Ein Dame spielender Onkel, der bibelfeste Vater, der verliebte Biologe, ein Pastor auf dem Rennrad: Immer ist es Maarten 't Hart selbst, dem wir in diesen zwölf grandiosen Geschichten begegnen, die der Autor eigens für die vorliegende Ausgabe zusammengestellt hat. Seine Orte und Landschaften, die Klänge eines Konzerts, das Summen von Wespen im April - Maarten 't Harts ganzer Kosmos findet sich in diesen poetischen Stücken wieder und zeigt den Autor des Bestsellerromans »Das Wüten der ganzen Welt« als einen der großen niederländischen Geschichtenerzähler. »Man kann sich nicht losreißen - einfach weil Maarten 't Hart ein hinreißender Erzähler ist.« Die Zeit
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2002Zögernder Trab
Maarten 't Harts
„Das Pferd, das den Bussard jagte”
Der 1944 geborene niederländische Schriftsteller Maarten 't Hart ist studierter Biologe, von 1970 bis 1987 war er Dozent für Ethologie. Eines seiner Spezialgebiete: das Verhalten von Ratten. Vor fast 25 Jahren hat ihn Werner Herzog eingestellt, der in Delft seinen „Nosferatu” drehte und dazu Tausende von Ratten (ver)brauchte. Über diese fragwürdige Instrumentalisierung seiner Disziplin hat 't Hart 1979 eine Reportage geschrieben, die 1984 auch in deutscher Übersetzung erschien. Wäre sie nicht in einem dieser tragisch unauffälligen Kleinverlage herausgekommen, hätte die hinreißende Tier-Mensch- Parabel schon damals ein breites Publikum auf diesen Autor neugierig gemacht.
Ein Gesamtwerk in nuce stellt jetzt der neue Prosaband dar, zwölf Erzählungen aus den Jahren 1974 bis 2001, die Maarten ' Hart selber zusammengestellt hat – eine Art episodischer Autobiographie. An ihrem Beginn ist der Ich-Erzähler ein siebenjähriger Junge, der sich in einem Gottesdienst mit gespannter Aufmerksamkeit langweilt, zuletzt ein älterer Mann, der sich mit Herzrhythmusproblemen herumschlägt und eins ums andere Mal mit dem Fahrrad bei Rot über die Ampel fährt. So bedauerlich es ist, daß Maarten 't Hart die Ratten-Erzählung weggelassen hat – nicht nur die Titelgeschichte beweist, dass für ihn die tierische Ethologie eine Fortsetzung der Anthropologie mit anderen Mitteln ist.
In der Titelgeschichte beobachtet der Ich-Erzähler bei der Anreise zu einem wissenschaftlichen Kongress in Deutschland durch das Abteilfenster des Zuges eine seltsame Begegnung zwischen einem Pferd und einem Bussard: „Das Pferd trabte mit gesenktem Kopf weiter. Der Bussard klappte seinen Flügel ein und lief behutsam zwischen den Grasbüscheln hindurch. Aber immer war es eine Jagd, denn das Pferd blieb dicht hinter dem Bussard. Wieder ging das Pferd in Trab über, der Bussard spreizte einen Flügel und hastete ungeschickt weiter. War das Tier etwa verletzt? Aber weshalb lief das Pferd, wenn es den Bussard so gern einholen wollte, nicht schneller? Weshalb dieser zögernde Trab, die halbherzige Flucht?”
Ein emblematisches Naturbild am Beginn eines alten Liedes: Der niederländische Fachmann für Ratten trifft auf die Schweizer Expertin für Murmeltiere, Thema des Kongresses ist das „Balzverhalten”, aus dem Gegenstand wird eine verklemmt und beklommen ausgeübte Methode – : Kuss und Schluss. Aber dieses enttäuschend absehbare Resultat verzeiht der Leser angesichts der unprätentiösen Virtuosität, mit der Maarten 't Hart seine Erzähl-„Schritte” - zögernder Trab, halbherzige Flucht - an die Choreographie anlehnt, die das Verhalten der Tiere „gesteuert” hatte. Die Tiere werden nicht zu Sinnbildern verdinglicht, sondern sind eine Art Notenschlüssel für die sich anschließende menschliche Liebesunordnung.
