Alles beginnt in einer kleinen Wohnung mit Schaukelstuhl in einem russischen Kurort bei Kasan, in dem einst Stalin seine Sommer verbrachte. Hierhin kehrt Walja nach dem Tod ihrer Großmutter Nina zurück. Walja begibt sich auf Spurensuche, versucht zu verstehen, wo sie selbst herkommt. Sie erinnert sich an die Frauen, mit denen sie aufwuchs, grundverschieden, aber einig in ihrer Abscheu gegen jede Abhängigkeit: Da ist die Urgroßmutter Tanja, die Walja als Kind in einer gefährlichen Nacht-und-Nebel-Aktion taufen ließ. Und natürlich Nina mit dem zielstrebigen Gang und dem koketten Kirschmund, die notorisch log und alle um sie herum einen Kopf kleiner werden ließ. Doch sie hatte auch ganz andere Seiten. Und erst viel später erfährt Walja von Ninas hartem Schicksal, von dem sie nie sprach ... Walja, die zwischen den Welten lebt, zwischen einem norddeutschen Dorf an der B77 und der Wohnung ihrer Kindheit in Kasan, erkennt immer mehr, wie tief sie diese Leben geprägt haben.
Valery Tscheplanowa ist eine starke neue Stimme. In ihrem autobiographisch inspirierten Roman findet sie ihre ganz eigene leuchtende, bildstarke Erzählweise, intensive Momentaufnahmen fügen sich zu einer großen Geschichte über vier starke Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Valery Tscheplanowa ist eine starke neue Stimme. In ihrem autobiographisch inspirierten Roman findet sie ihre ganz eigene leuchtende, bildstarke Erzählweise, intensive Momentaufnahmen fügen sich zu einer großen Geschichte über vier starke Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts.
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Für Migrationsvoyeurismus ist sie nicht die Richtige
Woher Selbständigkeit nehmen, wenn man Gehorsam gelernt hat?
Die Schauspielerin
Valery Tscheplanowa legt ein beachtliches Romandebüt vor.
Wenn irgendwo ein Pferd in den Brunnen fällt, bricht irgendwo anders ein neuer Tag an. Dann geht in weiter Ferne die Sonne auf. Beginnt eine nächste Geschichte. Oder wird eine alte Erinnerung wach. Die Szene, der dieser Debütroman seinen Titel verdankt, ist so eindrücklich wie fundamental: In einem alten, stillgelegten Brunnen auf einem Hügel hinter dem sowjetischen Dorf liegt auf dem Grund, verborgen von modrigen Brettern, ein totes Pferd. Angeblich. So erzählt man sich und glaubt es fest. Auch eine junge Frau tut das, Tausende Kilometer von dem Dorf ihrer Großmutter entfernt, in einer Berliner Küche, vor ihr ein Topf mit Grießbrei, in ihr die Erinnerungswehen einer vergangenen Zeit. "Ein Lebewesen, das stark ist und dann zerbrechlich in einem Brunnen liegt, dieses Bild ließ mich nicht los." Das schreibt Valery Tscheplanowa, eine der anziehendsten Theaterschauspielerinnen der Gegenwart. Eine sinneskluge Darstellerin, deren Spiel auf geheimnisvolle Weise unbeeinflusst wirkt von den Abläufen und Forderungen unserer Zeit. Gerade hat man sie noch bei den Salzburger Festspielen gesehen, als wortgenauen "Nathan" in einer Inszenierung von Ulrich Rasche (F.A.Z. vom 31. Juli). Gerade hat man noch mit ihrer Ankündigung gehadert, sich in Zukunft vornehmlich Film und Fernsehen zuzuwenden. Da kommt dieses Buch.
Es erzählt keine zusammenhängende Geschichte und liest sich doch als in einem Stück komponiert. Das Wichtigste in diesem Roman ist die Zeit. Um ihr auf den Zahn zu fühlen, ist er geschrieben. All die berührenden Bilder und behutsamen Worte, mit dem der Text aufwartet, dienen dem einen Ziel: etwas kenntlich zu machen von dem, was sonst unbeobachtet vor sich hin läuft - der Sand in der Uhr, die sich gleich wieder wendet, um ein nächstes Leben zum Verschwinden zu bringen. Dagegen schreibt Tscheplanowa an. Sie hat die Geschichten von vier Frauen in der sowjetischen Provinz miteinander verwoben. Schauplatz ist ein Kurort bei Kasan, in dem schon Stalin Urlaub machte. In ihn kehrt die Protagonistin Walja zurück, um etwas von ihren Prägungen zu verstehen. Ihrem Blick auf die Welt. Woher kommt ihr Gefühl, "niemanden zu brauchen"? Was ist mit dem Holzhaus, in dem die Alte wohnt? Dem bestickten Kissenbezug? Der Stelle, wo der mit Haut umwachsene Knochen auf die Prothese trifft? Lauter Erinnerungssplitter, die zusammengesetzt werden wollen.
Tscheplanowa geht vorsichtig mit den biographischen Zeichen jener vier Frauen um, deren präzise Beziehung zu ihr sie offenlässt. Sie stellt ihr Verschwinden nicht aus, sondern bemüht sich behutsam, ihren verblassten Physiognomien durch poetische Anekdoten aufs Neue Konturen zu verleihen. Mit der Genauigkeit ihrer Beschreibung verleiht sie ihren Leben Würde und Anziehung. Immer wieder ist ihre Achtung vor der Duldsamkeit und Disziplin der Frauen spürbar. Ihre Bewunderung für ihr Durchhaltevermögen in schlechten Zeiten bei zehrender Arbeit. Etwa, wenn sie, die oft Geschminkte und Verkleidete, die Fingernägel einer alten Bäuerin beschreibt: "Die immer noch festen Nägel waren nie zum Lackieren gedacht. Sie haben gepult und durchtrennt, gekratzt und umgegraben."
Unaufdringlich schieben sich Daten der sozialistischen Verfallsgeschichte zwischen die kurzen Erzählabschnitte. Wie 1991 Gorbatschow abgesetzt wurde, wie die Menschen in langen Schlangen für Eier anstanden, wie ein Mann in seiner Siebzig-Quadratmeter-Wohnung trotzig von einer Welt ohne Unterschiede weiterträumt. Vereinzelt bricht sich Bitterkeit Bahn, Verzweiflung über einen Weltgeist, der die Anschauungen einfach so auswechselte, ohne auf die betrogenen Seelen seiner Gläubigen Rücksicht zu nehmen: "Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?" Das ist für Tscheplanowa keine rhetorische Frage.
