Unsere Umwelt wurde von Männern für Männer gestaltet. In 'Das Patriarchat der Dinge' öffnet Rebekka Endler uns die Augen für das am Mann ausgerichtete Design, das uns überall umgibt. Und sie zeigt, welche mitunter lebensgefährlichen Folgen es für Frauen hat. Unsere westliche Medizin ist beispielsweise - mit Ausnahme der Gynäkologie - auf den Mann geeicht: von Diagnoseverfahren und medizinischen Geräten bis hin zur Dosierung von Medikamenten. Aber auch die Dummys für Crashtests haben den männlichen Körper zum Vorbild - und damit das ganze Auto samt Airbags und Sicherheitsgurten. Der öffentliche Raum ist ebenso für Männer gemacht: Architektur, Infrastruktur und Transport, sogar die Anzahl öffentlicher Toiletten oder die Einstellung der Temperatur in Gebäuden. Wer überlebt einen Herzinfarkt? Wer friert am Arbeitsplatz und für wen ist dieser gestaltet? Für wen sind technische Geräte leichter zu bedienen? Das Patriarchat ist Urheber und Designer unserer Umwelt. Wenn wir uns das bewusst machen, erscheinen diese Fragen plötzlich in einem neuen Licht.»Rebekka Endler zeigt die Ungerechtigkeiten unserer materiellen Welt.« DIE ZEIT, SACHBUCHBESTENLISTE
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Julia Hubernagel muss bei der Lektüre von Rebekka Endlers Buch lachen, so "abstrus" sind hier manche Fakten, die zeigen, wie "männlich genormt" selbst die Gegenstände unserer Welt sind: So wurde Frauen etwa das Fahrradfahren lange Zeit verboten, weil der Sattel Wollust hervorrufe, und bei Autounfällen sterben mehr Frauen als Männer, weil Sicherheitsgurte und Airbags seit den 60er Jahren an einem männlichen Dummy getestet werden, erfährt die Rezensentin. Besonders wichtig (auch in Bezug auf Corona) findet sie Endlers Hinweis auf die nicht nur in Fragen des Geschlechts, sondern auch der Hautfarbe immer noch sehr einseitige Testung von Medikamenten. Wenn die Autorin allerdings neben höhenverstellbaren Tischen auch die Wichtigkeit von Kaffeeklatsch für ein frauenfreundliches Arbeitsumfeld hervorhebt, verrennt sie sich, kritisiert Hubernagel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2021Wie für ihn gemacht
Warum es dringend nötig ist, die Welt nicht mehr nur für Männer zu gestalten
Rebekka Endler ist wütend. Sehr, sehr wütend. Kaum eine Seite in ihrem Buch kommt ohne Ausrufezeichen aus, gerne auch in der Variante eines Interrobangs, der Mischung von Ausrufe- und Fragezeichen. Sie schreibt in Versalien, um ihren Erregungszustand zu verdeutlichen, in die Fußnoten packt sie eine Extraportion Ärger. Warum? Weil der Mann, schreibt sie, vor allem der weiße Cis-Mann, das Maß aller Dinge sei: „Männlich ist die Norm, weiblich die Abweichung von der Norm.“
Diese Norm bestimmt, wie unsere Welt geformt, gestaltet und gedacht wird, wie Autos gebaut, die Klimaanlagen eingestellt, die Medikamente entwickelt und die Richterroben geschneidert werden. Was das für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung bedeutet, das führt die Autorin, Journalistin und Podcasterin aus Köln dann so akribisch und ja, empört aus, dass ziemlich schnell klar wird: Diese Wut stünde diesem Teil der Weltbevölkerung sehr gut.
