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Produktdetails
  • Verlag: Matthes & Seitz Berlin
  • 1. Aufl.
  • Seitenzahl: 240
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 440g
  • ISBN-13: 9783882212747
  • ISBN-10: 3882212748
  • Artikelnr.: 06284984
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Jean Baudrillard, geboren 1929 in Reims, war von 1968 bis 1987 Professor für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre. Auszeichnung: 1995 mit dem Siemens-Medienkunstpreis. Er war Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Kultur- und Medienkritik an der European Graduate School in Saas Fee. Buchveröffentlichungen. Jean Baudrillard verstarb 2007.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Heim in die Peking-Oper
Baudrillard will die Realität wiederhaben / Von Jürg Altwegg

Mord als Metapher für das Verschwinden der Wirklichkeit: "Dies ist die Geschichte eines Verbrechens - der Ermordung der Realität." Jean Baudrillard hatte sich bislang an der Auflösung der Dinge wenig gestört. Er befaßte sich mit den Medien, welche die Wirklichkeit verdrängen, und delektierte sich an den Begriffen der Transgression, Simulation, Subversion dieser Realität. Seit langem sah er die virtuellen Welten heraufziehen; ihrer Verführung gab er sich lustvoll hin. Doch plötzlich redet Baudrillard ganz anders: Er klagt, was er bislang bei aller Melancholie, bei allem Nihilismus nie tat, ja er klagt an. "Das perfekte Verbrechen" lautet der Titel seines jüngsten Essays. Es geht dem Autor keineswegs um das "crime gratuit" (ohne Motiv) der Surrealisten, sondern in der Tat um das perfekte Verbrechen, das bekanntlich nicht als solches erkannt wird - oder dessen Täter zumindest nicht überführt werden können. Baudrillard will es rekonstruieren.

Der Detektiv auf Spurensuche in einer sich auflösenden Welt. Der Tod weicht der künstlichen Verlängerung des Lebens, der Körper des Menschen und sein Gesicht werden von der plastischen Chirurgie geformt, die Vermehrung des Geschlechts erfolgt über das Klonen. Die totale Kommunikation hat den Dialog ersetzt. Die Wirkungen sind ohne Ursachen, die Kriege ohne Feinde, die Leidenschaften ohne Bezugsobjekte, Sexualität findet ohne Körperkontakt statt. Alles hat seine Substanz verloren: Der Zucker ist ohne Kalorien, das Leben ohne Salz. So künstlich und fad sind die virtuellen Welten.

Als ihren Schlüsselbegriff bezeichnet Baudrillard die "Hohe Auflösung: die des Bildes, doch auch die der Zeit (Echtzeit), der Musik (High Fidelity), des Sexus (Pornographie), des Denkens (Künstliche Intelligenz), der Sprache (numerische Sprachen), des Körpers (genetischer Code und Genom). Überall kennzeichnet die Hohe Auflösung jenseits aller natürlichen Determination den Übergang zu einer operationalen - genauer gesagt ,hochauflösenden' - Formel, zu einer Welt, in der die referentielle Substanz immer knapper wird. Die höchste Auflösung des Mediums entspricht der schwächsten Auflösung der Botschaft."

Wie immer ist Baudrillard in der Beschreibung der Phänomene sehr viel überzeugender als bei ihrer Verdichtung zum System. Dennoch gelingen ihm immer wieder überzeugende Formulierungen. "Die gesamte generische Illusion des Bildes wird durch die technische Perfektion vernichtet", schreibt er. Oder: "Künstliche Intelligenz? Keine Spur von Künstlichkeit, keine Spur eines Denkens der Illusion, der Verführung, des so viel subtileren, perverseren, beliebigeren Spiels der Welt." Alles findet in Echtzeit und ohne Distanz statt: "die Zuschauer nicht mehr vor dem Bildschirm, sondern im Fernsehen" - das ist die globale Reality Show. "Die Phänomene werden aktualisiert, bevor sie stattgefunden haben. Die Berichterstattung ist nur noch die paradoxe Verwechslung von Ereignis und Medium und die daraus entstehende Unsicherheit."