Die Pfefferminzbonbon-Uhr
Vor zwei Jahren gab t-Hart in „Bach und ich” Einblicke in seine Musikbegeisterung. In diesem Erzählungsband gibt es einen Text, der für diese Obsession steht: „Concerto russe”. Er erzählt die Geschichte eines Überfalls. Ein sommerlicher Abendspaziergang, ein geöffnetes Fenster, ein duftender Ligusterbusch, und aus dem Fenster dringt die unbekannte Melodie. Maarten 't Hart beschreibt diese Musik-Attacke mit der gleichen „ethologischen” Aufmerksamkeit, die er dem Bussard und dem Pferd widmet: „Ich wollte weitergehen. Da intonierten geheimnisvolle Hörner eine erwartungsvolle Tonfolge in Sekundenschritten, die schmeichelnd von den Streichern übernommen wurde. Die Hörner riefen ein weiteres Mal, die Streicher folgten. Eine schüchterne Querflöte flehte um Unterstützung. Die kam von einer Solovioline, die über den zurückhaltenden, darunterliegenden Begleitfiguren schwebte. Dennoch spielte die Violine dieselben Intervalle. Als wollte sie sagen: Ich erhebe keine größeren Ansprüche als die Hörner. Es klang wie eine Entschuldigung, die graziös und anmutig und überaus bescheiden geäußert wurde. ”
Der Ich-Erzähler macht sich auf die Suche durch alle nur denkbaren Violinkonzerte, aber „jene kurze, langsame Passage” bleibt unerhört: unauffindbar. Schließlich fasst er sich ein Herz und wendet sich an den Bewohner des Hauses, aus dessen Fenster die Musik gedrungen war, – wiederum erzählt Maarten 't Hart die Geschichte einer kongenial komplizierten Annäherung, wieder mit einem etwas enttäuschenden Happy-end.
Keine der zwölf Geschichten indes erschöpft sich in der Demonstration einer Methode, jede hat ganz offensichtlich ihren Sitz im Leben des Autors. In der ersten Geschichte sieht sich der siebenjährige Junge jäh mit dem Tod eines Banknachbarn konfrontiert, aber die Anzahl der Pfefferminzbonbons, mit denen der die Länge der Predigt misst und übersteht, ist „wichtiger”. In der Geschichte von „Onkel Job” wird ein aufdringlicher (und hilfloser) Verwandter aus einer Trauergemeinschaft ausgesperrt, aber „haften” bleibt eine bizarre Kurve, die Onkel Job zu „kratzen” pflegt, bevor er sein Fahrrad abstellt. Oft sind bei t-Hart die markigen Zitate aus der Bibel oder aus den Psalmen stärker als die mehr oder weniger unerhörten Begebenheiten, um die es vordergründig zu gehen scheint.
HERMANN WALLMANN
MAARTEN T'HART: Das Pferd, das den Bussard jagte. Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2002. 320 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Maarten 't Harts
„Das Pferd, das den Bussard jagte”
Der 1944 geborene niederländische Schriftsteller Maarten 't Hart ist studierter Biologe, von 1970 bis 1987 war er Dozent für Ethologie. Eines seiner Spezialgebiete: das Verhalten von Ratten. Vor fast 25 Jahren hat ihn Werner Herzog eingestellt, der in Delft seinen „Nosferatu” drehte und dazu Tausende von Ratten (ver)brauchte. Über diese fragwürdige Instrumentalisierung seiner Disziplin hat 't Hart 1979 eine Reportage geschrieben, die 1984 auch in deutscher Übersetzung erschien. Wäre sie nicht in einem dieser tragisch unauffälligen Kleinverlage herausgekommen, hätte die hinreißende Tier-Mensch- Parabel schon damals ein breites Publikum auf diesen Autor neugierig gemacht.