Wut könnte die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich an der falsch verstandenen Norm etwas ändert. Oder, wie Endler schreibt: „Wenn die Nasenscheidewand so schief ist, dass der Mensch nicht mehr atmen kann, muss die Nase erst gebrochen werden, bevor es besser wird.“
Was Rebekka Endler in „Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt“ so umtreibt, hat schon andere vor ihr bewegt. Unter dem Titel „Nicht mein Ding“ zeigte im Frühjahr 2019 die Ulmer Hochschule für Gestaltung eine Ausstellung über Gender im Design und machte klar, dass die Pinkisierung kompletter Spielwarenabteilungen und Modegeschäfte mehr ist als ein Farbtrend. Im vergangenen Jahr erschien „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ von Caroline Criado-Perez. Die britische Feministin und Betreiberin der Website „The Women’s Room“ erklärte in ihrem Buch, welche fatalen Auswirkungen es hat, dass der Startpunkt für einen Großteil der Entwicklungen und Forschungen auf Studien basiert, die vor allem mit männlichen Probanden durchgeführt werden.
Der Gender-Data-Gap kann gerade in der Medizin mitunter tödliche Folgen haben: Wenn eine Frau unter 50 einen Herzinfarkt erleidet, ist ihre Sterbewahrscheinlichkeit doppelt so hoch wie für einen Mann aus der gleichen Altersgruppe. Nicht etwa, weil Herzinfarkte bei Frauen tödlicher sind, sondern weil sie nicht erkannt werden. Die Symptome bei weiblichen Patienten sind andere als bei männlichen, das medizinische Personal ist aber auf die männlichen Symptome geeicht. „Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ‚weiblich‘ vielleicht das gefährlichste Label von allen ist“, zitiert Endler im Buch Elisabeth Finch. Die Drehbuchautorin der Serie „Grey’s Anatomy“ thematisierte in einer Folge einen weiblichen Herzinfarkt, um auf die fatale Bildungslücke aufmerksam zu machen. Finch selbst hatte einen seltenen Knochenkrebs, der lange nicht erkannt wurde, weil ihr Arzt in ihren Beschwerden eine Neurose sah, die es mit Antidepressiva zu behandeln galt.
Fehldiagnosen, falsche Dosierungen, gravierende Nebenwirkungen – die Liste an Auswirkungen von männlich genormter Medizin ist lang. Ob sich auch die Hirnvenenthrombose, die der Covid-Impfstoff von Astra Zeneca bei jüngeren Frauen sehr selten auslösen kann, dazugesellt, wird sich noch zeigen. Klar ist, dass gendersensible Medizin nicht nur Leben retten kann, sondern auch sehr viel Leid ersparen würde. Doch der Forschungsbereich steht unverständlicherweise weder in der Politik noch bei der Pharmaindustrie auf der To-do-Liste.
Aber auch jenseits der Medizin machen Beispiele sprachlos. Auch weil so offensichtlich ist, wie leicht sich daran etwas ändern ließe. Etwa auch an der Tatsache, dass Autofahren für Frauen deutlich gefährlicher ist als für Männer. Einfach weil die Fahrzeuge weder für Fahrerinnen noch für Beifahrerinnen vorgesehen sind.
Über Jahrzehnte prüfte die Autoindustrie die Sicherheit von Autos nur mit einem einzigen Dummy: „Sierra Sam“, 1,77 Meter groß, 75,5 Kilogramm schwer. Erst seit einigen Jahren gibt es einen weiblichen Dummy – der aber nicht der weiblichen Anatomie entspricht: „Sie ist einfach nur ein kleiner Typ auf dem Beifahrer:innensitz“, schreibt Endler. Wagt man es als Frau, die standardmäßige Sitzposition zu verändern, sprich, den Sitz näher ans Armaturenbrett zu schieben, schnellen die Prozentzahlen einer höheren Verletzungswahrscheinlichkeit nach oben. Mit 80 Prozent mehr sind die Beine als Körperteile am meisten gefährdet. Dreimal häufiger als Männer erleiden Frauen ein Schleudertrauma.