Und doch hält die Autorin das Politische auf Distanz, bleibt es im Ungefähren wie hinter einem Gazevorhang. Wichtiger sind ihr die Menschen und ihre Höfe, das, was bestehen bleibt und die Zeitenwenden überdauert: "Es hat sich im Hof nichts getan, während der Sozialismus vorbeizog und ein Kapitalismus für die oberen Zehntausend kam, und trotzdem bleiben die Stufen dieselben.. Ein starkes Vertrauen auf die Präsenz des Wunderbaren durchzieht Tscheplanowas Text. Zum Ausdruck kommt es nicht nur durch die abenteuerliche Reisebeschreibung einer Marien-Ikone, sondern etwa auch in der berührend dichten Beschreibung eines Sterbemoments. Nicht Trauer über den Tod, sondern Staunen über das auslaufende Leben kennzeichnet den Gestus des Schreibens in dieser Passage. Wie überhaupt stolze Erinnerung statt niedergedrückte Sentimentalität dieses besondere Buch bestimmt. Damit hebt es sich deutlich aus der inzwischen fast unüberschaubaren Menge an autobiographisch gefärbten Schauspielerbüchern hervor. Es geht Tscheplanowa nicht darum, ihr eigenes Leben zu erzählen. Gar vor einem deutschen Publikum Zeugnis abzulegen über ihre Herkunft und Heimat. Für Migrations-Voyeurismus ist sie nicht die Richtige. Sie braucht keine kritische Gegenüberstellung zweier Welten, um deutlich zu machen, dass sie sich eine Eigenheit bewahrt hat. Eine Kraft, die von weit her kommt und in ihr weiterlebt. Auf der Bühne, beim Rollenspiel, aber eben überraschenderweise auch in ihrem Schreiben. Nicht selten verwendet Tscheplanowa in ihrem Text die verführerisch romantische Formel des "als ob" - und drückt damit unauffällig ihre Sehnsucht nach einer anderen Zeit und Gefühlswelt aus.
Der Zufall und das zu frühe Ende - darum geht es diesem Buch neben seinen erzählerischen Absichten auch. Ein Kapitel unter der Überschrift "Die Papierheiligen" beginnt mit der Frage, wer der letzte Mensch sein wird, den wir vor unserem Tod sehen. Einer, den man sein Leben lang gekannt hat? Oder einer, der gerade zum ersten Mal ins Zimmer tritt? Es sind diese stillen, unaufdringlichen Grundszenarien menschlichen Fühlens, die "Das Pferd im Brunnen" zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis machen.
In der Schauspielerin Valery Tscheplanowa offenbart sich eine auf ihre Einfühlung stolze Erzählerin. Eine, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Zeit "aus den Schubladen" zu befreien, in die sie gezwängt wurde, und von jenem Gefühl zu berichten, wenn "die Tage plötzlich andere Tage geworden sind". Das Vanitas-Motiv tritt hier nicht als bittere Klage auf, sondern als erstaunliche Tatsache. Ein lastloses Wundern durchzieht diesen Roman. Ein Wundern darüber, dass man nicht mehr Zeit miteinander gehabt hat. Nicht ein wenig mehr Zeit. SIMON STRAUSS
Valery Tscheplanowa: "Das Pferd im Brunnen". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Woher Selbständigkeit nehmen, wenn man Gehorsam gelernt hat?
Die Schauspielerin
Valery Tscheplanowa legt ein beachtliches Romandebüt vor.
Wenn irgendwo ein Pferd in den Brunnen fällt, bricht irgendwo anders ein neuer Tag an. Dann geht in weiter Ferne die Sonne auf. Beginnt eine nächste Geschichte. Oder wird eine alte Erinnerung wach. Die Szene, der dieser Debütroman seinen Titel verdankt, ist so eindrücklich wie fundamental: In einem alten, stillgelegten Brunnen auf einem Hügel hinter dem sowjetischen Dorf liegt auf dem Grund, verborgen von modrigen Brettern, ein totes Pferd. Angeblich. So erzählt man sich und glaubt es fest. Auch eine junge Frau tut das, Tausende Kilometer von dem Dorf ihrer Großmutter entfernt, in einer Berliner Küche, vor ihr ein Topf mit Grießbrei, in ihr die Erinnerungswehen einer vergangenen Zeit. "Ein Lebewesen, das stark ist und dann zerbrechlich in einem Brunnen liegt, dieses Bild ließ mich nicht los." Das schreibt Valery Tscheplanowa, eine der anziehendsten Theaterschauspielerinnen der Gegenwart. Eine sinneskluge Darstellerin, deren Spiel auf geheimnisvolle Weise unbeeinflusst wirkt von den Abläufen und Forderungen unserer Zeit. Gerade hat man sie noch bei den Salzburger Festspielen gesehen, als wortgenauen "Nathan" in einer Inszenierung von Ulrich Rasche (F.A.Z. vom 31. Juli). Gerade hat man noch mit ihrer Ankündigung gehadert, sich in Zukunft vornehmlich Film und Fernsehen zuzuwenden. Da kommt dieses Buch.
Es erzählt keine zusammenhängende Geschichte und liest sich doch als in einem Stück komponiert. Das Wichtigste in diesem Roman ist die Zeit. Um ihr auf den Zahn zu fühlen, ist er geschrieben. All die berührenden Bilder und behutsamen Worte, mit dem der Text aufwartet, dienen dem einen Ziel: etwas kenntlich zu machen von dem, was sonst unbeobachtet vor sich hin läuft - der Sand in der Uhr, die sich gleich wieder wendet, um ein nächstes Leben zum Verschwinden zu bringen. Dagegen schreibt Tscheplanowa an. Sie hat die Geschichten von vier Frauen in der sowjetischen Provinz miteinander verwoben. Schauplatz ist ein Kurort bei Kasan, in dem schon Stalin Urlaub machte. In ihn kehrt die Protagonistin Walja zurück, um etwas von ihren Prägungen zu verstehen. Ihrem Blick auf die Welt. Woher kommt ihr Gefühl, "niemanden zu brauchen"? Was ist mit dem Holzhaus, in dem die Alte wohnt? Dem bestickten Kissenbezug? Der Stelle, wo der mit Haut umwachsene Knochen auf die Prothese trifft? Lauter Erinnerungssplitter, die zusammengesetzt werden wollen.
