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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2005

Band 48
Im Labor der Unmenschlichkeit
Primo Levis Roman „Das periodische System”
Wenn wir wollen, können wir den Menschen mit einiger Präzision als chemische Formel darstellen. Dann reden wir von Stoffen, Mineralien und Verbindungen, die sich unserem Willen und unserer Kontrolle entziehen; auf wissenschaftliche Weise erfahren wir so etwas über die condition humaine. Für Überraschungen bleibt da wenig Platz. Eine derart nüchterne Reduktion des Menschen ist oft nützlich: Wir können jetzt Aussagen über ihn machen, die von Vermutungen und Willkür frei sind, die nichts - aber auch wirklich nichts - mit Wunschdenken, Träumen oder gar Poesie zu tun haben.
Primo Levi war Chemiker. Doch seine Erfahrungen als Mensch widersprachen dem, was er über Materie und Methoden im Labor gelernt hatte. Denn es wurde ihm zugemutet zu erleben, wozu der Mensch - jener aus Fleisch und Blut, nicht der Mensch als Formel - fähig ist. Als Widerstandskämpfer und Jude wurde Levi im Krieg verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Er hat das Lager, diese neue Art von Labor, überlebt. Nach Kriegsende kehrte er nach Hause zurück und fing an, Bücher zu schreiben, die sich alle mit seinen Erfahrungen aus diesem pervertierten Labor befassten. Im Jahr 1987 starb er in seiner Heimatstadt Turin. Primo Levi hat Hand an sich gelegt: Ein letztes Mal hat er die Kontrolle über sein eigenes Leben an sich gerissen, ein letztes Mal dem Befehl seiner Peiniger gehorcht.
Eine unendliche Trauer liegt über dem, was Primo Levi schreibt. In einem seiner Bücher kommt ein Mann vor, ein Gefangener wie er, für den das Leben im Lager wie geschaffen zu sein scheint. Er gehorcht, er passt sich an ohne inneren Widerstand; es sieht tatsächlich so aus, als genösse er das Lagerleben. Hier ist sein Platz, nicht draußen vor dem Tor in der bedrohlichen Freiheit. Ist dieser Gefangene ein Mensch? Ja. Er ist einer, weil es im menschlichen Leben fast nichts gibt, woran wir uns halten könnten, und wir deshalb immer auf das Unerwartete gefasst sein müssen. In Primo Levis Trauer ist oft ein leises Staunen zu spüren, jene Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, ohne die er damals vielleicht untergegangen wäre. Doch zum Überleben ist das nicht genug: Dazu brauchen wir die anderen Menschen.
Aber da gibt es einen anderen, einen Landsmann, ohne dessen Hilfe Levi es nicht geschafft hätte. Dieser einfache Mensch zeigt Güte, und in Auschwitz ist er nicht der einzige. Die Güte, die solche Menschen den anderen entgegenbringen, ist jedoch nicht immer von Vorteil. Denn auch die Gütigen werden nicht überleben, und oft, so scheint es, sterben sie zahlreicher als jene, die sich um ihre Mitmenschen nicht kümmern können oder es gar nicht wollen. Das ist tief beunruhigend. Mit der Zeit kam Primo Levi hier offenbar einer menschlichen Ordnung auf die Spur, die mit ihrem Zwang und ihrer Unbestechlichkeit den Gesetzen der toten Materie ähnelt. Und er erschrak. In seinem zweiten Labor ist er bis zu fundamentalen Gesetzmäßigkeiten des Lebens vorgedrungen, die sonst verborgen bleiben, weil wir Menschen sie nicht ertragen.
Keiner außer ihm hat mit derart illusionsloser Luzidität über diese dunklen Geheimnisse des Lebens geschrieben. Ihm selbst hat es nicht geholfen. Sein eigenes Überleben wurde dadurch nur schwieriger - und am Ende unmöglich.
RICHARD SWARTZ
Primo Levi
Foto: Jerry Bauer/Suhrkamp
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