Nichts, was Design nicht ändern könnte, wie auch die schwedische Ingenieurin und Expertin für Fahrzeugsicherheit Astrid Linder im Buch erklärt: „Die Regel sollte sein: Schutzmaßnahmen müssen so gestaltet werden, dass der am wenigste robuste Teil der Bevölkerung geschützt wird.“
Diesen Ansatz, von den Schwächsten in der Gruppe statt von den Stärksten und Fittesten auszugehen, bräuchte es in vielen Bereichen der Gestaltung. Allen voran bei der Stadtplanung. Bürgersteige werden oft nur abgesenkt, wo sie Autofahrern in die Quere kommen, und nicht etwa dort, wo es den Bedürfnissen der Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen und Benutzern von Rollatoren entspräche. Ampelschaltungen setzen ein zügiges Schritttempo voraus, Alte, Kranke und Kinder müssen sich nicht selten anhupen lassen. In den Städten fehlt es an Sitzgelegenheiten zum Ausruhen genauso wie an öffentlichen Toiletten – gerade für all diejenigen, die kein Pissoir benutzen können. (Was in Amsterdam schon mal die Gerichte beschäftigt hat, allerdings mit wenig Auswirkung.) Das alles sagt viel darüber aus, für wen der öffentliche Raum gedacht ist – und für wen nicht.
„Kann eine Raumtemperatur im Büro ‚sexistisch‘ sein?“, zitiert Endler einen Artikel aus der New York Times und erklärt dann, warum kühlere Zimmertemperaturen – in den USA sind es für Büroräume standardmäßig 21 Grad – bei Frauen nicht nur ihr Wärmeempfinden stören: „Kreative Arbeit, lernen, sprechen, alle intellektuellen Fähigkeiten sind quasi auf Eis gelegt, wenn Menschen frieren, da der Körper seine Ressourcen schont und in den Rumpf umleitet, wo außer dem Gehirn alle lebenswichtigen Organe arbeiten. (...) Es ist also nicht nur der weibliche Körper, sondern auch die weibliche Produktivität, die leidet.“ Passend zu den Temperaturen sind auch die Büromöbel in der Regel auf Männer ausgelegt, dabei stellten Studien fest, „dass aufgrund der Unterschiede im Becken- und Rückenbereich der Geschlechter sowie der unterschiedlichen Nutzung von Arm- und Rückenlehnen Sitzen nicht gleich Sitzen ist“.
Ob Cockpits von Flugzeugen, schusssichere Westen, Fahrradsessel oder Fußballschuhe: Ihnen allen ist die weibliche Anatomie fremd. Und Richterroben, die für einen Mann von „stattlich-imposanter Statur“ entworfen wurden, sehen bei Juristinnen nicht selten unfreiwillig komisch aus, wie die Anwältin Asha Hedayati im Buch berichtet: „Eine sitzende Robe strahlt Sicherheit, Souveränität und Kompetenz aus. Ich hingegen sehe darin nicht souverän, sondern winzig aus. Immerhin trage ich immer hohe Schuhe dazu, damit die Robe nicht ganz so aussieht wie ein Kartoffelsack.“
Das Suggerieren von fehlender Kompetenz, von Angewiesensein auf Hilfe implizieren auch Geräte, die sich gezielt an Frauen richten: Für sie gibt es „Haushaltshilfen“, für ihn „Elektrowerkzeug“. „Die ,Beherrschung‘ männlich codierter technischer Gerätschaften kommt einer Machtausübung gleich, während der ,Bedienung‘ weiblich codierter Haushaltsgeräte bloß eine unterstützenden Funktion innewohnt.“ Ob es Zufall ist, dass Siri als weibliche Stimme willig auf Befehle wartet?
Es ist die klar feministische Perspektive auf das Design und all seine Verästelungen, die diese eklatante Fehlstellung, den blinden Fleck auf dem Skizzenblock der Gestalter zutage fördert. Wobei ja nicht nur Frauen außer Acht gelassen werden, wenn nur ein gesunder, mittelalter weißer Mann als Ausgangspunkt für den Entwurf genommen wird. Alte und Kranke fallen nicht darunter, Menschen mit anderer Hautfarbe und Transgender auch nicht. Schuld an diesem Missstand dürfte nicht zuletzt die Vorstellung eines universellen Designs sein, eines Design, das sich an alle richtet und allen gerecht werden will – was genau zu den haarsträubenden Ungerechtigkeiten führt.