Tscheplanowa geht vorsichtig mit den biographischen Zeichen jener vier Frauen um, deren präzise Beziehung zu ihr sie offenlässt. Sie stellt ihr Verschwinden nicht aus, sondern bemüht sich behutsam, ihren verblassten Physiognomien durch poetische Anekdoten aufs Neue Konturen zu verleihen. Mit der Genauigkeit ihrer Beschreibung verleiht sie ihren Leben Würde und Anziehung. Immer wieder ist ihre Achtung vor der Duldsamkeit und Disziplin der Frauen spürbar. Ihre Bewunderung für ihr Durchhaltevermögen in schlechten Zeiten bei zehrender Arbeit. Etwa, wenn sie, die oft Geschminkte und Verkleidete, die Fingernägel einer alten Bäuerin beschreibt: "Die immer noch festen Nägel waren nie zum Lackieren gedacht. Sie haben gepult und durchtrennt, gekratzt und umgegraben."
Unaufdringlich schieben sich Daten der sozialistischen Verfallsgeschichte zwischen die kurzen Erzählabschnitte. Wie 1991 Gorbatschow abgesetzt wurde, wie die Menschen in langen Schlangen für Eier anstanden, wie ein Mann in seiner Siebzig-Quadratmeter-Wohnung trotzig von einer Welt ohne Unterschiede weiterträumt. Vereinzelt bricht sich Bitterkeit Bahn, Verzweiflung über einen Weltgeist, der die Anschauungen einfach so auswechselte, ohne auf die betrogenen Seelen seiner Gläubigen Rücksicht zu nehmen: "Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?" Das ist für Tscheplanowa keine rhetorische Frage.
Und doch hält die Autorin das Politische auf Distanz, bleibt es im Ungefähren wie hinter einem Gazevorhang. Wichtiger sind ihr die Menschen und ihre Höfe, das, was bestehen bleibt und die Zeitenwenden überdauert: "Es hat sich im Hof nichts getan, während der Sozialismus vorbeizog und ein Kapitalismus für die oberen Zehntausend kam, und trotzdem bleiben die Stufen dieselben.. Ein starkes Vertrauen auf die Präsenz des Wunderbaren durchzieht Tscheplanowas Text. Zum Ausdruck kommt es nicht nur durch die abenteuerliche Reisebeschreibung einer Marien-Ikone, sondern etwa auch in der berührend dichten Beschreibung eines Sterbemoments. Nicht Trauer über den Tod, sondern Staunen über das auslaufende Leben kennzeichnet den Gestus des Schreibens in dieser Passage. Wie überhaupt stolze Erinnerung statt niedergedrückte Sentimentalität dieses besondere Buch bestimmt. Damit hebt es sich deutlich aus der inzwischen fast unüberschaubaren Menge an autobiographisch gefärbten Schauspielerbüchern hervor. Es geht Tscheplanowa nicht darum, ihr eigenes Leben zu erzählen. Gar vor einem deutschen Publikum Zeugnis abzulegen über ihre Herkunft und Heimat. Für Migrations-Voyeurismus ist sie nicht die Richtige. Sie braucht keine kritische Gegenüberstellung zweier Welten, um deutlich zu machen, dass sie sich eine Eigenheit bewahrt hat. Eine Kraft, die von weit her kommt und in ihr weiterlebt. Auf der Bühne, beim Rollenspiel, aber eben überraschenderweise auch in ihrem Schreiben. Nicht selten verwendet Tscheplanowa in ihrem Text die verführerisch romantische Formel des "als ob" - und drückt damit unauffällig ihre Sehnsucht nach einer anderen Zeit und Gefühlswelt aus.
Der Zufall und das zu frühe Ende - darum geht es diesem Buch neben seinen erzählerischen Absichten auch. Ein Kapitel unter der Überschrift "Die Papierheiligen" beginnt mit der Frage, wer der letzte Mensch sein wird, den wir vor unserem Tod sehen. Einer, den man sein Leben lang gekannt hat? Oder einer, der gerade zum ersten Mal ins Zimmer tritt? Es sind diese stillen, unaufdringlichen Grundszenarien menschlichen Fühlens, die "Das Pferd im Brunnen" zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis machen.
In der Schauspielerin Valery Tscheplanowa offenbart sich eine auf ihre Einfühlung stolze Erzählerin. Eine, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Zeit "aus den Schubladen" zu befreien, in die sie gezwängt wurde, und von jenem Gefühl zu berichten, wenn "die Tage plötzlich andere Tage geworden sind". Das Vanitas-Motiv tritt hier nicht als bittere Klage auf, sondern als erstaunliche Tatsache. Ein lastloses Wundern durchzieht diesen Roman. Ein Wundern darüber, dass man nicht mehr Zeit miteinander gehabt hat. Nicht ein wenig mehr Zeit. SIMON STRAUSS
Valery Tscheplanowa: "Das Pferd im Brunnen". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Ein "Glanzstück" nennt Rezensentin Undine Fuchs Valery Tscheplanowas Generationenroman, indem die in Russland geborene Autorin von "den Schwächen der Frauen" einer Familie erzählt, "ohne sie zu verraten". Glanzvoll daran ist vieles, lesen wir, zum Beispiel die Form, die Tscheplanowa für ihre Erzählung gewählt hat: Sie erinnert an ein Mosaik - das aus Fragmenten zusammengesetzte, komplexe Bild einer Familie, in dem die Brüche für die vielen Konflikte, die Enttäuschungen, Verletzungen, und all die Auf-, An- und Umbrüche in den Lebensläufen der Frauen stehen können. Diese Umbrüche sind nicht selten bedingt durch politische und gesellschaftliche Umbrüche in ihrer Heimat Russland, lesen wir. Auf diese Weise verwebt Tscheplanowa elegant die individuellen Schicksale mit der Geschichte des Landes. Brillant ist aber auch die Sprache dieser Autorin: direkt, hart, klarsichtig, und zugleich doch voller Sanftmut, Empathie und voller Taktgefühl - im zweifachen Wortsinn, so die hingerissene Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2023Für Migrationsvoyeurismus ist sie nicht die Richtige
Woher Selbständigkeit nehmen, wenn man Gehorsam gelernt hat?
Die Schauspielerin
Valery Tscheplanowa legt ein beachtliches Romandebüt vor.