Ein Gesamtwerk in nuce stellt jetzt der neue Prosaband dar, zwölf Erzählungen aus den Jahren 1974 bis 2001, die Maarten ' Hart selber zusammengestellt hat – eine Art episodischer Autobiographie. An ihrem Beginn ist der Ich-Erzähler ein siebenjähriger Junge, der sich in einem Gottesdienst mit gespannter Aufmerksamkeit langweilt, zuletzt ein älterer Mann, der sich mit Herzrhythmusproblemen herumschlägt und eins ums andere Mal mit dem Fahrrad bei Rot über die Ampel fährt. So bedauerlich es ist, daß Maarten 't Hart die Ratten-Erzählung weggelassen hat – nicht nur die Titelgeschichte beweist, dass für ihn die tierische Ethologie eine Fortsetzung der Anthropologie mit anderen Mitteln ist.
In der Titelgeschichte beobachtet der Ich-Erzähler bei der Anreise zu einem wissenschaftlichen Kongress in Deutschland durch das Abteilfenster des Zuges eine seltsame Begegnung zwischen einem Pferd und einem Bussard: „Das Pferd trabte mit gesenktem Kopf weiter. Der Bussard klappte seinen Flügel ein und lief behutsam zwischen den Grasbüscheln hindurch. Aber immer war es eine Jagd, denn das Pferd blieb dicht hinter dem Bussard. Wieder ging das Pferd in Trab über, der Bussard spreizte einen Flügel und hastete ungeschickt weiter. War das Tier etwa verletzt? Aber weshalb lief das Pferd, wenn es den Bussard so gern einholen wollte, nicht schneller? Weshalb dieser zögernde Trab, die halbherzige Flucht?”
Ein emblematisches Naturbild am Beginn eines alten Liedes: Der niederländische Fachmann für Ratten trifft auf die Schweizer Expertin für Murmeltiere, Thema des Kongresses ist das „Balzverhalten”, aus dem Gegenstand wird eine verklemmt und beklommen ausgeübte Methode – : Kuss und Schluss. Aber dieses enttäuschend absehbare Resultat verzeiht der Leser angesichts der unprätentiösen Virtuosität, mit der Maarten 't Hart seine Erzähl-„Schritte” - zögernder Trab, halbherzige Flucht - an die Choreographie anlehnt, die das Verhalten der Tiere „gesteuert” hatte. Die Tiere werden nicht zu Sinnbildern verdinglicht, sondern sind eine Art Notenschlüssel für die sich anschließende menschliche Liebesunordnung.
Die Pfefferminzbonbon-Uhr
Vor zwei Jahren gab t-Hart in „Bach und ich” Einblicke in seine Musikbegeisterung. In diesem Erzählungsband gibt es einen Text, der für diese Obsession steht: „Concerto russe”. Er erzählt die Geschichte eines Überfalls. Ein sommerlicher Abendspaziergang, ein geöffnetes Fenster, ein duftender Ligusterbusch, und aus dem Fenster dringt die unbekannte Melodie. Maarten 't Hart beschreibt diese Musik-Attacke mit der gleichen „ethologischen” Aufmerksamkeit, die er dem Bussard und dem Pferd widmet: „Ich wollte weitergehen. Da intonierten geheimnisvolle Hörner eine erwartungsvolle Tonfolge in Sekundenschritten, die schmeichelnd von den Streichern übernommen wurde. Die Hörner riefen ein weiteres Mal, die Streicher folgten. Eine schüchterne Querflöte flehte um Unterstützung. Die kam von einer Solovioline, die über den zurückhaltenden, darunterliegenden Begleitfiguren schwebte. Dennoch spielte die Violine dieselben Intervalle. Als wollte sie sagen: Ich erhebe keine größeren Ansprüche als die Hörner. Es klang wie eine Entschuldigung, die graziös und anmutig und überaus bescheiden geäußert wurde. ”
Der Ich-Erzähler macht sich auf die Suche durch alle nur denkbaren Violinkonzerte, aber „jene kurze, langsame Passage” bleibt unerhört: unauffindbar. Schließlich fasst er sich ein Herz und wendet sich an den Bewohner des Hauses, aus dessen Fenster die Musik gedrungen war, – wiederum erzählt Maarten 't Hart die Geschichte einer kongenial komplizierten Annäherung, wieder mit einem etwas enttäuschenden Happy-end.