Gut möglich, dass die Norm auch deswegen so viele Jahre nicht hinterfragt wurde, weil Frauen und andere „Minderheiten“ im Design lange ein Nischendasein führten, sie wie im Bauhaus zu Randbereichen wie Textil und der Keramik abkommandiert wurden, während Männer das Industriedesign eroberten. Bis heute sind die Stars der Szene männlich. Doch zumindest das ändert sich langsam. Genauso wie in den Ausstellungshäusern endlich den Gestalterinnen die Aufmerksamkeit zuteil wird, die sie verdienen: Zeitgenössische Designerinnen wie Hella Jongerius bekommen große Einzelausstellungen, aktuell im Berliner Gropius-Bau. Im Museum für angewandte Kunst in Wien hat gerade die Ausstellung „Die Frauen der Wiener Werkstätten“ eröffnet, und im Herbst werden im Vitra-Design-Museum zum ersten Mal die Designerinnen der hochkarätigen Sammlung vorgestellt.
Nur sollte man nicht den Fehler machen, Design von Frauen mit Design für Frauen zu verwechseln. Letzteres wird sich einzig und allein ändern, wenn der Markt das einfordert. Womit wir wieder bei der Wut wären. Denn: Wütende Kundinnen kaufen nicht.
LAURA WEISSMÜLLER
Kann denn die
Raumtemperatur im
Büro „sexistisch“ sein?
Rebekka Endler:
Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt
Frauen nicht passt,
336 Seiten,
DuMont, Köln 2021,
22 Euro.
„Männlich
ist die Norm, weiblich die Abweichung
von der Norm“:
Jahrzehntelang prüfte die Autoindustrie die Sicherheit nur mit männlichen Dummys. Auch das Design von Fußballschuhen
und Richterroben
orientierte sich lange Zeit ausschließlich
an den Körpermaßen des Mannes.
Illustration: Rebekka
Endler/DUMONT, Bearbeitung SZ; Fotos: imago (2), getty images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Warum es dringend nötig ist, die Welt nicht mehr nur für Männer zu gestalten
Rebekka Endler ist wütend. Sehr, sehr wütend. Kaum eine Seite in ihrem Buch kommt ohne Ausrufezeichen aus, gerne auch in der Variante eines Interrobangs, der Mischung von Ausrufe- und Fragezeichen. Sie schreibt in Versalien, um ihren Erregungszustand zu verdeutlichen, in die Fußnoten packt sie eine Extraportion Ärger. Warum? Weil der Mann, schreibt sie, vor allem der weiße Cis-Mann, das Maß aller Dinge sei: „Männlich ist die Norm, weiblich die Abweichung von der Norm.“
Diese Norm bestimmt, wie unsere Welt geformt, gestaltet und gedacht wird, wie Autos gebaut, die Klimaanlagen eingestellt, die Medikamente entwickelt und die Richterroben geschneidert werden. Was das für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung bedeutet, das führt die Autorin, Journalistin und Podcasterin aus Köln dann so akribisch und ja, empört aus, dass ziemlich schnell klar wird: Diese Wut stünde diesem Teil der Weltbevölkerung sehr gut.
Wut könnte die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich an der falsch verstandenen Norm etwas ändert. Oder, wie Endler schreibt: „Wenn die Nasenscheidewand so schief ist, dass der Mensch nicht mehr atmen kann, muss die Nase erst gebrochen werden, bevor es besser wird.“
Was Rebekka Endler in „Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt“ so umtreibt, hat schon andere vor ihr bewegt. Unter dem Titel „Nicht mein Ding“ zeigte im Frühjahr 2019 die Ulmer Hochschule für Gestaltung eine Ausstellung über Gender im Design und machte klar, dass die Pinkisierung kompletter Spielwarenabteilungen und Modegeschäfte mehr ist als ein Farbtrend. Im vergangenen Jahr erschien „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ von Caroline Criado-Perez. Die britische Feministin und Betreiberin der Website „The Women’s Room“ erklärte in ihrem Buch, welche fatalen Auswirkungen es hat, dass der Startpunkt für einen Großteil der Entwicklungen und Forschungen auf Studien basiert, die vor allem mit männlichen Probanden durchgeführt werden.