Wenn irgendwo ein Pferd in den Brunnen fällt, bricht irgendwo anders ein neuer Tag an. Dann geht in weiter Ferne die Sonne auf. Beginnt eine nächste Geschichte. Oder wird eine alte Erinnerung wach. Die Szene, der dieser Debütroman seinen Titel verdankt, ist so eindrücklich wie fundamental: In einem alten, stillgelegten Brunnen auf einem Hügel hinter dem sowjetischen Dorf liegt auf dem Grund, verborgen von modrigen Brettern, ein totes Pferd. Angeblich. So erzählt man sich und glaubt es fest. Auch eine junge Frau tut das, Tausende Kilometer von dem Dorf ihrer Großmutter entfernt, in einer Berliner Küche, vor ihr ein Topf mit Grießbrei, in ihr die Erinnerungswehen einer vergangenen Zeit. "Ein Lebewesen, das stark ist und dann zerbrechlich in einem Brunnen liegt, dieses Bild ließ mich nicht los." Das schreibt Valery Tscheplanowa, eine der anziehendsten Theaterschauspielerinnen der Gegenwart. Eine sinneskluge Darstellerin, deren Spiel auf geheimnisvolle Weise unbeeinflusst wirkt von den Abläufen und Forderungen unserer Zeit. Gerade hat man sie noch bei den Salzburger Festspielen gesehen, als wortgenauen "Nathan" in einer Inszenierung von Ulrich Rasche (F.A.Z. vom 31. Juli). Gerade hat man noch mit ihrer Ankündigung gehadert, sich in Zukunft vornehmlich Film und Fernsehen zuzuwenden. Da kommt dieses Buch.
Es erzählt keine zusammenhängende Geschichte und liest sich doch als in einem Stück komponiert. Das Wichtigste in diesem Roman ist die Zeit. Um ihr auf den Zahn zu fühlen, ist er geschrieben. All die berührenden Bilder und behutsamen Worte, mit dem der Text aufwartet, dienen dem einen Ziel: etwas kenntlich zu machen von dem, was sonst unbeobachtet vor sich hin läuft - der Sand in der Uhr, die sich gleich wieder wendet, um ein nächstes Leben zum Verschwinden zu bringen. Dagegen schreibt Tscheplanowa an. Sie hat die Geschichten von vier Frauen in der sowjetischen Provinz miteinander verwoben. Schauplatz ist ein Kurort bei Kasan, in dem schon Stalin Urlaub machte. In ihn kehrt die Protagonistin Walja zurück, um etwas von ihren Prägungen zu verstehen. Ihrem Blick auf die Welt. Woher kommt ihr Gefühl, "niemanden zu brauchen"? Was ist mit dem Holzhaus, in dem die Alte wohnt? Dem bestickten Kissenbezug? Der Stelle, wo der mit Haut umwachsene Knochen auf die Prothese trifft? Lauter Erinnerungssplitter, die zusammengesetzt werden wollen.
Tscheplanowa geht vorsichtig mit den biographischen Zeichen jener vier Frauen um, deren präzise Beziehung zu ihr sie offenlässt. Sie stellt ihr Verschwinden nicht aus, sondern bemüht sich behutsam, ihren verblassten Physiognomien durch poetische Anekdoten aufs Neue Konturen zu verleihen. Mit der Genauigkeit ihrer Beschreibung verleiht sie ihren Leben Würde und Anziehung. Immer wieder ist ihre Achtung vor der Duldsamkeit und Disziplin der Frauen spürbar. Ihre Bewunderung für ihr Durchhaltevermögen in schlechten Zeiten bei zehrender Arbeit. Etwa, wenn sie, die oft Geschminkte und Verkleidete, die Fingernägel einer alten Bäuerin beschreibt: "Die immer noch festen Nägel waren nie zum Lackieren gedacht. Sie haben gepult und durchtrennt, gekratzt und umgegraben."
Unaufdringlich schieben sich Daten der sozialistischen Verfallsgeschichte zwischen die kurzen Erzählabschnitte. Wie 1991 Gorbatschow abgesetzt wurde, wie die Menschen in langen Schlangen für Eier anstanden, wie ein Mann in seiner Siebzig-Quadratmeter-Wohnung trotzig von einer Welt ohne Unterschiede weiterträumt. Vereinzelt bricht sich Bitterkeit Bahn, Verzweiflung über einen Weltgeist, der die Anschauungen einfach so auswechselte, ohne auf die betrogenen Seelen seiner Gläubigen Rücksicht zu nehmen: "Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?" Das ist für Tscheplanowa keine rhetorische Frage.
Und doch hält die Autorin das Politische auf Distanz, bleibt es im Ungefähren wie hinter einem Gazevorhang. Wichtiger sind ihr die Menschen und ihre Höfe, das, was bestehen bleibt und die Zeitenwenden überdauert: "Es hat sich im Hof nichts getan, während der Sozialismus vorbeizog und ein Kapitalismus für die oberen Zehntausend kam, und trotzdem bleiben die Stufen dieselben.. Ein starkes Vertrauen auf die Präsenz des Wunderbaren durchzieht Tscheplanowas Text. Zum Ausdruck kommt es nicht nur durch die abenteuerliche Reisebeschreibung einer Marien-Ikone, sondern etwa auch in der berührend dichten Beschreibung eines Sterbemoments. Nicht Trauer über den Tod, sondern Staunen über das auslaufende Leben kennzeichnet den Gestus des Schreibens in dieser Passage. Wie überhaupt stolze Erinnerung statt niedergedrückte Sentimentalität dieses besondere Buch bestimmt. Damit hebt es sich deutlich aus der inzwischen fast unüberschaubaren Menge an autobiographisch gefärbten Schauspielerbüchern hervor. Es geht Tscheplanowa nicht darum, ihr eigenes Leben zu erzählen. Gar vor einem deutschen Publikum Zeugnis abzulegen über ihre Herkunft und Heimat. Für Migrations-Voyeurismus ist sie nicht die Richtige. Sie braucht keine kritische Gegenüberstellung zweier Welten, um deutlich zu machen, dass sie sich eine Eigenheit bewahrt hat. Eine Kraft, die von weit her kommt und in ihr weiterlebt. Auf der Bühne, beim Rollenspiel, aber eben überraschenderweise auch in ihrem Schreiben. Nicht selten verwendet Tscheplanowa in ihrem Text die verführerisch romantische Formel des "als ob" - und drückt damit unauffällig ihre Sehnsucht nach einer anderen Zeit und Gefühlswelt aus.
Der Zufall und das zu frühe Ende - darum geht es diesem Buch neben seinen erzählerischen Absichten auch. Ein Kapitel unter der Überschrift "Die Papierheiligen" beginnt mit der Frage, wer der letzte Mensch sein wird, den wir vor unserem Tod sehen. Einer, den man sein Leben lang gekannt hat? Oder einer, der gerade zum ersten Mal ins Zimmer tritt? Es sind diese stillen, unaufdringlichen Grundszenarien menschlichen Fühlens, die "Das Pferd im Brunnen" zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis machen.
