Leichtfüßig und wortgewaltig spaziert die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff mit uns durch Hölle und Himmel. Die Hauptrollen in ihrem Roman spielen die größte Komödie der Weltliteratur, das Seelenheil von 34 Dante-Gelehrten und ein anrührender Erzähler, so sehr um Bodenhaftung bemüht, dass ihm ein Wort wie »Wunder« nicht leicht über die Lippen kommt.
Der Ort ist prachtvoll, die Stimmung aufgeräumt: Renommierte Dante-Gelehrte aus aller Herren Länder tagen im altehrwürdigen Saal der Malteser auf dem römischen Aventin, mit Blick auf den Petersdom. Im Mittelpunkt steht die Göttliche Komödie, Dantes realismusgetränkter Einblick in die Welt nach dem Tod. Einer der eifrig Debattierenden ist Gottlieb Elsheimer, Frankfurter Romanist und nach eigener Einschätzung eher ein Kandidat fürs Fegefeuer als fürs Paradies. Bei aller Leidenschaft für den Forschungsgegenstand scheint ihm das zunehmend ausgelassene Verhalten der Kollegen seltsamer und seltsamer. Als die Kirchenglocken das Pfingstfest einläuten, bahnt sich ein Ereignis unbegreiflicher Art an ...
Der Ort ist prachtvoll, die Stimmung aufgeräumt: Renommierte Dante-Gelehrte aus aller Herren Länder tagen im altehrwürdigen Saal der Malteser auf dem römischen Aventin, mit Blick auf den Petersdom. Im Mittelpunkt steht die Göttliche Komödie, Dantes realismusgetränkter Einblick in die Welt nach dem Tod. Einer der eifrig Debattierenden ist Gottlieb Elsheimer, Frankfurter Romanist und nach eigener Einschätzung eher ein Kandidat fürs Fegefeuer als fürs Paradies. Bei aller Leidenschaft für den Forschungsgegenstand scheint ihm das zunehmend ausgelassene Verhalten der Kollegen seltsamer und seltsamer. Als die Kirchenglocken das Pfingstfest einläuten, bahnt sich ein Ereignis unbegreiflicher Art an ...
»Ein faszinierend klug komponierter Roman, der unseren Sinn für das Wunderbare schärft, und überdies eine Werbeschrift für Dante.« Denis Scheck SWR 20160915
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2016Pfingstwunder
Sibylle Lewitscharoff
Sie fühlt sich am Fuße des Läuterungsberges. "Wir sind so Zwischensünder", vermutete Sibylle Lewitscharoff, als sie ihren Dante-Roman "Das Pfingstwunder" im Frankfurter Literaturhaus vorstellte. Vor einer kleinen Gemeinde im Großen Saal sprach die Büchnerpreisträgerin mit ihrer Lektorin Julia Ketterer vom Suhrkamp Verlag über den "Transit" vom Manuskript zum Buch. Dabei erfuhr man, dass etwa 50 Komplett- und 28 Teilübersetzungen von Dantes "Göttlicher Komödie" auf dem Schreibtisch der Autorin gelegen hatten, als sie ans Werk ging. Vor allem aber erlebte man eine Sprachvirtuosin und unterhaltsame Gesprächspartnerin, die so redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war, und aus ihrem Herzen keine Mördergrube machte.
Etwa wenn sie sich über ihre Gewährsmänner ausließ: die Übersetzer. Prosaübersetzungen findet sie langweilig. Bei der bloßen Erwähnung des Namens Kurt Flasch zuckten ihre Augenbrauen angriffslustig: "Prosa-Übersetzungen - das ist eine Macke von Leuten, die nicht dichten können und das mit großem Bohei begründen." Lewitscharoff bedauerte, dass nur noch Rapper reimen. Noch aber gebe es immerhin sechs bis sieben hochpoetische Übersetzungen der "Commedia" ins Deutsche, darunter jene Johanns von Sachsen alias Philaletes und die extravagante von Rudolf Borchardt, von der sie denn auch "angefixt" worden sei. Die Autorin schwärmte von Romano Guardinis Dante-Exegesen und dankte nochmals Karlheinz Stierle, der ihr Manuskript durchgesehen habe.