Der Gender-Data-Gap kann gerade in der Medizin mitunter tödliche Folgen haben: Wenn eine Frau unter 50 einen Herzinfarkt erleidet, ist ihre Sterbewahrscheinlichkeit doppelt so hoch wie für einen Mann aus der gleichen Altersgruppe. Nicht etwa, weil Herzinfarkte bei Frauen tödlicher sind, sondern weil sie nicht erkannt werden. Die Symptome bei weiblichen Patienten sind andere als bei männlichen, das medizinische Personal ist aber auf die männlichen Symptome geeicht. „Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ‚weiblich‘ vielleicht das gefährlichste Label von allen ist“, zitiert Endler im Buch Elisabeth Finch. Die Drehbuchautorin der Serie „Grey’s Anatomy“ thematisierte in einer Folge einen weiblichen Herzinfarkt, um auf die fatale Bildungslücke aufmerksam zu machen. Finch selbst hatte einen seltenen Knochenkrebs, der lange nicht erkannt wurde, weil ihr Arzt in ihren Beschwerden eine Neurose sah, die es mit Antidepressiva zu behandeln galt.
Fehldiagnosen, falsche Dosierungen, gravierende Nebenwirkungen – die Liste an Auswirkungen von männlich genormter Medizin ist lang. Ob sich auch die Hirnvenenthrombose, die der Covid-Impfstoff von Astra Zeneca bei jüngeren Frauen sehr selten auslösen kann, dazugesellt, wird sich noch zeigen. Klar ist, dass gendersensible Medizin nicht nur Leben retten kann, sondern auch sehr viel Leid ersparen würde. Doch der Forschungsbereich steht unverständlicherweise weder in der Politik noch bei der Pharmaindustrie auf der To-do-Liste.
Aber auch jenseits der Medizin machen Beispiele sprachlos. Auch weil so offensichtlich ist, wie leicht sich daran etwas ändern ließe. Etwa auch an der Tatsache, dass Autofahren für Frauen deutlich gefährlicher ist als für Männer. Einfach weil die Fahrzeuge weder für Fahrerinnen noch für Beifahrerinnen vorgesehen sind.
Über Jahrzehnte prüfte die Autoindustrie die Sicherheit von Autos nur mit einem einzigen Dummy: „Sierra Sam“, 1,77 Meter groß, 75,5 Kilogramm schwer. Erst seit einigen Jahren gibt es einen weiblichen Dummy – der aber nicht der weiblichen Anatomie entspricht: „Sie ist einfach nur ein kleiner Typ auf dem Beifahrer:innensitz“, schreibt Endler. Wagt man es als Frau, die standardmäßige Sitzposition zu verändern, sprich, den Sitz näher ans Armaturenbrett zu schieben, schnellen die Prozentzahlen einer höheren Verletzungswahrscheinlichkeit nach oben. Mit 80 Prozent mehr sind die Beine als Körperteile am meisten gefährdet. Dreimal häufiger als Männer erleiden Frauen ein Schleudertrauma.