Wehmütig erinnert sich Baudrillard der Peking-Oper. "Dort war die Illusion noch total": "Wie in der Duell-Szene die beiden Körper, die einander mit ihren Waffen streiften, ohne sich wirklich zu treffen, die Finsternis spürbar machten" - ohne special effects. Zur Beschreibung des Sündenfalls im Cyberspace bemüht er Arthur Clarke. Ein tibetanischer Priesterorden widmet sich seit Jahrhunderten der Aufgabe, die neun Milliarden Namen Gottes niederzuschreiben. Mit Hilfe von Computerfachkräften wird alles in ein paar Monaten erledigt. Damit ist aber auch, wie verheißen, die Welt am Ende, "und die fassungslosen Techniker sehen auf ihrem Weg zurück ins Tal, wie ein Stern nach dem anderen erlischt".

So triumphiert - ein paar Seiten weiter ist Baudrillard bei Peter Schlemihl - "das Reich der Schatten, in dem nicht mehr die Körper ihre Schatten, sondern die Schatten ihre Körper werden, die dann nur noch die Schatten eines Schattens wären". In der trimphierenden virtuellen Welt "besteht alles aus Zufällen, glücklichen und unglücklichen": "Transgression und Destruktion liegen außerhalb unserer Fähigkeiten", "wir können nicht mehr Ordnung oder Unordnung in die Welt hineinprojizieren, als darin ist" - also keine.

Baudrillard zieht Bilanz, seine Spurensuche war erfolgreich. Das Verbrechen an der Realität findet tatsächlich statt. Perfekt ist es nur, weil wir ohne den Autor, der es minutiös rekonstruiert, vielleicht wirklich nichts davon wissen würden. Sein Motiv? Sein Motor ist die technische Entwicklung, der Baudrillard keine Zeile widmet. Und seine Opfer? Sind wir alle. Und an erster Stelle Jean Baudrillard selbst, dessen Denken und Verstand auch ziemlich virtuell geworden sind. Seine herrlichen philosophischen Leerformeln drehen sich schwindelerregend um sich selbst. Man folgt ihnen fasziniert, doch außer Atem; nachvollziehen kann man sie nicht immer. Er spricht von "Endlösung" und nennt sie "die vorzeitige Auflösung der Welt durch Klonung der Realität und Vernichtung des Realen durch sein Double" (Seite 47) - andererseits: "es gibt neben der Welt keinen Platz für ihr Double" (Seite 61).

Baudrillards Trauer über das Eintreffen seiner theoretischen Prophezeiung mündet unvermittelt in eine - allerdings verzweifelte - Revolte, die ihre Widerstandskraft aus einem geradezu bildungsbürgerlichen, romantisch verbrämten Kulturbegriff bezieht. Baudrillards individuelle Auflehnung stützt sich auf ein Bekenntnis zur Sprache und zum Schreiben. Ihr anachronistisches Glück ist ungebrochen, aber ohne Perspektive. Denn auch der Künstler hat "nichts zu sagen" und ist Komplize des großen Verbrechens. Dieses Verbrechen hat auch nicht erst im Cyberspace begonnen; schon die Aufklärung, die die Illusion von Emanzipation verbreitet, war und ist ein großes Täuschungsmanöver zu seiner Kaschierung.

Gegen sie betreibt der erklärte Fatalist Jean Baudrillard seit längerem seine pessimistisch-philosophischen Auf- und nun auch noch kriminalistischen Abklärungen: "Vielleicht hat es niemals irgendeinen Fortschritt zu mehr Wissenschaftlichkeit, zu mehr Bewußtheit und Objektivität gegeben, und all das war lediglich der Diskurs von Intellektuellen und Ideologen, die daraus seit Jahrhunderten beachtliche Vorteile gezogen haben?" Zumindest diese Form von hartnäckiger Wirklichkeit kann allem Anschein nach auch in den virtuellen Welten ganz anständig überleben.

Jean Baudrillard: "Das perfekte Verbrechen". Aus dem Französischen von Riek Walther. Verlag Matthes & Seitz, München 1996. 240 S., geb., 49,80 DM.

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