, weil er das warme Nass auf seinen Wangen so sehr liebt. Einen wie ihn hätte Caspari brauchen können. Als Figur wächst er über seine bizarren Verrichtungen zugleich weit hinaus. Er verkörpert die prinzipielle Einsamkeit der Forscherexistenz, die ungeheure Selbstermutigung verlangt, scheiternde Experimente und ständige Zurückweisungen von Zeitschriftenherausgebern verkraften muss. "Wissenschaftlersein ist ein Lebensstil. Daneben ist nichts anderes möglich", heißt es einmal lapidar. Nicht einmal der eigenen Familie kann Caspari seine Tätigkeit fasslich machen: Der Schwester erscheint all das als "Dauerurlaub", mit der italienischen Großmutter verbindet ihn nur ein bizarrer, fernwirkender Handschmeichler, der Vater übt in sinnlosen E-Mails sein Italienisch, statt wirkliche Fragen zu stellen.
Caspari hat auf der Insel nur zwei echte Freunde, die über seine Sorgen und Nöte aber ebenfalls nur wenig erfahren. Denn eigentlich lebt er allein für seine Schmetterlinge, mit denen ihn eine "Ehe im Sinne Dostojewskis" verbindet: "große Gefühle, endlose Missverständnisse, Enttäuschungen, Erklärungsversuche, Geldknappheit". Von der Bewerbung auf eine Juniorprofessur in Wien hat Caspari keinem erzählt. Und niemand weiß, dass in Indien wegen einiger außer Landes geschmuggelter Falter gerichtlich gegen ihn ermittelt wird. Nur Laien denken, das Sammeln von Insekten sei ein so unschuldiges Hobby wie bei Carl Spitzweg dargestellt. In detaillierten Listen zu den höchst unterschiedlichen internationalen Bestimmungen findet man zu Indien tatsächlich nur zwei Worte: "Forget it."
Was aus all dem wird, soll hier nicht verraten werden. Die Leser dieser gekonnt erzählten, perspektivenreichen Geschichte müssen es selbst ergründen. Nach den Erzählungen "Liebesmaschine N.Y.C.", dem Familienbuch "Der gelbe Onkel" und dem Gedichtband "Safari, Innere Wildnis" ist Andrea Grill mit diesem Roman wohl ihr bislang bestes Buch gelungen. Es lädt zu einer Forschungssafari in den Indischen Ozean ein.
ALEXANDER KOSENINA
Andrea Grill: "Das Paradies des Doktor Caspari". Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 284 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mit großer Lust am Erzählen entwirft Andrea Grill exotische Schauplätze und Figuren, und mit der Virtuosität einer Krimiautorin hält sie die Spannung zwischen den Zeilen am Köcheln. Der seltene Glücksfall eines stimmungsvollen Sommerbuches mit Strandeignung bei gleichzeitig hohem literarischen Nährwert." Wolfgang Popp, Ö1, 08.08.15
"Ein höchst skurriler und vergnüglicher Roman. ... Dieses wundervoll verrückte Buch beschert ein seltenes Lesevergnügen." Alexander Kosenina, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.15
"Ein faszinierend vielschichtiges Buch, ein spannendes literarisches Experiment." Karin Cerny, Profil, 03.08.15
"Alles drin: Tatsachen und Spekulationen, das Manische und das Poetische; Besessenheit, Einsamkeit, Tod. Unheimlich schön." Christoph Schröder, KulturSpiegel, 27.07.15
"Ein kurzweiliger Roman über Menschen und Tiere, Freud und Leid des Forscherlebens." Sebastian Fasthuber, Falter, 26.08.15
"Eine gewitzt konstruierte Geschichte über die Wissenschaft als einsame Obsession und den Wissenschaftsbetrieb als reichlich steiniges Karrierepflaster." Ivona Jelcic, Tiroler Tageszeitung, 29.08.15
"Ein humoristischer Einblick in die Welt der Wissenschaft, ein zärtliches Porträt eines Gelehrten, der sich zwischen Abenteuerlust und Publikationszwang, Behördenauflagen und Forscherromantik aufreibt. Dabei geht Grill mit der Behutsamkeit und Geduld einer Schmetterlingsforscherin vor, spinnt nüchterne naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu feinsinnigen, poetischen Gedanken." Claudia Gschweitl, Ö1 ex libris, 06.09.15
"Eine wunderbare, tragikomische Erzählung, die Verschrobenheit zum Lebensprinzip erhebt, nicht nur für Wissenschaftler." Katja Lückert, NDR Kultur, 16.10.15
"Es ist die große Kunst von Andrea Grill, Gefühle, Betroffenheit und Moral zu verbergen, und uns dennoch tief zu berühren." Klemens Renoldner, Salzburger Nachrichten, 12.12.15
"Ein höchst skurriler und vergnüglicher Roman. ... Dieses wundervoll verrückte Buch beschert ein seltenes Lesevergnügen." Alexander Kosenina, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.15
"Ein faszinierend vielschichtiges Buch, ein spannendes literarisches Experiment." Karin Cerny, Profil, 03.08.15
"Alles drin: Tatsachen und Spekulationen, das Manische und das Poetische; Besessenheit, Einsamkeit, Tod. Unheimlich schön." Christoph Schröder, KulturSpiegel, 27.07.15
"Ein kurzweiliger Roman über Menschen und Tiere, Freud und Leid des Forscherlebens." Sebastian Fasthuber, Falter, 26.08.15
"Eine gewitzt konstruierte Geschichte über die Wissenschaft als einsame Obsession und den Wissenschaftsbetrieb als reichlich steiniges Karrierepflaster." Ivona Jelcic, Tiroler Tageszeitung, 29.08.15
"Ein humoristischer Einblick in die Welt der Wissenschaft, ein zärtliches Porträt eines Gelehrten, der sich zwischen Abenteuerlust und Publikationszwang, Behördenauflagen und Forscherromantik aufreibt. Dabei geht Grill mit der Behutsamkeit und Geduld einer Schmetterlingsforscherin vor, spinnt nüchterne naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu feinsinnigen, poetischen Gedanken." Claudia Gschweitl, Ö1 ex libris, 06.09.15
"Eine wunderbare, tragikomische Erzählung, die Verschrobenheit zum Lebensprinzip erhebt, nicht nur für Wissenschaftler." Katja Lückert, NDR Kultur, 16.10.15
"Es ist die große Kunst von Andrea Grill, Gefühle, Betroffenheit und Moral zu verbergen, und uns dennoch tief zu berühren." Klemens Renoldner, Salzburger Nachrichten, 12.12.15