Nichts, was Design nicht ändern könnte, wie auch die schwedische Ingenieurin und Expertin für Fahrzeugsicherheit Astrid Linder im Buch erklärt: „Die Regel sollte sein: Schutzmaßnahmen müssen so gestaltet werden, dass der am wenigste robuste Teil der Bevölkerung geschützt wird.“
Diesen Ansatz, von den Schwächsten in der Gruppe statt von den Stärksten und Fittesten auszugehen, bräuchte es in vielen Bereichen der Gestaltung. Allen voran bei der Stadtplanung. Bürgersteige werden oft nur abgesenkt, wo sie Autofahrern in die Quere kommen, und nicht etwa dort, wo es den Bedürfnissen der Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen und Benutzern von Rollatoren entspräche. Ampelschaltungen setzen ein zügiges Schritttempo voraus, Alte, Kranke und Kinder müssen sich nicht selten anhupen lassen. In den Städten fehlt es an Sitzgelegenheiten zum Ausruhen genauso wie an öffentlichen Toiletten – gerade für all diejenigen, die kein Pissoir benutzen können. (Was in Amsterdam schon mal die Gerichte beschäftigt hat, allerdings mit wenig Auswirkung.) Das alles sagt viel darüber aus, für wen der öffentliche Raum gedacht ist – und für wen nicht.
„Kann eine Raumtemperatur im Büro ‚sexistisch‘ sein?“, zitiert Endler einen Artikel aus der New York Times und erklärt dann, warum kühlere Zimmertemperaturen – in den USA sind es für Büroräume standardmäßig 21 Grad – bei Frauen nicht nur ihr Wärmeempfinden stören: „Kreative Arbeit, lernen, sprechen, alle intellektuellen Fähigkeiten sind quasi auf Eis gelegt, wenn Menschen frieren, da der Körper seine Ressourcen schont und in den Rumpf umleitet, wo außer dem Gehirn alle lebenswichtigen Organe arbeiten. (...) Es ist also nicht nur der weibliche Körper, sondern auch die weibliche Produktivität, die leidet.“ Passend zu den Temperaturen sind auch die Büromöbel in der Regel auf Männer ausgelegt, dabei stellten Studien fest, „dass aufgrund der Unterschiede im Becken- und Rückenbereich der Geschlechter sowie der unterschiedlichen Nutzung von Arm- und Rückenlehnen Sitzen nicht gleich Sitzen ist“.
Ob Cockpits von Flugzeugen, schusssichere Westen, Fahrradsessel oder Fußballschuhe: Ihnen allen ist die weibliche Anatomie fremd. Und Richterroben, die für einen Mann von „stattlich-imposanter Statur“ entworfen wurden, sehen bei Juristinnen nicht selten unfreiwillig komisch aus, wie die Anwältin Asha Hedayati im Buch berichtet: „Eine sitzende Robe strahlt Sicherheit, Souveränität und Kompetenz aus. Ich hingegen sehe darin nicht souverän, sondern winzig aus. Immerhin trage ich immer hohe Schuhe dazu, damit die Robe nicht ganz so aussieht wie ein Kartoffelsack.“
Das Suggerieren von fehlender Kompetenz, von Angewiesensein auf Hilfe implizieren auch Geräte, die sich gezielt an Frauen richten: Für sie gibt es „Haushaltshilfen“, für ihn „Elektrowerkzeug“. „Die ,Beherrschung‘ männlich codierter technischer Gerätschaften kommt einer Machtausübung gleich, während der ,Bedienung‘ weiblich codierter Haushaltsgeräte bloß eine unterstützenden Funktion innewohnt.“ Ob es Zufall ist, dass Siri als weibliche Stimme willig auf Befehle wartet?
Es ist die klar feministische Perspektive auf das Design und all seine Verästelungen, die diese eklatante Fehlstellung, den blinden Fleck auf dem Skizzenblock der Gestalter zutage fördert. Wobei ja nicht nur Frauen außer Acht gelassen werden, wenn nur ein gesunder, mittelalter weißer Mann als Ausgangspunkt für den Entwurf genommen wird. Alte und Kranke fallen nicht darunter, Menschen mit anderer Hautfarbe und Transgender auch nicht. Schuld an diesem Missstand dürfte nicht zuletzt die Vorstellung eines universellen Designs sein, eines Design, das sich an alle richtet und allen gerecht werden will – was genau zu den haarsträubenden Ungerechtigkeiten führt.