Jedes Buch habe auch sein "Schmutzrändchen". Damit waren die vier Fehler gemeint, die sie nach Rat des Romanisten eliminierte. Im Literaturhaus waren besonders geglückte Passagen zu hören. Zuerst über Dantes zahlenmystische Spielereien, denen der einzige Dante-Experte nachsinnt, der die Entrückung seiner Kollegen bei einer Tagung in Rom überlebt hat und sich nun in seiner Wohnung im Frankfurter Westend betrinkt - was die Autorin zu einer fachsimpelnden Stammelsuada anregte. Dantes burleske Teufelchen hatten die deutschen Übersetzer zu schmuddeligen Sprachphantasien verführt: "Tückeschwanz, Übelkatz, Sudelbart, Schwinghupf". Die romanischen und anglophonen Übersetzer seien eher um Abstraktion bemüht, wo es um Körperliches geht, hat Lewitscharoff herausgefunden.
Mit dem "Pfingstwunder" zu Rom hat die Autorin ein phonetisches Wunder geschaffen - zwischen babylonischer Sprachverwirrung und apostolischer Glossolalie. Am Ende steht das Aleph, erster Buchstabe des hebräischen Alphabets.
c.s.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sibylle Lewitscharoff
Sie fühlt sich am Fuße des Läuterungsberges. "Wir sind so Zwischensünder", vermutete Sibylle Lewitscharoff, als sie ihren Dante-Roman "Das Pfingstwunder" im Frankfurter Literaturhaus vorstellte. Vor einer kleinen Gemeinde im Großen Saal sprach die Büchnerpreisträgerin mit ihrer Lektorin Julia Ketterer vom Suhrkamp Verlag über den "Transit" vom Manuskript zum Buch. Dabei erfuhr man, dass etwa 50 Komplett- und 28 Teilübersetzungen von Dantes "Göttlicher Komödie" auf dem Schreibtisch der Autorin gelegen hatten, als sie ans Werk ging. Vor allem aber erlebte man eine Sprachvirtuosin und unterhaltsame Gesprächspartnerin, die so redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war, und aus ihrem Herzen keine Mördergrube machte.
Etwa wenn sie sich über ihre Gewährsmänner ausließ: die Übersetzer. Prosaübersetzungen findet sie langweilig. Bei der bloßen Erwähnung des Namens Kurt Flasch zuckten ihre Augenbrauen angriffslustig: "Prosa-Übersetzungen - das ist eine Macke von Leuten, die nicht dichten können und das mit großem Bohei begründen." Lewitscharoff bedauerte, dass nur noch Rapper reimen. Noch aber gebe es immerhin sechs bis sieben hochpoetische Übersetzungen der "Commedia" ins Deutsche, darunter jene Johanns von Sachsen alias Philaletes und die extravagante von Rudolf Borchardt, von der sie denn auch "angefixt" worden sei. Die Autorin schwärmte von Romano Guardinis Dante-Exegesen und dankte nochmals Karlheinz Stierle, der ihr Manuskript durchgesehen habe.
Jedes Buch habe auch sein "Schmutzrändchen". Damit waren die vier Fehler gemeint, die sie nach Rat des Romanisten eliminierte. Im Literaturhaus waren besonders geglückte Passagen zu hören. Zuerst über Dantes zahlenmystische Spielereien, denen der einzige Dante-Experte nachsinnt, der die Entrückung seiner Kollegen bei einer Tagung in Rom überlebt hat und sich nun in seiner Wohnung im Frankfurter Westend betrinkt - was die Autorin zu einer fachsimpelnden Stammelsuada anregte. Dantes burleske Teufelchen hatten die deutschen Übersetzer zu schmuddeligen Sprachphantasien verführt: "Tückeschwanz, Übelkatz, Sudelbart, Schwinghupf". Die romanischen und anglophonen Übersetzer seien eher um Abstraktion bemüht, wo es um Körperliches geht, hat Lewitscharoff herausgefunden.