In der Schauspielerin Valery Tscheplanowa offenbart sich eine auf ihre Einfühlung stolze Erzählerin. Eine, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Zeit "aus den Schubladen" zu befreien, in die sie gezwängt wurde, und von jenem Gefühl zu berichten, wenn "die Tage plötzlich andere Tage geworden sind". Das Vanitas-Motiv tritt hier nicht als bittere Klage auf, sondern als erstaunliche Tatsache. Ein lastloses Wundern durchzieht diesen Roman. Ein Wundern darüber, dass man nicht mehr Zeit miteinander gehabt hat. Nicht ein wenig mehr Zeit. SIMON STRAUSS
Valery Tscheplanowa: "Das Pferd im Brunnen". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Woher Selbständigkeit nehmen, wenn man Gehorsam gelernt hat?
Die Schauspielerin
Valery Tscheplanowa legt ein beachtliches Romandebüt vor.
Wenn irgendwo ein Pferd in den Brunnen fällt, bricht irgendwo anders ein neuer Tag an. Dann geht in weiter Ferne die Sonne auf. Beginnt eine nächste Geschichte. Oder wird eine alte Erinnerung wach. Die Szene, der dieser Debütroman seinen Titel verdankt, ist so eindrücklich wie fundamental: In einem alten, stillgelegten Brunnen auf einem Hügel hinter dem sowjetischen Dorf liegt auf dem Grund, verborgen von modrigen Brettern, ein totes Pferd. Angeblich. So erzählt man sich und glaubt es fest. Auch eine junge Frau tut das, Tausende Kilometer von dem Dorf ihrer Großmutter entfernt, in einer Berliner Küche, vor ihr ein Topf mit Grießbrei, in ihr die Erinnerungswehen einer vergangenen Zeit. "Ein Lebewesen, das stark ist und dann zerbrechlich in einem Brunnen liegt, dieses Bild ließ mich nicht los." Das schreibt Valery Tscheplanowa, eine der anziehendsten Theaterschauspielerinnen der Gegenwart. Eine sinneskluge Darstellerin, deren Spiel auf geheimnisvolle Weise unbeeinflusst wirkt von den Abläufen und Forderungen unserer Zeit. Gerade hat man sie noch bei den Salzburger Festspielen gesehen, als wortgenauen "Nathan" in einer Inszenierung von Ulrich Rasche (F.A.Z. vom 31. Juli). Gerade hat man noch mit ihrer Ankündigung gehadert, sich in Zukunft vornehmlich Film und Fernsehen zuzuwenden. Da kommt dieses Buch.
Es erzählt keine zusammenhängende Geschichte und liest sich doch als in einem Stück komponiert. Das Wichtigste in diesem Roman ist die Zeit. Um ihr auf den Zahn zu fühlen, ist er geschrieben. All die berührenden Bilder und behutsamen Worte, mit dem der Text aufwartet, dienen dem einen Ziel: etwas kenntlich zu machen von dem, was sonst unbeobachtet vor sich hin läuft - der Sand in der Uhr, die sich gleich wieder wendet, um ein nächstes Leben zum Verschwinden zu bringen. Dagegen schreibt Tscheplanowa an. Sie hat die Geschichten von vier Frauen in der sowjetischen Provinz miteinander verwoben. Schauplatz ist ein Kurort bei Kasan, in dem schon Stalin Urlaub machte. In ihn kehrt die Protagonistin Walja zurück, um etwas von ihren Prägungen zu verstehen. Ihrem Blick auf die Welt. Woher kommt ihr Gefühl, "niemanden zu brauchen"? Was ist mit dem Holzhaus, in dem die Alte wohnt? Dem bestickten Kissenbezug? Der Stelle, wo der mit Haut umwachsene Knochen auf die Prothese trifft? Lauter Erinnerungssplitter, die zusammengesetzt werden wollen.
Tscheplanowa geht vorsichtig mit den biographischen Zeichen jener vier Frauen um, deren präzise Beziehung zu ihr sie offenlässt. Sie stellt ihr Verschwinden nicht aus, sondern bemüht sich behutsam, ihren verblassten Physiognomien durch poetische Anekdoten aufs Neue Konturen zu verleihen. Mit der Genauigkeit ihrer Beschreibung verleiht sie ihren Leben Würde und Anziehung. Immer wieder ist ihre Achtung vor der Duldsamkeit und Disziplin der Frauen spürbar. Ihre Bewunderung für ihr Durchhaltevermögen in schlechten Zeiten bei zehrender Arbeit. Etwa, wenn sie, die oft Geschminkte und Verkleidete, die Fingernägel einer alten Bäuerin beschreibt: "Die immer noch festen Nägel waren nie zum Lackieren gedacht. Sie haben gepult und durchtrennt, gekratzt und umgegraben."
Unaufdringlich schieben sich Daten der sozialistischen Verfallsgeschichte zwischen die kurzen Erzählabschnitte. Wie 1991 Gorbatschow abgesetzt wurde, wie die Menschen in langen Schlangen für Eier anstanden, wie ein Mann in seiner Siebzig-Quadratmeter-Wohnung trotzig von einer Welt ohne Unterschiede weiterträumt. Vereinzelt bricht sich Bitterkeit Bahn, Verzweiflung über einen Weltgeist, der die Anschauungen einfach so auswechselte, ohne auf die betrogenen Seelen seiner Gläubigen Rücksicht zu nehmen: "Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?" Das ist für Tscheplanowa keine rhetorische Frage.
Und doch hält die Autorin das Politische auf Distanz, bleibt es im Ungefähren wie hinter einem Gazevorhang. Wichtiger sind ihr die Menschen und ihre Höfe, das, was bestehen bleibt und die Zeitenwenden überdauert: "Es hat sich im Hof nichts getan, während der Sozialismus vorbeizog und ein Kapitalismus für die oberen Zehntausend kam, und trotzdem bleiben die Stufen dieselben.. Ein starkes Vertrauen auf die Präsenz des Wunderbaren durchzieht Tscheplanowas Text. Zum Ausdruck kommt es nicht nur durch die abenteuerliche Reisebeschreibung einer Marien-Ikone, sondern etwa auch in der berührend dichten Beschreibung eines Sterbemoments. Nicht Trauer über den Tod, sondern Staunen über das auslaufende Leben kennzeichnet den Gestus des Schreibens in dieser Passage. Wie überhaupt stolze Erinnerung statt niedergedrückte Sentimentalität dieses besondere Buch bestimmt. Damit hebt es sich deutlich aus der inzwischen fast unüberschaubaren Menge an autobiographisch gefärbten Schauspielerbüchern hervor. Es geht Tscheplanowa nicht darum, ihr eigenes Leben zu erzählen. Gar vor einem deutschen Publikum Zeugnis abzulegen über ihre Herkunft und Heimat. Für Migrations-Voyeurismus ist sie nicht die Richtige. Sie braucht keine kritische Gegenüberstellung zweier Welten, um deutlich zu machen, dass sie sich eine Eigenheit bewahrt hat. Eine Kraft, die von weit her kommt und in ihr weiterlebt. Auf der Bühne, beim Rollenspiel, aber eben überraschenderweise auch in ihrem Schreiben. Nicht selten verwendet Tscheplanowa in ihrem Text die verführerisch romantische Formel des "als ob" - und drückt damit unauffällig ihre Sehnsucht nach einer anderen Zeit und Gefühlswelt aus.