Keine der zwölf Geschichten indes erschöpft sich in der Demonstration einer Methode, jede hat ganz offensichtlich ihren Sitz im Leben des Autors. In der ersten Geschichte sieht sich der siebenjährige Junge jäh mit dem Tod eines Banknachbarn konfrontiert, aber die Anzahl der Pfefferminzbonbons, mit denen der die Länge der Predigt misst und übersteht, ist „wichtiger”. In der Geschichte von „Onkel Job” wird ein aufdringlicher (und hilfloser) Verwandter aus einer Trauergemeinschaft ausgesperrt, aber „haften” bleibt eine bizarre Kurve, die Onkel Job zu „kratzen” pflegt, bevor er sein Fahrrad abstellt. Oft sind bei t-Hart die markigen Zitate aus der Bibel oder aus den Psalmen stärker als die mehr oder weniger unerhörten Begebenheiten, um die es vordergründig zu gehen scheint.
HERMANN WALLMANN
MAARTEN T'HART: Das Pferd, das den Bussard jagte. Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2002. 320 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2002Verhaltene Forschung
Eine Welt, deren Verriß uns gefällt: Erzählungen von Maarten t'Hart
Sein erstes Buch veröffentlichte der Niederländer Maarten t'Hart im Jahr 1971, danach in rascher Folge eine Menge weiterer Werke, Romane, Erzählungen, Essays. Im Nu eroberte er die Leser daheim, bald auch die in anderen Ländern, denn viele seiner Bücher wurden übersetzt, einige verfilmt. Die erste deutschsprachige Ausgabe, der Roman "Ein Schwarm Regenbrachvögel", erschien 1986, doch der wahre Knüller erreichte den deutschen Markt erst elf Jahre später, ein faszinierender Kriminalroman mit dem Titel "Das Wüten der ganzen Welt". Seine jüngste Veröffentlichung, betitelt "Das Pferd, das den Bussard jagte", hat der Autor eigens für deutsche Leser zusammengestellt; sie umfaßt zwölf Erzählungen aus seinem Gesamt-OEuvre.
Und damit zwölf Einblicke in seine Lebensgeschichte. Daß er in all seinen Büchern eigene Erfahrungen verwertete, hat Maarten t'Hart nie zu verbergen gesucht. Warum auch, Schriftsteller bedienen sich in der Regel aus persönlichem Vorrat; ihr Niveau, ihr dichterischer Rang hängen nicht zuletzt davon ab, wie sie ihr Persönliches zu vermitteln, ihr Intimes als Schlüssel zum Allgemeinen zu nutzen wissen. Und genau darin ist der niederländische Erzähler ein Meister.
Die ersten Geschichten der neuen Sammlung führen uns nach Maasluis nahe Rotterdam, wo t'Hart geboren wurde und aufwuchs, wo sein Vater als Totengräber für das schmale Familieneinkommen sorgte, Onkel und Tanten ihren Handwerkeleien oder Kleingeschäften nachgingen und alle, Verwandte wie Bekannte, sturköpfigen Erwerbssinn mit calvinistischen Tugendregeln zu vermählen suchten. Ihr Sohn, Bruder, Neffe porträtiert sie mit sozusagen liebevoller Unbarmherzigkeit. Er macht sich, den Reporter, nicht besser als sie, zeichnet sich als Fleisch von ihrem Fleisch, Geist von ihrem Geist. Er tut das mit dem Ernst des Kindes, das den Traditionen noch nichts Eigenes entgegensetzen kann. Dahinter jedoch schimmert in jeder Zeile das Lächeln des souveränen Erwachsenen, in den sich das Kind verwandeln wird - und zur Zeit der Niederschrift längst verwandelt hat. Das erlaubt uns, kopfschüttelnd zu schmunzeln und die krausen Familiengeschichten als gelungene Gesellschaftssatire zu genießen.