Mit dem "Pfingstwunder" zu Rom hat die Autorin ein phonetisches Wunder geschaffen - zwischen babylonischer Sprachverwirrung und apostolischer Glossolalie. Am Ende steht das Aleph, erster Buchstabe des hebräischen Alphabets.
c.s.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli wachsen Flügel beim Lesen von Sibylle Lewitscharoffs Geschichte um einen Dante-Kongress, der in die Luft geht. Erzählt vom buchstäblich am Boden gebliebenen Ich-Erzähler, entfaltet diese Begebenheit nicht nur Dante-Exegesen und allerhand Schlaues über Himmelfahrten und Purgatorien und die Gedankenwelt des Abendlandes, meint Bucheli, sondern auch eine den Leser erschütternde sinnlich-musikalische Sprachkunst. Auch ohne Dante-Vorkenntnisse lässt sich mit diesem Buch fliegen, versichert der Rezensent, auch wenn die Autorin einigen bleischweren Gesinnungsballast dranhängt, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.09.2016Die höllische Unglückszahl
In ihrem Roman „Das Pfingstwunder“ lässt Sibylle Lewitscharoff ein ganzes Geschwader von
Dante-Philologen vom Boden abheben. Zum Glück ist ihre Sprache der Levitation gewachsen
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Neben der Bibel ist Dantes „Commedia“, von Boccaccio mit dem Attribut „Divina“ geadelt und seither als „Göttliche Komödie“ berühmt, das meistkommentierte Buch der Welt, aber gewiss nicht das meistgelesene. Im kulturstolzen Italien kommt natürlich kein Schüler daran vorbei, und Event-Lesungen wie die von Roberto Benigni halten das Werk im Herzen des Volkes lebendig. Andernorts bleiben die „Lecturae Dantis“ auch dann, wenn sie öffentlich sind, ein Schmankerl für Eingeweihte.
Wer sich daranmacht, das Textgebirge aus eigener Kraft zu erklimmen, muss entweder von leidenschaftlicher Italienliebe oder von philologischem Forschergeist getrieben sein (oder von übermäßiger Fantreue zu Dan Browns „Inferno“). Es sei denn, er fühle sich zu der sprachmächtigen Jenseitsvision des Florentiners auf jene „magnetische“ Weise hingezogen, die Albert von Schirnding einmal mit vergnügtem Snobismus so beschrieben hat: „Nach einem phönizischen, von Platon überlieferten Mythos sind ja der menschlichen Seele unterschiedliche Metalle beigegeben. Wird sie von Dante ergriffen, ist auf das edelste Metall, auf Gold, zu schließen.“
Den versprengten Goldseelen der Neuzeit muss freilich erst einmal die Gelegenheit gegeben werden, sich von Dante ergreifen zu lassen. Eher selten geschieht ja, was Anfang des 19. Jahrhunderts dem siebzehnjährigen, bildungsfernen Schuhfabrikarbeiter August Springer aus Tuttlingen widerfuhr: In einer schweren Angst- und Sinnkrise stieß er beim Buchhändler auf ein kleines, graues Heft für zwanzig Pfennig, wanderte damit in den Wald und begann „Die Hölle“ zu lesen – mit lebensumwälzenden Folgen. Aus dem Mann wurde ein bedeutender Wortführer der christlichen Gewerkschaftsbewegung, und seine später notierten Erinnerungen an den Erkenntnisweg, auf den er durch die „Göttliche Komödie“ geriet, gehören zu den merkwürdigsten Zeugnissen der deutschsprachigen Dante-Rezeption.
August Springer entstammte dem schwäbisch-protestantischen Milieu, in dem auch Sibylle Lewitscharoff aufwuchs, in dem sie sich ihre predigttaugliche, zuweilen überschießende Wortgewalt und ihren empfindlichen Sinn für Gerechtigkeit erwarb. Sowie die Unerschrockenheit, die es heutzutage braucht, um ein hellwach realistisches und vernunftgeleitetes Erzählen durchlässig zu machen für Wunderbares, Transzendentes und Jenseitiges in schwankender Dosierung.
Ihr neues Werk, ein Dante-Roman, der nach den Gesetzen des Buchmarktes wohl zum 750. Geburtstag des Dichters im vorigen Jahr hätte erscheinen sollen, kommt gleich im Titel zur Sache: „Das Pfingstwunder“. Hier muss das Unerklärliche, nach aufklärerischen Maßstäben also Ungehörige, nicht erst von Rezensenten und Exegeten aufgespürt und eingeordnet werden, sondern es präsentiert sich gleich frech als Thema. Durch Vorablesungen, ein Hörspiel und eine Ausstellung in Marbach ist das Publikum auf das Buch eingestimmt worden. Und da die Autorin aus dem Plot nie ein Geheimnis gemacht hat, war das wundersame „Vorkommnis“ als solches keine Überraschung mehr: Die Erwartungsneugier durfte sich ganz auf die schlussgültige Form und die erzählerische Feinarbeit konzentrieren, die Lewitscharoff dem Mirakel angedeihen ließ.
