Eliza ist allein. Ihre Töchter haben keine Zeit für sie, nur der Hund leistet ihr Gesellschaft. Sie ist alt, das Leben ist vorbei, doch die Unruhe, die Fragen bleiben. Als Kind war sie glücklich. Mit ihren Eltern ging sie vor dem 2. Weltkrieg nach Argentinien. Sie liebte ihren Vater, aber sie wusste wenig über ihn. Mit ihrem Mann kehrte sie schließlich nach Deutschland zurück. Jetzt schaut sie sich nachts Filme über den Eichmann-Prozess an, die Beschäftigung mit der Judenvernichtung ist ihre Obsession. Sind Lüge und Unwissenheit die Schwestern des Glücks? Diese Frage steht am Ende dieses melancholischen, mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit erzählten Romans. Ein großes Buch über das Alter.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Eberhard Rathgeb, einst selbst Literaturkritiker, legt hier nach "Kein Paar wie wir" sein zweites Frauenporträt vor, das seine Kollegin Meike Fessmann mit großer Sympathie bespricht. Sie schildert den Roman als höchst präzise Studie über das Altern einer Frau, die trotz ihrer vier in der Nähe wohnenden Töchter fast ihre ganze Zeit allein verbringt. Wie bei Rathgeb selbst gibt es einen argentinischen Hintergrund bei ihr - offenbar wird in dem Roman angedeutet, dass ihr Vater wegen Nazi-Verstrickungen dorthin gegangen war, bevor die Famile nach Deutschland zurückkehrte. Ihre Obsession ist jedenfalls - mit undeutlicher Distanzierung vom Vater - der Genozid an den Juden. Für Fessmann ist es ein großes Kunststück, wie Rathgeb diese verschiedenen komplizierten Motive in der Geschichte der alten Frau verflicht. Nebenbei aber, so betont sie wiederholt, beeindrucken vor allem die Entfaltung des ganzen Romans aus der Perspektive dieser alten Frau und die Intensität der Einfühlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2014Was es heißt, kein Zuhause zu haben
Eberhard Rathgeb erzählt in "Das Paradiesghetto" vom Generationenkonflikt
In seinem Debütroman von 2013, "Kein Paar wie wir", erzählte Eberhard Rathgeb mit viel Takt die melancholische Geschichte vom Älterwerden eines Schwesternpaars. Geradezu mikroskopisch erfasst er nun in seinem neuen Buch, "Das Paradiesghetto", einen anderen Alterungsprozess, auf den die Demenz ihren länger werdenden Schatten wirft. Der Roman liest sich wie eine geriatrische Studie. Das Verhältnis der Zentralfigur Eliza zu ihren Töchtern verkrustet. Die imaginären Dialoge mit Toten oder Abwesenden nehmen zu. Der Kontakt mit den Nachbarn bricht ab, ein Ich igelt sich ein. Der Hund wird zu Elizas einzigem wirklichem Gefährten; in einer ihrer Traumszenen versucht er, ihre Leiche wieder auszuscharren.
Der Verfall des Individuums Eliza ist aber nur das eine Hauptthema des Romans. In den Vordergrund tritt die Frage nach dem richtigen Verhältnis zur politischen Vergangenheit. Elizas Familie hat während des "Dritten Reichs" in Buenos Aires überwintert, wohin der Vater 1939 im Auftrag eines großen deutschen Unternehmens versetzt wurde. In Argentinien gab es eine Landesgruppe der NSDAP, und Eliza erinnert sich durchaus an ihren Vater als einen Mitläufer. Nach Deutschland zurückgekehrt, liest sie Bücher über die Vernichtung der Juden. Zur exemplarischen Stätte der Verschleierungsstrategie der Nazis wird ihr das Lager Theresienstadt: ein vorgetäuschtes "Paradiesghetto", aus dem Juden in die Vernichtungslager geschickt wurden. Mit brennendem Interesse verfolgt sie deshalb die Berichte über den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Strategen der "Endlösung", der in Argentinien untertauchte, wenn auch zu einem Zeitpunkt, da Elizas Familie Argentinien schon wieder verlassen hatte.
Zu Versteifungserscheinungen des galoppierenden Alterns gehört Elizas Zwangsvorstellung, halbwegs Schuldige auch in ihren Töchtern auszumachen. Die Töchter bringen diese Obsession auf den Punkt: "Wir fahren nach Mallorca, erzählen wir dir, und du hörst die Waggons mit den deportierten Juden rollen." Solche Schuldzuweisung ist so richtig wie absurd: Sie kennzeichnet einerseits ein allzu rasches Vergessen und andererseits die Zumutung, jetzt nur noch in Sack und Asche zu gehen.