Gut möglich, dass die Norm auch deswegen so viele Jahre nicht hinterfragt wurde, weil Frauen und andere „Minderheiten“ im Design lange ein Nischendasein führten, sie wie im Bauhaus zu Randbereichen wie Textil und der Keramik abkommandiert wurden, während Männer das Industriedesign eroberten. Bis heute sind die Stars der Szene männlich. Doch zumindest das ändert sich langsam. Genauso wie in den Ausstellungshäusern endlich den Gestalterinnen die Aufmerksamkeit zuteil wird, die sie verdienen: Zeitgenössische Designerinnen wie Hella Jongerius bekommen große Einzelausstellungen, aktuell im Berliner Gropius-Bau. Im Museum für angewandte Kunst in Wien hat gerade die Ausstellung „Die Frauen der Wiener Werkstätten“ eröffnet, und im Herbst werden im Vitra-Design-Museum zum ersten Mal die Designerinnen der hochkarätigen Sammlung vorgestellt.
Nur sollte man nicht den Fehler machen, Design von Frauen mit Design für Frauen zu verwechseln. Letzteres wird sich einzig und allein ändern, wenn der Markt das einfordert. Womit wir wieder bei der Wut wären. Denn: Wütende Kundinnen kaufen nicht.
LAURA WEISSMÜLLER
Kann denn die
Raumtemperatur im
Büro „sexistisch“ sein?
Rebekka Endler:
Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt
Frauen nicht passt,
336 Seiten,
DuMont, Köln 2021,
22 Euro.
„Männlich
ist die Norm, weiblich die Abweichung
von der Norm“:
Jahrzehntelang prüfte die Autoindustrie die Sicherheit nur mit männlichen Dummys. Auch das Design von Fußballschuhen
und Richterroben
orientierte sich lange Zeit ausschließlich
an den Körpermaßen des Mannes.
Illustration: Rebekka
Endler/DUMONT, Bearbeitung SZ; Fotos: imago (2), getty images
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»Ein Augenöffner.« Christian Ewers, STERN »Ein bemerkenswertes Buch« Bettina Böttinger, KÖLNER TREFF »Rebekka Endler erzählt [...] mit Ironie und Humor von den unhinterfragten Ungerechtigkeiten im Alltag zwischen Frau und Mann.« NDR KULTUR »Selten habe ich ein Sachbuch so hässig geliebt.« Anna Rosenwasser, SRF KULTUR »Mehr als feministische Literatur: Dieses Sachbuch ist ein wahnsinnig wertvoller, gut recherchierter Augenöffner, von dem man kaum mehr loskommt.« Lara Stoll, INTERVIEW BY RINGIER »[Rebekka Endlers] Buch ist spannender als mancher Roman und brisanter ohnehin.« Linus Volkmann, MUSIKEXPRESS »Schlag auf Schlag liefert Rebekka Endler Beispiele, die sie mit aktuellen Studien, Interviews und oft witzigen Blicken in die Geschichte unterfüttert. Bei all dem hält sie gekonnt die Balance zwischen angemessenem Sarkasmus, journalistischer Neugier und Aufklärungswillen, und liefert dazu noch nette Zeichnungen.« Anette Schneider, NDR KULTUR »[Rebekka Endler] beschreibt ein Unbehagen, das ich selbst oft spüre. (...) Mir hat dieses kurzweilig zu lesende Buch gezeigt, dass mit meinem Gefühl alles stimmt. Die Welt ist nicht für Frauen gemacht. Das fällt mir jetzt an noch viel mehr Stellen unangenehm auf.« Johanna Heller, HEBAMMENFORUM »Rebekka Endlers Buch ist lesenswert, weil es an alltäglichen Beispielen anschaulich macht, dass hinsichtlich einer geschlechtergerechten Gestaltung unserer Umwelt noch viel Luft nach oben ist.