Und so geht die Geschichte: Im Jahr 2013 findet in Rom, im prächtigen Saal der Malteser auf dem Aventin, ein Dante-Kongress statt. 34 Dantisten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten sind zusammengekommen, um die „Canti“ oder Gesänge der „Commedia“ nacheinander durchzugehen und Forschungsergebnisse auszutauschen. Am Ende, als die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten, ereignet sich das Unerhörte: Die Wissenschaftler verlieren auf das Wunderlichste die Contenance und beginnen in Zungen zu reden, ein postbabylonischer Sprachrausch euphorisiert sie gleich einer Droge und trägt sie auf den Gipfel der Ausgelassenheit, bis sich einer nach dem anderen von den Fensterbrettern des Maltesersaals in die Lüfte erhebt und davonfliegt, in unbekannte, vielleicht paradiesische Gefilde.
Drei Leute vom Personal und ein Jack-Russell-Terrier entschweben mit ihnen. Keiner von ihnen taucht je wieder auf; die Polizei steht vor einem Rätsel. Einer jedoch, ein nicht mehr ganz junger Frankfurter Romanist und Mit-Organisator der Veranstaltung, ist aus unerfindlichen Gründen auf seinem roten Samtstuhl hocken geblieben. Er, der Verschmähte, sieht sich als Träger einer Höllen- und Unglückszahl: Dantes „Inferno“ hat 34 Gesänge, „Purgatorio“ und „Paradiso“ je 33, was der Anzahl der Abgehobenen entspricht.
Als einziger Augenzeuge übernimmt Nummer vierunddreißig, nach Frankfurt zurückgekehrt, die Rolle des Berichterstatters, in einem labilen, aber mitteilsamen Zustand zwischen Verwirrung und heiligem Schauder, Beleidigtsein und Selbstironie. Ursprünglich sollte dieser Erzähler von Richard Ellwanger verkörpert werden, dem Ermittler aus Lewitscharoffs Krimi-Experiment „Killmousky“. Jetzt heißt er Gottlieb Elsheimer, was viel besser passt: Der Name Gottlieb erklärt sich selbst, und Adam Elsheimer war der aus Frankfurt stammende, in Rom verstorbene Barockmaler, dem wir die erste fernrohrbasierte Darstellung des Nachthimmels verdanken – seinerzeit ein wahres Wunder.
Im Übrigen ist der Chronist ein Paradebeispiel dafür, wie man eigenen Lebensstoff nonchalant in eine Romanhandlung einbauen kann. Elsheimer hat einiges mit der Autorin gemeinsam: das Alter (ungefähr), die Jugend in Stuttgart, die politisch und auch sonst tumultreichen frühen Jahre, die genussfreudige Gelehrsamkeit, den Hang zur Pedanterie und den Zorn über die katastrophalen Zustände in der Welt. Hingegen wohl nicht die Schuhgröße 46, die aus der Pubertät herübergeretteten Glaubenszweifel und die Skepsis gegenüber allem, was nicht mit knochenhartem Realismus zu erfassen ist.
Aber diese Einstellung ist durch das römische „Vorkommnis“ so gründlich erschüttert worden, dass er vorsichtig bekennen kann: „Das Fakten!-Fakten!-Fakten!-Geschrei kommt mir inzwischen dümmer vor als die religiöse Haltung der Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben.“ Damit macht er einen weiteren Schritt auf seine Erfinderin zu, die zum Totenreich zumindest literarisch eine enge Beziehung pflegt. Und in seiner Schilderung des denkwürdigen Kongresses, der Referenten und ihrer Dante-Deutung erkennen wir zugleich das Protokoll eines genuinen, wenn auch intellektuell abgefederten Ergriffenseins von der „Göttlichen Komödie“, das wir Sibylle Lewitscharoff unterstellen dürfen.
