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Wien, die 'Stadt, in der die Juden glücklich waren', ist im galizischen Boryslaw noch lebendig. Der Ich-Erzähler, der Junge Wilek, hört die Großeltern Straußwalzer singen und von den alten Zeiten schwärmen. Plätzlich bricht der Krieg aus. Die Sowjets marschieren ein. Sie verstaatlichen die Ölfirmen und im Kindergarten werden Leningedichte gelernt. Als die Sowjets flüchten, sprengen sie das Elektrizitätswerk, um es nicht den Deutschen zu überlassen. Die Pogrome beginnen. Die Großmutter wird von einem Nachbarn verraten. Wilek flieht mit seinen Eltern von Versteck zu Versteck, überlebt unter…mehr

Produktbeschreibung
Wien, die 'Stadt, in der die Juden glücklich waren', ist im galizischen Boryslaw noch lebendig. Der Ich-Erzähler, der Junge Wilek, hört die Großeltern Straußwalzer singen und von den alten Zeiten schwärmen. Plätzlich bricht der Krieg aus. Die Sowjets marschieren ein. Sie verstaatlichen die Ölfirmen und im Kindergarten werden Leningedichte gelernt. Als die Sowjets flüchten, sprengen sie das Elektrizitätswerk, um es nicht den Deutschen zu überlassen. Die Pogrome beginnen. Die Großmutter wird von einem Nachbarn verraten. Wilek flieht mit seinen Eltern von Versteck zu Versteck, überlebt unter Betten, in Brunnen, auf Dachböden. Im Nachkriegspolen wird aus dem verfolgten Kind der privilegierte Stiefsohn eines kommunistischen Funktionärs. Die Mitschüler hänseln ihn, er rieche nach Gas. Wilek ist kalt, mißtrauisch, geht wieder in Deckung. Zu schnell kann Macht sich gegen ihn wenden. Kein sicherer Ort für seinesgleichen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Der müde Sohn
Wilhelm Dichters Lebensbericht / Von Christoph Bartmann

Wilhelm Dichters Roman "Das Pferd Gottes" entfaltet literarische Wirkung aus der spröden Distanz und Eindringlichkeit seiner Beobachtungen. Das heißt nicht, daß die Real-Topoi des Vernichtungskrieges in ihm nicht gegenwärtig wären. Anders als die meisten seiner deutschen Altersgenossen hat der 1935 im ukrainischen Boryslaw geborene Wilhelm Rabinowicz, der nach dem Krieg lieber Dichter heißen wollte, als Kind sehr wohl von Güterwaggons, Lagern und Waschräumen gehört. ",Die Juden kommen nur durch den Kamin heraus', sagten die Eisenbahner", erinnert sich Dichter mehr als fünfzig Jahre später.

"Das Pferd Gottes", mit dem der seit 1968 in den Vereinigten Staaten lebende und dort in der Computerbranche tätige Wilhelm Dichter vor zwei Jahren in Polen Aufsehen erregte, ist kein Dokument vom Überleben in den Lagern. Viel breiteren Raum nimmt die unmittelbare Nachkriegszeit ein: die Jahre 1945 bis 1947 und darin vor allem der Bericht von der Übersiedlung ukrainischer "Repatrianten" ins westwärts verschobene Polen. Unter ihnen ist der zehnjährige Wilek mit seiner Mutter. Bald wird sie Michal kennenlernen, Wileks neuen Stiefvater, dessen Karriere in Partei und Erdölindustrie der Familie ein bequemes Auskommen sichert.

Dichter gelingt es, die Sphäre der kindlichen Beobachtung und jene der Erinnerung des Erwachsenen, somit die Erzählebenen des Erlebens und des Wissens zum Vorteil des Ganzen zu verschränken. Mit einer gewissen Nonchalance läßt er Zeitgeschichte, Familiengeschichte und Traumsequenzen in den kindlichen Horizont einfließen. Dichter verzichtet auf lineare Handlungsführung und setzt statt dessen knappe Situations-Einheiten zueinander in Beziehung. Seine Darstellung beschleunigt die große Geschichte manchmal wie im Zeitraffer, läßt aber die innere Geschichte der kindlichen Wahrnehmung oft beinahe stillstehen. So rast in dem Anfangskapitel "Vor allem" die Lebensgeschichte der Großeltern und Eltern, über der zunächst ein Abglanz habsburgischer Untertanenherrlichkeit liegt, auf die bevorstehende Katastrophe zu; und so schweift der Blick des Kindes besorgt und melancholisch über das bürgerliche Inventar, bevor es den Besatzern ausgehändigt wird.