Ein Zug zur Selbstgerechtigkeit wird sichtbar. Was Eliza ihren Töchtern vorwirft, hat sie selbst in Argentinien, während der NS-Zeit, für selbstverständlich genommen: Sie hat studieren können und alle Vergünstigungen reuelos genossen. Es zeigen sich Gedächtnislücken, die Eliza offenbar schon ins Altersstadium mitgebracht hat und die sich nur als Verdrängungen erklären lassen. So hat sie eine Fähigkeit eingebüßt, von der Christa Wolf in ihrem Buch "Kindheitsmuster" (1976) spricht: einzusehen, "dass wir in eigener Sache romanhaft lügen oder mit verstockter Stimme sprechen", wo es nötig wäre, "ins Kreuzverhör mit dir selbst zu gehen".
Zu Recht protestiert Eliza gegen alle, die sich mit einem Deutschland "arrangiert" haben, das sich für unbefleckt hält. Aber ihr Zungenschlag wird falsch, wenn sie sich selbst den Töchtern gegenüber zur Heimatlosen stilisiert. "Ihr wisst nicht, was es bedeutet, in der Fremde zu leben. Ihr wisst nicht, was es bedeutet, kein Zuhause mehr zu haben." Deutlich genug markiert Rathgeb, der selbst in Argentinien geboren wurde, allerdings erst 1959, die Widersprüche dieser Figur.
Weithin ist der Roman Protokoll eines Bewusstseinsstroms und der Bewusstseinssprünge, ein Protokoll auch der zunehmenden Desorientierung. Manchmal kippen die Rückblicke ins Leben um in einen wahren Cancan der Erinnerungen. Die Distanzierung Elizas von der politischen Indifferenz ihres Mannes und der ständige Streit mit den Töchtern, also der Generationen-Konflikt, lösen Schübe von immer gleichen wechselseitigen Vorwürfen aus. Was zum Problem dieser Romanform wird, ist ein monomanischer Zug, der sich aus dem Schwinden der Selbstkontrolle Elizas erklärt. Aber was hier ein Realismus der Beschreibung fordert, muss nicht auch wirkungspoetisch das Bestmögliche sein. Wo der Leser von Wiederholung zu Wiederholung geführt wird, werden ihm die Augenlider schwer.
Dennoch: Was haftenbleibt, ist die Noblesse des Autors, die humane Geste, mit der er uns seine Figur schon auf der ersten Seite des Romans vorstellt: Sie "war mit ihrem Unglück alt und einsam geworden. Sie wusste, dass sie nicht in Frieden sterben würde. Die Unruhe blieb, der Zweifel, das Misstrauen, die Empörung und eine gewisse Sehnsucht. Das Leben zog sich aus ihr zurück, müde und schwermütig, wie nach einer Niederlage, ganz so, als sei ihr nicht zu helfen gewesen. Sie starb von einem Tag auf den anderen ... Die Töchter fühlten sich vom Tod ihrer Mutter überrumpelt. Jetzt weinten sie am Grab."
WALTER HINCK.
Eberhard Rathgeb: "Das Paradiesghetto". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014. 235 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eberhard Rathgeb erzählt in "Das Paradiesghetto" vom Generationenkonflikt
In seinem Debütroman von 2013, "Kein Paar wie wir", erzählte Eberhard Rathgeb mit viel Takt die melancholische Geschichte vom Älterwerden eines Schwesternpaars. Geradezu mikroskopisch erfasst er nun in seinem neuen Buch, "Das Paradiesghetto", einen anderen Alterungsprozess, auf den die Demenz ihren länger werdenden Schatten wirft. Der Roman liest sich wie eine geriatrische Studie. Das Verhältnis der Zentralfigur Eliza zu ihren Töchtern verkrustet. Die imaginären Dialoge mit Toten oder Abwesenden nehmen zu. Der Kontakt mit den Nachbarn bricht ab, ein Ich igelt sich ein. Der Hund wird zu Elizas einzigem wirklichem Gefährten; in einer ihrer Traumszenen versucht er, ihre Leiche wieder auszuscharren.