Der Zufall und das zu frühe Ende - darum geht es diesem Buch neben seinen erzählerischen Absichten auch. Ein Kapitel unter der Überschrift "Die Papierheiligen" beginnt mit der Frage, wer der letzte Mensch sein wird, den wir vor unserem Tod sehen. Einer, den man sein Leben lang gekannt hat? Oder einer, der gerade zum ersten Mal ins Zimmer tritt? Es sind diese stillen, unaufdringlichen Grundszenarien menschlichen Fühlens, die "Das Pferd im Brunnen" zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis machen.
In der Schauspielerin Valery Tscheplanowa offenbart sich eine auf ihre Einfühlung stolze Erzählerin. Eine, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Zeit "aus den Schubladen" zu befreien, in die sie gezwängt wurde, und von jenem Gefühl zu berichten, wenn "die Tage plötzlich andere Tage geworden sind". Das Vanitas-Motiv tritt hier nicht als bittere Klage auf, sondern als erstaunliche Tatsache. Ein lastloses Wundern durchzieht diesen Roman. Ein Wundern darüber, dass man nicht mehr Zeit miteinander gehabt hat. Nicht ein wenig mehr Zeit. SIMON STRAUSS
Valery Tscheplanowa: "Das Pferd im Brunnen". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023. 192 S., geb., 22,- Euro.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2023Glück ist eine Tätigkeit
Gute Schauspieler schreiben nicht automatisch gute Bücher. Bei Valery Tscheplanowa ist die Sache klar: Ihr Debüt „Das Pferd im Brunnen“ ist wunderbar
Gerade war Valery Tscheplanowa noch Nathan der Weise. Sie war eingesprungen, kurzfristig, bei einer Inszenierung von Ulrich Rasche bei den den Salzburger Festspielen, auch noch als Hauptrolle. Die Schauspielerin hatte Zeit und sie hatte Lust, also los, rauf auf Rasches spezielle Bühnenmaschine: zwei sich drehende Scheiben, auf denen rhythmisch gesprochen und gegangen wird. Ein Ereignis, hieß es in den Kritiken, nicht weniger, das sei Valery Tscheplanowa.
Als Schauspielerin ist die 43-Jährige sehr gefragt, jetzt erscheint ihr erster Roman „Das Pferd im Brunnen“ bei Rowohlt. Obwohl schreibende Schauspieler immer wieder Erfolg haben, wie Edgar Selge oder Joachim Meyerhoff, versteht sich die literarische Qualität ihrer Bücher nicht von selbst. Doch Teschplanowas Debüt ist nicht weniger Ereignis als ihr Spiel. Die Kühnheit der Schauspielerin lässt sich tatsächlich auf die der Autorin übertragen. Wie sie spielen kann – roh, durchscheinend, kristallklar und mit einer kühlen Strenge, die sie seltsam weise wirken lässt –, so schreibt sie auch.
Tscheplanowa erzählt die Geschichte von vier Frauen, von Tanja, Nina, Lena und Walja, vier Generationen von Uroma bis Urenkelin, vom mittleren 20. Jahrhundert bis ungefähr in die Gegenwart. Sie beginnt und endet im russische Kasan, der Stadt, in der auch Tscheplanowa 1980 geboren wurde, bevor sie 1988 nach Deutschland zog. Dabei ist der Begriff Geschichte nicht recht passend für den Roman, weil der etwas Lineares suggeriert, es sind aber Porträts der Frauen, die eine Verbindung zueinander suchen. Russland, anfangs noch kommunistische Sowjetunion, zerfällt im Laufe des Romans und wird ersetzt durch etwas, das die Menschen Kapitalismus nennen. Die Autorin verknüpft die Lebensfäden der Frauen mit der Historie des Landes und lässt sie wieder los, in jedem Kapitel wechselt sie den Fokus, springt in den Zeiten hin und her. Nur Walja, die Jüngste, spricht aus der Ich-Perspektive. Nach dem Tod ihrer Großmutter Nina, einer Matriarchin mit „kurzen festen Schritten“ und eigentlich Hauptfigur des Romans, kehrt Walja in deren Wohnung zurück, räumt über Jahrzehnte Gehortetes aus und erinnert sich an Nina. Das ist der Rahmen.
„Im Sommer gibt es Früchte und Marmelade im Winter, und jeweils das halbe Jahr wartete man auf das eine oder das andere. Nach dem Heiraten wird geboren, nach dem Gebären wird gearbeitet, gekocht und geteilt“, heißt es über das Leben des vergangenen Jahrhunderts in Kasan, vielleicht über das Leben allgemein. „Säen, ernten, einwecken, und wieder von vorn, ein nie endender Kreislauf“, das ist Alltag. Nina kennt nur die Arbeit ihrer Hände, ständig stecken sie in der Erde, die Fingernägel schmutzig. „Glück war eine Tätigkeit“, heißt es, mehr nicht. „,Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, denn was vergangen war, wurde überdeckt von dem, was zu tun war. Lass mir meine Irrtümer, Kind‘„ sagt Nina zur Enkelin. Und die: „Ich habe sie ihr gelassen. Auch auf die eigene Blindheit hat der Mensch ein Recht.“ Mit Sätzen wie diesen reißt Tscheplanowa immer wieder die Hände aus der Stofflichkeit der Erde hinauf zu etwas Größerem. Welche Blindheit sie meint, die kleine, private, oder die politische Blindheit, die Menschen auch in diktatorischen Systemen pflegen, lässt sie offen.
Dieses Changieren zwischen dem Konkreten und Abstrakten gelingt ihr fantastisch. Dass das ein Debüt sein soll, ist nicht so recht zu glauben, so eigen ist Tscheplanowas Sound, so karg, leise, immer vom Einfachsten ausgehend. Wenig direkte Rede, viel Passiv für die zahllosen Dinge, die erledigt werden oder so sein müssen. Stoisch wie ihre Figuren marschiert sie durch die Erzählung, trotzdem voll Empathie. Zuneigung äußert sich vor allem in Taten – Handschuhe stricken, Radieschen hauchdünn schneiden, Bratkartoffeln braten – und wenn die Liebe fehlt, bleibt eine Leerstelle.