Vor allem jedoch, und das überrascht am meisten, ist der Roman eine ebenso leichtfüßige wie substanzreiche Einführung in Dantes Opus magnum mitsamt seinen historischen und politischen, philosophischen und theologischen, literatur- und kunstgeschichtlichen Implikationen. Besser noch als im Philosophenroman „Blumenberg“ gelingt Lewitscharoff hier der Spagat zwischen hohem und populärem Ton, Anspruch und Kurzweil. Welche Formprinzipien der „Commedia“, außer der Anzahl von 34 Kapiteln, sich womöglich im Text verbergen, ließe sich spielerisch entdecken, ebenso wie ein ganzer Kosmos von gelehrten Verweisen.
Kaum weniger beeindruckt indes die elegante Wurschtigkeit, mit der die Autorin aus den Sphären der akademischen Dante-Aneignung immer wieder auf den Boden der heutigen Wirklichkeit zurückkehrt, mit Hilfe eines Erzählers, der in einer Frankfurter Pizzeria versackt wie ein Genazino-Held und von hochpoetischen Beschreibungen des römischen Erlebnisses ständig abschweift in seine individuelle Lebensbanalität. Denn auf diese Weise wird auch Unkundigen ein Weg gebahnt und gepolstert zu dem, worum es in Wahrheit geht:„Mit Dante kopfunter kopfoberst hinein ins Ungeheuerliche.“
Diejenigen, die von der großen Seelenreise ohnehin schon infiziert und gepackt wurden, finden hier anregende Übersetzungsvergleiche, eine Verneigung vor Samuel Beckett, eine Fülle an Stoff für Dante-Debatten – und Sibylle Lewitscharoffs Sprachspiellust in Hochform. Sie dürfen sich nur nicht daran stören, dass das physikalische und heilsgeschichtliche Rätsel des Gruppen-Aufflugs am Schluss nicht erklärt wird. Wie sagte gleich Adam Elsheimer? „Ein Wunder kann man zwar beleuchten und befragen, aber nicht erfassen.“
Es braucht Unerschrockenheit,
um das realistische Erzählen für
das Wunderbare zu öffnen
Adam Elsheimer verdanken wir
die erste fernrohrbasierte
Darstellung des Nachthimmels
Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 Seiten, 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
„Im Labyrinth der Kreise“ – bis zum 27. November zeigt die Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv Sibylle Lewitscharoffs Dante–Werkstatt.
Foto: DLA Marbach
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Roman „Das Pfingstwunder“ lässt Sibylle Lewitscharoff ein ganzes Geschwader von
Dante-Philologen vom Boden abheben. Zum Glück ist ihre Sprache der Levitation gewachsen
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Neben der Bibel ist Dantes „Commedia“, von Boccaccio mit dem Attribut „Divina“ geadelt und seither als „Göttliche Komödie“ berühmt, das meistkommentierte Buch der Welt, aber gewiss nicht das meistgelesene. Im kulturstolzen Italien kommt natürlich kein Schüler daran vorbei, und Event-Lesungen wie die von Roberto Benigni halten das Werk im Herzen des Volkes lebendig. Andernorts bleiben die „Lecturae Dantis“ auch dann, wenn sie öffentlich sind, ein Schmankerl für Eingeweihte.
Wer sich daranmacht, das Textgebirge aus eigener Kraft zu erklimmen, muss entweder von leidenschaftlicher Italienliebe oder von philologischem Forschergeist getrieben sein (oder von übermäßiger Fantreue zu Dan Browns „Inferno“). Es sei denn, er fühle sich zu der sprachmächtigen Jenseitsvision des Florentiners auf jene „magnetische“ Weise hingezogen, die Albert von Schirnding einmal mit vergnügtem Snobismus so beschrieben hat: „Nach einem phönizischen, von Platon überlieferten Mythos sind ja der menschlichen Seele unterschiedliche Metalle beigegeben. Wird sie von Dante ergriffen, ist auf das edelste Metall, auf Gold, zu schließen.“
Den versprengten Goldseelen der Neuzeit muss freilich erst einmal die Gelegenheit gegeben werden, sich von Dante ergreifen zu lassen. Eher selten geschieht ja, was Anfang des 19. Jahrhunderts dem siebzehnjährigen, bildungsfernen Schuhfabrikarbeiter August Springer aus Tuttlingen widerfuhr: In einer schweren Angst- und Sinnkrise stieß er beim Buchhändler auf ein kleines, graues Heft für zwanzig Pfennig, wanderte damit in den Wald und begann „Die Hölle“ zu lesen – mit lebensumwälzenden Folgen. Aus dem Mann wurde ein bedeutender Wortführer der christlichen Gewerkschaftsbewegung, und seine später notierten Erinnerungen an den Erkenntnisweg, auf den er durch die „Göttliche Komödie“ geriet, gehören zu den merkwürdigsten Zeugnissen der deutschsprachigen Dante-Rezeption.