Der Verfall des Individuums Eliza ist aber nur das eine Hauptthema des Romans. In den Vordergrund tritt die Frage nach dem richtigen Verhältnis zur politischen Vergangenheit. Elizas Familie hat während des "Dritten Reichs" in Buenos Aires überwintert, wohin der Vater 1939 im Auftrag eines großen deutschen Unternehmens versetzt wurde. In Argentinien gab es eine Landesgruppe der NSDAP, und Eliza erinnert sich durchaus an ihren Vater als einen Mitläufer. Nach Deutschland zurückgekehrt, liest sie Bücher über die Vernichtung der Juden. Zur exemplarischen Stätte der Verschleierungsstrategie der Nazis wird ihr das Lager Theresienstadt: ein vorgetäuschtes "Paradiesghetto", aus dem Juden in die Vernichtungslager geschickt wurden. Mit brennendem Interesse verfolgt sie deshalb die Berichte über den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Strategen der "Endlösung", der in Argentinien untertauchte, wenn auch zu einem Zeitpunkt, da Elizas Familie Argentinien schon wieder verlassen hatte.
Zu Versteifungserscheinungen des galoppierenden Alterns gehört Elizas Zwangsvorstellung, halbwegs Schuldige auch in ihren Töchtern auszumachen. Die Töchter bringen diese Obsession auf den Punkt: "Wir fahren nach Mallorca, erzählen wir dir, und du hörst die Waggons mit den deportierten Juden rollen." Solche Schuldzuweisung ist so richtig wie absurd: Sie kennzeichnet einerseits ein allzu rasches Vergessen und andererseits die Zumutung, jetzt nur noch in Sack und Asche zu gehen.
Ein Zug zur Selbstgerechtigkeit wird sichtbar. Was Eliza ihren Töchtern vorwirft, hat sie selbst in Argentinien, während der NS-Zeit, für selbstverständlich genommen: Sie hat studieren können und alle Vergünstigungen reuelos genossen. Es zeigen sich Gedächtnislücken, die Eliza offenbar schon ins Altersstadium mitgebracht hat und die sich nur als Verdrängungen erklären lassen. So hat sie eine Fähigkeit eingebüßt, von der Christa Wolf in ihrem Buch "Kindheitsmuster" (1976) spricht: einzusehen, "dass wir in eigener Sache romanhaft lügen oder mit verstockter Stimme sprechen", wo es nötig wäre, "ins Kreuzverhör mit dir selbst zu gehen".
Zu Recht protestiert Eliza gegen alle, die sich mit einem Deutschland "arrangiert" haben, das sich für unbefleckt hält. Aber ihr Zungenschlag wird falsch, wenn sie sich selbst den Töchtern gegenüber zur Heimatlosen stilisiert. "Ihr wisst nicht, was es bedeutet, in der Fremde zu leben. Ihr wisst nicht, was es bedeutet, kein Zuhause mehr zu haben." Deutlich genug markiert Rathgeb, der selbst in Argentinien geboren wurde, allerdings erst 1959, die Widersprüche dieser Figur.
Weithin ist der Roman Protokoll eines Bewusstseinsstroms und der Bewusstseinssprünge, ein Protokoll auch der zunehmenden Desorientierung. Manchmal kippen die Rückblicke ins Leben um in einen wahren Cancan der Erinnerungen. Die Distanzierung Elizas von der politischen Indifferenz ihres Mannes und der ständige Streit mit den Töchtern, also der Generationen-Konflikt, lösen Schübe von immer gleichen wechselseitigen Vorwürfen aus. Was zum Problem dieser Romanform wird, ist ein monomanischer Zug, der sich aus dem Schwinden der Selbstkontrolle Elizas erklärt. Aber was hier ein Realismus der Beschreibung fordert, muss nicht auch wirkungspoetisch das Bestmögliche sein. Wo der Leser von Wiederholung zu Wiederholung geführt wird, werden ihm die Augenlider schwer.
Dennoch: Was haftenbleibt, ist die Noblesse des Autors, die humane Geste, mit der er uns seine Figur schon auf der ersten Seite des Romans vorstellt: Sie "war mit ihrem Unglück alt und einsam geworden. Sie wusste, dass sie nicht in Frieden sterben würde. Die Unruhe blieb, der Zweifel, das Misstrauen, die Empörung und eine gewisse Sehnsucht. Das Leben zog sich aus ihr zurück, müde und schwermütig, wie nach einer Niederlage, ganz so, als sei ihr nicht zu helfen gewesen. Sie starb von einem Tag auf den anderen ... Die Töchter fühlten sich vom Tod ihrer Mutter überrumpelt. Jetzt weinten sie am Grab."