« Thomas Wagner, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG »Wer schlagkräftige und alltagsnahe Argumente für die anhaltende Notwendigkeit des Feminismus sucht, findet diese in 'Das Patriarchat der Dinge'.« Miriam Scheibe, TAZ FUTUR ZWEI »Es ist eine unglaubliche Fülle an Tatsachen, die die Journalsitin Rebekka Endler zusammengetragen hat, die allesamt belegen, dass die Welt für Frauen nicht gemacht ist.« Wolfgang, Ritschl, Ö1 KONTEXT »Rebekka Endler über eine Welt, die sich nach Durchschnittsmännern richtet.« Alexander Diehl, TAZ »Endler macht deutlich, wie schwer es ihr selbst als Frau fällt, sich in einer für Männer gedachten und gemachten Welt zu bewegen und zu behaupten.« Andreas Hartmann, DER FREITAG »Rebekka Endler zeigt die Ungerechtigkeiten unserer materiellen Welt.« DIE ZEIT SACHBUCHBESTENLISTE »Rebekka Endler macht in 'Das Patriarchat der Dinge' humorvoll auf den Sexismus aufmerksam, der Gegenständen innewohnt.« Julia Hubernagel, TAZ »Rebekka Endler hat ein wichtiges Plädoyer für ein Umdenken im Design, in der Medizin und in der Konzeption unseres Alltags geschrieben.« Kristian Teetz, REDAKTIONSNETZWERK DEUTSCHLAND »Nicht nur patriarchale Strukturen nimmt die Autorin in den Blick, sondern ebenso Kapitalismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit. Das Buch zeigt gut, wie verschiedene Unterdrückungsformen ineinanderwirken - und wo sie sich unterscheiden.« Claudia Lindner, L-MAG »Das Buch lädt einfach dazu ein, die eigene Umwelt auch mal genauer zu betrachten, zu hinterfragen und vielleicht auch ein bisschen zu verändern.« Katharina Mild, RADIO BREMEN »Der Mann ist das Maß aller Dinge. Wer's nicht glauben kann sollte das angemessen wütende und herrlich humorvolle Buch von Rebekka Endler lesen« Barbara Knopf, B5 KULTUR »Rebekka Endler hat [...] eine beeindruckende Bandbreite an Beispielen recherchiert.« Max Bauer, SWR2 AM MORGEN »Rebekka Endler zeigt auf, dass unsere Umwelt von Männern für Männer gestaltet wurde.« Sabrina Holland, THE CURVY MAGAZIN »In 'Das Patriarchat der Dinge' öffnet Rebekka Endler uns die Augen für das am Mann ausgerichtete Design, das uns überall umgibt. Und sie zeigt, welche mitunter lebensgefährlichen Folgen es für Frauen hat.« Susanne Wellner, MEIN SAMSTAG »In diesem System stimmt grundsätzlich etwas nicht und das legt die Autorin Rebekka Endler in ihrem Buch 'Das Patriarchat der Dinge' offen.« Julia Dührkop, GOSLARSCHE ZEITUNG »'Das Patriarchat der Dinge' verspricht einen Überblick über patriarchisch geprägtes Design, bietet jedoch viel mehr als das.« Julia Ingold, ANALYSE UND KRITIK »Ihr provokativer Tonfall ist maßgeblicher Charakterzug eines Buchs, das sich unterhaltsamer und spannender als mancher Roman liest.« Linus Volkmann, KAPUT MAGAZIN »Rebekka Endler zeigt die Gefahr männlicher Normen für Frauen - etwa bei Medikamenten oder Airbags. Und dass ein Umdenken dringend nötig ist.« Jutta Koch, COSMIA »Augenöffnenden Lektüre« Birgit Strahlendorff, Frauen im DBB »Augenöffnenden Lektüre« Birgit Strahlendorff, Frauen im DBB »Trägt zum Verständnis von Machtstrukturen und Asymmetrien bei.« Daphne Blauwhoff, SCHWÄBISCHES TAGBLATT »Mir hat dieses lustig und klug geschriebene Buch einen wacheren Blick auf die Welt geschenkt. Ein Highlight, ich kann dieses Buch allen nur ans Herz legen.« Shida Bazyar, TRIERISCHER VOLKSFREUND