Das Leben der Frauen ist jedes auf seine Art hart und Tscheplanowa erzählt diese Leben auch durch ihre Körper. Wühlende Hände, breite Frauenbecken, fehlende Unterschenkel, winzige Zähnchen, schwarze Haare. Diese Frauen beschäftigen sich mit ihrem Aussehen, so ist es nicht, sie denken über ihre Brüste nach, ob die gut genug sind, tragen hochhackige Schuhe, wenn der Anlass es hergibt. Lust aber gibt es kaum. Der kommunistische Körper ist ein arbeitender Körper. Am Ende ist er nicht mehr als ein Bindeglied zur Erde, auf der er sich bewegt, ein Dokument, auf dem das Verstreichen der Zeit festgehalten wird. Über den Tod schreibt Tscheplanowa: „Ich glaube, Sterben ist wie ein verlorener Zahn, gestern Abend hatte man ihn noch, und heute Morgen wurde er gezogen, das ist alles.“
Nina wäre gern Ärztin geworden, darf sie nicht, und arbeitet viele Jahre in einem Prothesenwerk. Ihre Tochter Lena fängt als junge Frau dort an, es müssen die späten Sechzigerjahre sein, sie reinigt die Stümpfe vieler Kriegsversehrter und verliebt sich in einen von ihnen. Drei Wochen, so lang wird Nina der Romanze ihrer Tochter geben, dann greift sie ein. Die Tochter soll etwas Besseres bekommen.
So etwas wie ein persönlicher Geschmack, das Streben nach Selbstverwirklichung oder Individualismus ist im Kommunismus nicht vorgesehen. „Auf die Idee zu kommen, einzigartig zu sein, ist beim Schlangestehen so gut wie unmöglich“, heißt es beim Warten auf Eier. Mit dem Zerfall der Sowjetunion dann ändern sich die Dinge. Tscheplanowa schildert diesen massiven Wandel zurückhaltend, anhand weniger eindringlicher Beispiele. Lena etwa, der die Romanze im Prothesenwerk versagt wurde, lebt später eine Weile in Deutschland, mit einem traurigen Alleinunterhalter namens Horst Karl Johnny. Verwundert geht sie im Vorgarten eines deutschen Einfamilienhauses umher: „Auch das ein Zeichen von Wohlstand, ungenutztes Land“, denkt sie.
Und während Großmutter Nina unverändert weiter in der Erde wühlt, Tochter Lena das Leben zwischen den Welten probiert, geht Enkelin Walja ganz selbstverständlich an eine deutsche Universität. Jede Generation bewegt sich ein bisschen weiter weg von Russland, nur, um dann doch wieder anzunähern. Ineinander suchen und erkennen die Frauen immer auch ihre Verbindung zu dem Land, es ist unmöglich, das eine ohne das andere zu begreifen.
„Es passiert Geschichte, aber die Menschen essen genau dasselbe, denken genau dasselbe, leben ihren kleinen Kommunismus. Sie bleiben mit einer großen Naivität eingesperrt in diesem Konstrukt, gefangen in Obrigkeitsdenken und Religiosität. Das ist irgendwie sogar rührend. Und trotzdem muss es aufhören“, sagte Tscheplanowa erst kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. In „Das Pferd im Brunnen“ vermeidet sie die Bewertung dieses Verharrens und die der Veränderung. Ihre Figuren trauern nicht, sie handeln. „Wollen kann man erst, wenn erledigt ist, was zu tun ist“, pflegt Großmutter Nina zu sagen. Am Ende rührt Walja in einem Topf ihrer toten Großmutter Grießbrei, Glück ist eine Tätigkeit.
CHRISTIANE LUTZ
Zeit zum Nachdenken hat
die Großmutter nicht,
es gibt zu viel zu tun
Jede Generation bewegt sich
weiter weg von Russland, um sich
dann doch wieder zu nähern
Valery Tscheplanowa ist selbst im russischen Kasan geborgen und kam 1988 nach Deutschland.
Foto: Just Loomis
Valery Tscheplanowa:
Das Pferd im Brunnen. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023. 192 Seiten, 22 Euro.
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Gute Schauspieler schreiben nicht automatisch gute Bücher. Bei Valery Tscheplanowa ist die Sache klar: Ihr Debüt „Das Pferd im Brunnen“ ist wunderbar
Gerade war Valery Tscheplanowa noch Nathan der Weise. Sie war eingesprungen, kurzfristig, bei einer Inszenierung von Ulrich Rasche bei den den Salzburger Festspielen, auch noch als Hauptrolle. Die Schauspielerin hatte Zeit und sie hatte Lust, also los, rauf auf Rasches spezielle Bühnenmaschine: zwei sich drehende Scheiben, auf denen rhythmisch gesprochen und gegangen wird. Ein Ereignis, hieß es in den Kritiken, nicht weniger, das sei Valery Tscheplanowa.
Als Schauspielerin ist die 43-Jährige sehr gefragt, jetzt erscheint ihr erster Roman „Das Pferd im Brunnen“ bei Rowohlt. Obwohl schreibende Schauspieler immer wieder Erfolg haben, wie Edgar Selge oder Joachim Meyerhoff, versteht sich die literarische Qualität ihrer Bücher nicht von selbst. Doch Teschplanowas Debüt ist nicht weniger Ereignis als ihr Spiel. Die Kühnheit der Schauspielerin lässt sich tatsächlich auf die der Autorin übertragen. Wie sie spielen kann – roh, durchscheinend, kristallklar und mit einer kühlen Strenge, die sie seltsam weise wirken lässt –, so schreibt sie auch.
Tscheplanowa erzählt die Geschichte von vier Frauen, von Tanja, Nina, Lena und Walja, vier Generationen von Uroma bis Urenkelin, vom mittleren 20. Jahrhundert bis ungefähr in die Gegenwart. Sie beginnt und endet im russische Kasan, der Stadt, in der auch Tscheplanowa 1980 geboren wurde, bevor sie 1988 nach Deutschland zog. Dabei ist der Begriff Geschichte nicht recht passend für den Roman, weil der etwas Lineares suggeriert, es sind aber Porträts der Frauen, die eine Verbindung zueinander suchen. Russland, anfangs noch kommunistische Sowjetunion, zerfällt im Laufe des Romans und wird ersetzt durch etwas, das die Menschen Kapitalismus nennen. Die Autorin verknüpft die Lebensfäden der Frauen mit der Historie des Landes und lässt sie wieder los, in jedem Kapitel wechselt sie den Fokus, springt in den Zeiten hin und her. Nur Walja, die Jüngste, spricht aus der Ich-Perspektive. Nach dem Tod ihrer Großmutter Nina, einer Matriarchin mit „kurzen festen Schritten“ und eigentlich Hauptfigur des Romans, kehrt Walja in deren Wohnung zurück, räumt über Jahrzehnte Gehortetes aus und erinnert sich an Nina. Das ist der Rahmen.