Danach folgen Notizen aus dem Leben des Mannes t'Hart. Die erste Information, die sie uns vermitteln, betrifft die erstaunliche Karriere des doch eigentlich nicht sehr chancenreichen Totengräbersohnes: Er studierte Biologie, wirkte als Dozent für Verhaltensforschung, arbeitet seit 1987 als freier Autor und als Kritiker; obendrein ist er ein sowohl empfangender wie ausübender Verehrer klassischer Musik. Der Erzähler t'Hart verwandelt all das in literarischen Stoff; und die Art, wie er diesen Stoff verwertet, trifft sich mit der satirischen Manier, in der er seine Kinderwelt abgehandelt hat.
Spätestens jetzt steht fest, daß Maarten t'Hart Ernstes grundsätzlich mit Heiterem mischt, auch und besonders, wenn es um ihn selber geht. So bezaubert er zum Beispiel mit der Karikatur eines Biologen, der sich ausgerechnet auf einem Kongreß über tierisches Balzverhalten in eine Kollegin vernarrt. Oder mit der Geschichte vom herzgeschädigten Schriftsteller, der gegen Klinikvorschriften und andere Zwänge revoltiert, indem er dauernd bei Rot über Kreuzungen radelt. Oder mit den Nöten eines Nagetierspezialisten, der im Rencontre mit einer fanatischen Rattenliebhaberin Angst vor dem eigenen Arbeitsmaterial bekommt.
Der Clou aller dieser Schnurren ist, daß sie scheinbar nichts Besonderes darbieten und doch ganz besonders sind. Vordergründig liefern sie platten Alltag, dazu noch aus nicht immer hervorragenden Milieus. In Wahrheit aber versorgen sie uns mit hochinteressanten Charakterstudien, die, zusammengenommen, ein Seelenbild der fehlbaren Menschheit ergeben. Wie nicht anders möglich, ist das Gesamtergebnis nicht durchweg erhebend. Dennoch läßt der Erzählungsband uns nicht trübselig zurück, weil sein Schöpfer alles andere als ein Menschenfeind ist. Er ist sein und unser aller Kritiker, das aber stets im Zeichen lächelnder Liebe.
SABINE BRANDT.
Maarten t'Hart: "Das Pferd, das den Bussard jagte". Erzählungen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich/Hamburg, 2002. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Welt, deren Verriß uns gefällt: Erzählungen von Maarten t'Hart
Sein erstes Buch veröffentlichte der Niederländer Maarten t'Hart im Jahr 1971, danach in rascher Folge eine Menge weiterer Werke, Romane, Erzählungen, Essays. Im Nu eroberte er die Leser daheim, bald auch die in anderen Ländern, denn viele seiner Bücher wurden übersetzt, einige verfilmt. Die erste deutschsprachige Ausgabe, der Roman "Ein Schwarm Regenbrachvögel", erschien 1986, doch der wahre Knüller erreichte den deutschen Markt erst elf Jahre später, ein faszinierender Kriminalroman mit dem Titel "Das Wüten der ganzen Welt". Seine jüngste Veröffentlichung, betitelt "Das Pferd, das den Bussard jagte", hat der Autor eigens für deutsche Leser zusammengestellt; sie umfaßt zwölf Erzählungen aus seinem Gesamt-OEuvre.