Nur ein einziges kurzes Kapitel, "Unter dem Bett in Boryslaw", beschäftigt sich mit dem unwahrscheinlichen Überleben des kleinen Wilek, dem der Tod im Gas als die wahrscheinlichere Zukunft deutlich vor Augen steht. "Unter dem Bett", "In der Bodenkammer", "Auf dem Dachboden" und schließlich "Im Brunnen" sind die vier zunehmend riskanten Etappen des Verstecks überschrieben. Der Großvater verteilt für den Ernstfall eine tödliche Dosis Morphium an jeden Angehörigen. Wileks Vater geht unterdessen an Tuberkulose zugrunde; sein Husten gefährdet die Sicherheit der Familie. "Über unser Leben", konstatiert das Kind, "entschied Vaters Krankheit". Der Vater wird das Kriegsende nicht erleben und der Sohn das Schuldgefühl nicht loswerden, daß er ihn nicht retten konnte.

Das Kind, in das Dichter sich versetzt, hat einen scharfen, illusionslosen Blick auf seine Umgebung. "Ich beneidete jene, die vor dem Krieg gestorben waren", läßt er seinen Ich-Erzähler sagen, und man glaubt es ihm. Mit kalter Präzision registriert das Kind die Gefahren, die von anderen Kindern ausgehen. "Am meisten Angst hatte ich vor Kindern", heißt es einmal. "Ich war überzeugt, daß sie mich auf der Straße sofort erkennen und an die Deutschen verraten würden. Erwachsene konnten Mitleid zeigen, aber nicht Kinder."

Nach dem Krieg ist das Kind nur um eine Sorge ärmer, denn zwar "gab es keine Deutschen mehr, doch die Kinder waren geblieben". Ein andermal heißt es: "Ich hörte Kinderstimmen und zog mich in die Tiefe der Küche zurück." Das Kind, mit dessen Stimme Dichter spricht, hat Angst. Nicht weil es ängstlich wäre, sondern aus Lebenserfahrung. In der Schule hängt nach dem Krieg über den Spuren des Kreuzes ein Stalinbild. "Nicht einmal nach dem Krieg war die Kindheit sicher. Jeder konnte mich schlagen", vermerkt das Kind und faßt den Beschluß, Ingenieur zu werden: "Bildung ist Reichtum."

Man hat selten ein so facettenreiches, wenn auch düsteres Bild der polnischen Nachkriegsjahre erhalten wie aus diesem Buch. Wenig ähnelt der westdeutschen "Stunde Null". Kein Aufbruch, vielmehr scheint die polnische Gesellschaft schon im Augenblick der Befreiung aufs Neue im Tiefschlaf erstarrt. Die Partei hat das Heft fest in der Hand, der Judenhaß ist noch weit verbreitet, in der Schule wird willkürlich relegiert, doch im Windschatten der Obrigkeit scheint immerhin ein biederer Wohlstand gestattet. Wileks Stiefvater, der Erdölingenieur mit undurchsichtigen Geschäftskontakten, macht ihn möglich. Wilek ist nun der "Sohn eines Ölbarons". Sein Vater ist ein fast sympathischer Verfechter der sozialistischen Utopie.

Mit Michael fährt Wilek nach Schlesien, um Raffinerien für synthetisches Benzin zu revindizieren. Im Auto doziert der Stiefvater, daß die Geschichte noch einmal beginne: "Ein neues Konzept. Das Ende sozialer Ungerechtigkeit. Einstweilen ist noch nichts zu sehen . . . Doch es kommen Veränderungen. Technische Hochschulen und Universitäten für alle. Häuser für die Arbeiter." Der Stiefsohn, so scheint es, ist müder als der Vater; er hat mehr hinter sich. Vom Heranbrechen eines neuen Zeitalters läßt sich Wilek schwer überzeugen. Viel öfter kommt ihm in den Sinn, er sei schon mehrmals gestorben und werde erst später endgültig sterben. Ein Jahr zieht er sich mit Dickens "David Copperfield" zurück, "um zu begreifen, warum wir gerettet wurden". Der Stiefvater tauft Wilek "Philosoph" und "Traumtänzer", denn "er weiß nicht, ob er lebt". Manchmal nennt er ihn auch "Pferd Gottes", "dreifingriges Faultier" oder "Prophet".

Der Prophet verbindet seine Absenzen mit verschärfter Geistesgegenwart. Frühes Leid hat ihm eine frühreife Skepsis und Klarsicht eingetragen und eine durch nichts rückgängig zu machende Bekanntschaft mit dem Tod: "Zum erstenmal war er in der Gondel unter dem Zeppelin auf den glatten und kühlen Seiten des deutschen Lexikons aufgetaucht. Zur Russenzeit hatte er im Polizeigebäude auf der anderen Seite der Panska gewohnt. Mit den Deutschen war er auf unseren Hof gekommen." Den Tod hat auch der Sozialismus nicht aus der Welt geschafft.

Wilhelm Dichter: "Das Pferd Gottes". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Martin Pollack. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1998. 314 S., geb., 38,- DM.

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