„Im Sommer gibt es Früchte und Marmelade im Winter, und jeweils das halbe Jahr wartete man auf das eine oder das andere. Nach dem Heiraten wird geboren, nach dem Gebären wird gearbeitet, gekocht und geteilt“, heißt es über das Leben des vergangenen Jahrhunderts in Kasan, vielleicht über das Leben allgemein. „Säen, ernten, einwecken, und wieder von vorn, ein nie endender Kreislauf“, das ist Alltag. Nina kennt nur die Arbeit ihrer Hände, ständig stecken sie in der Erde, die Fingernägel schmutzig. „Glück war eine Tätigkeit“, heißt es, mehr nicht. „,Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, denn was vergangen war, wurde überdeckt von dem, was zu tun war. Lass mir meine Irrtümer, Kind‘„ sagt Nina zur Enkelin. Und die: „Ich habe sie ihr gelassen. Auch auf die eigene Blindheit hat der Mensch ein Recht.“ Mit Sätzen wie diesen reißt Tscheplanowa immer wieder die Hände aus der Stofflichkeit der Erde hinauf zu etwas Größerem. Welche Blindheit sie meint, die kleine, private, oder die politische Blindheit, die Menschen auch in diktatorischen Systemen pflegen, lässt sie offen.
Dieses Changieren zwischen dem Konkreten und Abstrakten gelingt ihr fantastisch. Dass das ein Debüt sein soll, ist nicht so recht zu glauben, so eigen ist Tscheplanowas Sound, so karg, leise, immer vom Einfachsten ausgehend. Wenig direkte Rede, viel Passiv für die zahllosen Dinge, die erledigt werden oder so sein müssen. Stoisch wie ihre Figuren marschiert sie durch die Erzählung, trotzdem voll Empathie. Zuneigung äußert sich vor allem in Taten – Handschuhe stricken, Radieschen hauchdünn schneiden, Bratkartoffeln braten – und wenn die Liebe fehlt, bleibt eine Leerstelle.
Das Leben der Frauen ist jedes auf seine Art hart und Tscheplanowa erzählt diese Leben auch durch ihre Körper. Wühlende Hände, breite Frauenbecken, fehlende Unterschenkel, winzige Zähnchen, schwarze Haare. Diese Frauen beschäftigen sich mit ihrem Aussehen, so ist es nicht, sie denken über ihre Brüste nach, ob die gut genug sind, tragen hochhackige Schuhe, wenn der Anlass es hergibt. Lust aber gibt es kaum. Der kommunistische Körper ist ein arbeitender Körper. Am Ende ist er nicht mehr als ein Bindeglied zur Erde, auf der er sich bewegt, ein Dokument, auf dem das Verstreichen der Zeit festgehalten wird. Über den Tod schreibt Tscheplanowa: „Ich glaube, Sterben ist wie ein verlorener Zahn, gestern Abend hatte man ihn noch, und heute Morgen wurde er gezogen, das ist alles.“
Nina wäre gern Ärztin geworden, darf sie nicht, und arbeitet viele Jahre in einem Prothesenwerk. Ihre Tochter Lena fängt als junge Frau dort an, es müssen die späten Sechzigerjahre sein, sie reinigt die Stümpfe vieler Kriegsversehrter und verliebt sich in einen von ihnen. Drei Wochen, so lang wird Nina der Romanze ihrer Tochter geben, dann greift sie ein. Die Tochter soll etwas Besseres bekommen.
So etwas wie ein persönlicher Geschmack, das Streben nach Selbstverwirklichung oder Individualismus ist im Kommunismus nicht vorgesehen. „Auf die Idee zu kommen, einzigartig zu sein, ist beim Schlangestehen so gut wie unmöglich“, heißt es beim Warten auf Eier. Mit dem Zerfall der Sowjetunion dann ändern sich die Dinge. Tscheplanowa schildert diesen massiven Wandel zurückhaltend, anhand weniger eindringlicher Beispiele. Lena etwa, der die Romanze im Prothesenwerk versagt wurde, lebt später eine Weile in Deutschland, mit einem traurigen Alleinunterhalter namens Horst Karl Johnny. Verwundert geht sie im Vorgarten eines deutschen Einfamilienhauses umher: „Auch das ein Zeichen von Wohlstand, ungenutztes Land“, denkt sie.
Und während Großmutter Nina unverändert weiter in der Erde wühlt, Tochter Lena das Leben zwischen den Welten probiert, geht Enkelin Walja ganz selbstverständlich an eine deutsche Universität. Jede Generation bewegt sich ein bisschen weiter weg von Russland, nur, um dann doch wieder anzunähern. Ineinander suchen und erkennen die Frauen immer auch ihre Verbindung zu dem Land, es ist unmöglich, das eine ohne das andere zu begreifen.
„Es passiert Geschichte, aber die Menschen essen genau dasselbe, denken genau dasselbe, leben ihren kleinen Kommunismus. Sie bleiben mit einer großen Naivität eingesperrt in diesem Konstrukt, gefangen in Obrigkeitsdenken und Religiosität. Das ist irgendwie sogar rührend. Und trotzdem muss es aufhören“, sagte Tscheplanowa erst kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. In „Das Pferd im Brunnen“ vermeidet sie die Bewertung dieses Verharrens und die der Veränderung. Ihre Figuren trauern nicht, sie handeln. „Wollen kann man erst, wenn erledigt ist, was zu tun ist“, pflegt Großmutter Nina zu sagen. Am Ende rührt Walja in einem Topf ihrer toten Großmutter Grießbrei, Glück ist eine Tätigkeit.
CHRISTIANE LUTZ
Zeit zum Nachdenken hat
die Großmutter nicht,
es gibt zu viel zu tun
Jede Generation bewegt sich
weiter weg von Russland, um sich
dann doch wieder zu nähern
Valery Tscheplanowa ist selbst im russischen Kasan geborgen und kam 1988 nach Deutschland.
Foto: Just Loomis
Valery Tscheplanowa:
Das Pferd im Brunnen. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023. 192 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Valery Tscheplanowa ertastet [die Träume] unter dem Staub der Zeiten. Das macht dieses Buch so besonders: wie das eigentlich Triste, Banale zu leuchten beginnt. Man sehnt sich danach, mehr von ihr zu lesen. der Freitag