Und damit zwölf Einblicke in seine Lebensgeschichte. Daß er in all seinen Büchern eigene Erfahrungen verwertete, hat Maarten t'Hart nie zu verbergen gesucht. Warum auch, Schriftsteller bedienen sich in der Regel aus persönlichem Vorrat; ihr Niveau, ihr dichterischer Rang hängen nicht zuletzt davon ab, wie sie ihr Persönliches zu vermitteln, ihr Intimes als Schlüssel zum Allgemeinen zu nutzen wissen. Und genau darin ist der niederländische Erzähler ein Meister.
Die ersten Geschichten der neuen Sammlung führen uns nach Maasluis nahe Rotterdam, wo t'Hart geboren wurde und aufwuchs, wo sein Vater als Totengräber für das schmale Familieneinkommen sorgte, Onkel und Tanten ihren Handwerkeleien oder Kleingeschäften nachgingen und alle, Verwandte wie Bekannte, sturköpfigen Erwerbssinn mit calvinistischen Tugendregeln zu vermählen suchten. Ihr Sohn, Bruder, Neffe porträtiert sie mit sozusagen liebevoller Unbarmherzigkeit. Er macht sich, den Reporter, nicht besser als sie, zeichnet sich als Fleisch von ihrem Fleisch, Geist von ihrem Geist. Er tut das mit dem Ernst des Kindes, das den Traditionen noch nichts Eigenes entgegensetzen kann. Dahinter jedoch schimmert in jeder Zeile das Lächeln des souveränen Erwachsenen, in den sich das Kind verwandeln wird - und zur Zeit der Niederschrift längst verwandelt hat. Das erlaubt uns, kopfschüttelnd zu schmunzeln und die krausen Familiengeschichten als gelungene Gesellschaftssatire zu genießen.
Danach folgen Notizen aus dem Leben des Mannes t'Hart. Die erste Information, die sie uns vermitteln, betrifft die erstaunliche Karriere des doch eigentlich nicht sehr chancenreichen Totengräbersohnes: Er studierte Biologie, wirkte als Dozent für Verhaltensforschung, arbeitet seit 1987 als freier Autor und als Kritiker; obendrein ist er ein sowohl empfangender wie ausübender Verehrer klassischer Musik. Der Erzähler t'Hart verwandelt all das in literarischen Stoff; und die Art, wie er diesen Stoff verwertet, trifft sich mit der satirischen Manier, in der er seine Kinderwelt abgehandelt hat.
Spätestens jetzt steht fest, daß Maarten t'Hart Ernstes grundsätzlich mit Heiterem mischt, auch und besonders, wenn es um ihn selber geht. So bezaubert er zum Beispiel mit der Karikatur eines Biologen, der sich ausgerechnet auf einem Kongreß über tierisches Balzverhalten in eine Kollegin vernarrt. Oder mit der Geschichte vom herzgeschädigten Schriftsteller, der gegen Klinikvorschriften und andere Zwänge revoltiert, indem er dauernd bei Rot über Kreuzungen radelt. Oder mit den Nöten eines Nagetierspezialisten, der im Rencontre mit einer fanatischen Rattenliebhaberin Angst vor dem eigenen Arbeitsmaterial bekommt.
Der Clou aller dieser Schnurren ist, daß sie scheinbar nichts Besonderes darbieten und doch ganz besonders sind. Vordergründig liefern sie platten Alltag, dazu noch aus nicht immer hervorragenden Milieus. In Wahrheit aber versorgen sie uns mit hochinteressanten Charakterstudien, die, zusammengenommen, ein Seelenbild der fehlbaren Menschheit ergeben. Wie nicht anders möglich, ist das Gesamtergebnis nicht durchweg erhebend. Dennoch läßt der Erzählungsband uns nicht trübselig zurück, weil sein Schöpfer alles andere als ein Menschenfeind ist. Er ist sein und unser aller Kritiker, das aber stets im Zeichen lächelnder Liebe.
SABINE BRANDT.
Maarten t'Hart: "Das Pferd, das den Bussard jagte". Erzählungen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich/Hamburg, 2002. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Man kann sich nicht losreißen (...) einfach weil Maarten 't Hart ein hinreißender Erzähler ist.« Die Zeit