August Springer entstammte dem schwäbisch-protestantischen Milieu, in dem auch Sibylle Lewitscharoff aufwuchs, in dem sie sich ihre predigttaugliche, zuweilen überschießende Wortgewalt und ihren empfindlichen Sinn für Gerechtigkeit erwarb. Sowie die Unerschrockenheit, die es heutzutage braucht, um ein hellwach realistisches und vernunftgeleitetes Erzählen durchlässig zu machen für Wunderbares, Transzendentes und Jenseitiges in schwankender Dosierung.
Ihr neues Werk, ein Dante-Roman, der nach den Gesetzen des Buchmarktes wohl zum 750. Geburtstag des Dichters im vorigen Jahr hätte erscheinen sollen, kommt gleich im Titel zur Sache: „Das Pfingstwunder“. Hier muss das Unerklärliche, nach aufklärerischen Maßstäben also Ungehörige, nicht erst von Rezensenten und Exegeten aufgespürt und eingeordnet werden, sondern es präsentiert sich gleich frech als Thema. Durch Vorablesungen, ein Hörspiel und eine Ausstellung in Marbach ist das Publikum auf das Buch eingestimmt worden. Und da die Autorin aus dem Plot nie ein Geheimnis gemacht hat, war das wundersame „Vorkommnis“ als solches keine Überraschung mehr: Die Erwartungsneugier durfte sich ganz auf die schlussgültige Form und die erzählerische Feinarbeit konzentrieren, die Lewitscharoff dem Mirakel angedeihen ließ.
Und so geht die Geschichte: Im Jahr 2013 findet in Rom, im prächtigen Saal der Malteser auf dem Aventin, ein Dante-Kongress statt. 34 Dantisten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten sind zusammengekommen, um die „Canti“ oder Gesänge der „Commedia“ nacheinander durchzugehen und Forschungsergebnisse auszutauschen. Am Ende, als die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten, ereignet sich das Unerhörte: Die Wissenschaftler verlieren auf das Wunderlichste die Contenance und beginnen in Zungen zu reden, ein postbabylonischer Sprachrausch euphorisiert sie gleich einer Droge und trägt sie auf den Gipfel der Ausgelassenheit, bis sich einer nach dem anderen von den Fensterbrettern des Maltesersaals in die Lüfte erhebt und davonfliegt, in unbekannte, vielleicht paradiesische Gefilde.
Drei Leute vom Personal und ein Jack-Russell-Terrier entschweben mit ihnen. Keiner von ihnen taucht je wieder auf; die Polizei steht vor einem Rätsel. Einer jedoch, ein nicht mehr ganz junger Frankfurter Romanist und Mit-Organisator der Veranstaltung, ist aus unerfindlichen Gründen auf seinem roten Samtstuhl hocken geblieben. Er, der Verschmähte, sieht sich als Träger einer Höllen- und Unglückszahl: Dantes „Inferno“ hat 34 Gesänge, „Purgatorio“ und „Paradiso“ je 33, was der Anzahl der Abgehobenen entspricht.
Als einziger Augenzeuge übernimmt Nummer vierunddreißig, nach Frankfurt zurückgekehrt, die Rolle des Berichterstatters, in einem labilen, aber mitteilsamen Zustand zwischen Verwirrung und heiligem Schauder, Beleidigtsein und Selbstironie. Ursprünglich sollte dieser Erzähler von Richard Ellwanger verkörpert werden, dem Ermittler aus Lewitscharoffs Krimi-Experiment „Killmousky“. Jetzt heißt er Gottlieb Elsheimer, was viel besser passt: Der Name Gottlieb erklärt sich selbst, und Adam Elsheimer war der aus Frankfurt stammende, in Rom verstorbene Barockmaler, dem wir die erste fernrohrbasierte Darstellung des Nachthimmels verdanken – seinerzeit ein wahres Wunder.