WALTER HINCK.
Eberhard Rathgeb: "Das Paradiesghetto". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014. 235 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nach "Ein Paar wie wir", seinem Roman über zwei Schwestern, ist auch "Paradiesghetto" ein sprachgenaues Frauenporträt."
Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 30.09.14
"Rathgeb gelingt es auch, Ausdrucksformen für ein Leben zu finden, in dem - zumindest äußerlich - fast nichts mehr passiert. Sein Roman kommt sehr leise, sehr einfach, daher und ist doch äußerst kunstvoll gemacht. (...) Es entsteht eine große, traurige Geschichte, ein Roman über das Leben und das Unglücklichsein."
Jutta Rinas, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.08.14
"Satz für Satz, maßvoll, rüttelnd, ein sachliches Lamento, eine berührende Etüde in Einsamkeit."
Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 06.09.14
"Man schwankt beim Lesen ständig zwischen fasziniertem Mitleid und unbändigem Hass auf diese Figur und kommt ihr mit beidem nicht bei. Bis klar wird, was der Roman eigentlich verhandelt: Selbstkasteiung durch Glücksverweigerung und Unglücklichsein als heimliche Glücksproduktion, legitimiert durch ein Auschwitz, das man selbst nie erleiden würde. Eine gespenstische gojische Variation auf das bittere jüdische Bonmot: "Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen." Ein Glutkern, dessen tiefe heutige Wahrheit das Blut in den Adern gefrieren lässt."
Pieke Biermann, Deutschlandradio Kultur, 23.08.14
"Dass Eberhard Rathgeb die Frage nach der Verantwortung des Vaters in der Schwebe lässt, ist nur eine Stärke dieses ungewöhnlichen Buches. Es will nicht urteilen, bloßstellen oder gar kühne Thesen zur deutschen Vergangenheitsbewältigung liefern.(...) Zugleich aber entsteht dank Rathgebs musikalischer Sprachkunst so etwas wie ein melancholischer Abgesang: auf eine Generation, die selbst keine Schuld auf sich geladen hatte, aber glaubte, die Verantwortung für das Versagen der Eltern übernehmen zu müssen."
Andreas Wirthensohn, WDR 3 Mosaik / Passagen, 30.09.14
"Feinfühlig verfasst." Hendrik Werner, Weser-Kurier, 01.02.15
Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 30.09.14
"Rathgeb gelingt es auch, Ausdrucksformen für ein Leben zu finden, in dem - zumindest äußerlich - fast nichts mehr passiert. Sein Roman kommt sehr leise, sehr einfach, daher und ist doch äußerst kunstvoll gemacht. (...) Es entsteht eine große, traurige Geschichte, ein Roman über das Leben und das Unglücklichsein."
Jutta Rinas, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.08.14
"Satz für Satz, maßvoll, rüttelnd, ein sachliches Lamento, eine berührende Etüde in Einsamkeit."
Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 06.09.14
"Man schwankt beim Lesen ständig zwischen fasziniertem Mitleid und unbändigem Hass auf diese Figur und kommt ihr mit beidem nicht bei. Bis klar wird, was der Roman eigentlich verhandelt: Selbstkasteiung durch Glücksverweigerung und Unglücklichsein als heimliche Glücksproduktion, legitimiert durch ein Auschwitz, das man selbst nie erleiden würde. Eine gespenstische gojische Variation auf das bittere jüdische Bonmot: "Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen." Ein Glutkern, dessen tiefe heutige Wahrheit das Blut in den Adern gefrieren lässt."
Pieke Biermann, Deutschlandradio Kultur, 23.08.14
"Dass Eberhard Rathgeb die Frage nach der Verantwortung des Vaters in der Schwebe lässt, ist nur eine Stärke dieses ungewöhnlichen Buches. Es will nicht urteilen, bloßstellen oder gar kühne Thesen zur deutschen Vergangenheitsbewältigung liefern.(...) Zugleich aber entsteht dank Rathgebs musikalischer Sprachkunst so etwas wie ein melancholischer Abgesang: auf eine Generation, die selbst keine Schuld auf sich geladen hatte, aber glaubte, die Verantwortung für das Versagen der Eltern übernehmen zu müssen."
Andreas Wirthensohn, WDR 3 Mosaik / Passagen, 30.09.14
"Feinfühlig verfasst." Hendrik Werner, Weser-Kurier, 01.02.15