Im Übrigen ist der Chronist ein Paradebeispiel dafür, wie man eigenen Lebensstoff nonchalant in eine Romanhandlung einbauen kann. Elsheimer hat einiges mit der Autorin gemeinsam: das Alter (ungefähr), die Jugend in Stuttgart, die politisch und auch sonst tumultreichen frühen Jahre, die genussfreudige Gelehrsamkeit, den Hang zur Pedanterie und den Zorn über die katastrophalen Zustände in der Welt. Hingegen wohl nicht die Schuhgröße 46, die aus der Pubertät herübergeretteten Glaubenszweifel und die Skepsis gegenüber allem, was nicht mit knochenhartem Realismus zu erfassen ist.
Aber diese Einstellung ist durch das römische „Vorkommnis“ so gründlich erschüttert worden, dass er vorsichtig bekennen kann: „Das Fakten!-Fakten!-Fakten!-Geschrei kommt mir inzwischen dümmer vor als die religiöse Haltung der Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben.“ Damit macht er einen weiteren Schritt auf seine Erfinderin zu, die zum Totenreich zumindest literarisch eine enge Beziehung pflegt. Und in seiner Schilderung des denkwürdigen Kongresses, der Referenten und ihrer Dante-Deutung erkennen wir zugleich das Protokoll eines genuinen, wenn auch intellektuell abgefederten Ergriffenseins von der „Göttlichen Komödie“, das wir Sibylle Lewitscharoff unterstellen dürfen.
Vor allem jedoch, und das überrascht am meisten, ist der Roman eine ebenso leichtfüßige wie substanzreiche Einführung in Dantes Opus magnum mitsamt seinen historischen und politischen, philosophischen und theologischen, literatur- und kunstgeschichtlichen Implikationen. Besser noch als im Philosophenroman „Blumenberg“ gelingt Lewitscharoff hier der Spagat zwischen hohem und populärem Ton, Anspruch und Kurzweil. Welche Formprinzipien der „Commedia“, außer der Anzahl von 34 Kapiteln, sich womöglich im Text verbergen, ließe sich spielerisch entdecken, ebenso wie ein ganzer Kosmos von gelehrten Verweisen.
Kaum weniger beeindruckt indes die elegante Wurschtigkeit, mit der die Autorin aus den Sphären der akademischen Dante-Aneignung immer wieder auf den Boden der heutigen Wirklichkeit zurückkehrt, mit Hilfe eines Erzählers, der in einer Frankfurter Pizzeria versackt wie ein Genazino-Held und von hochpoetischen Beschreibungen des römischen Erlebnisses ständig abschweift in seine individuelle Lebensbanalität. Denn auf diese Weise wird auch Unkundigen ein Weg gebahnt und gepolstert zu dem, worum es in Wahrheit geht:„Mit Dante kopfunter kopfoberst hinein ins Ungeheuerliche.“
Diejenigen, die von der großen Seelenreise ohnehin schon infiziert und gepackt wurden, finden hier anregende Übersetzungsvergleiche, eine Verneigung vor Samuel Beckett, eine Fülle an Stoff für Dante-Debatten – und Sibylle Lewitscharoffs Sprachspiellust in Hochform. Sie dürfen sich nur nicht daran stören, dass das physikalische und heilsgeschichtliche Rätsel des Gruppen-Aufflugs am Schluss nicht erklärt wird. Wie sagte gleich Adam Elsheimer? „Ein Wunder kann man zwar beleuchten und befragen, aber nicht erfassen.“
Es braucht Unerschrockenheit,
um das realistische Erzählen für
das Wunderbare zu öffnen
Adam Elsheimer verdanken wir
die erste fernrohrbasierte
Darstellung des Nachthimmels
Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 Seiten, 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
„Im Labyrinth der Kreise“ – bis zum 27. November zeigt die Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv Sibylle Lewitscharoffs Dante–Werkstatt.
Foto: DLA Marbach
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