Eine Bank wird überfallen und in der Folge die Angestellte Victoria vom Dienst beurlaubt, um ihr traumatisches Erlebnis zu verarbeiten. Eben erst in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, nutzt sie die Zeit, um das Bukarest ihrer Kindheit vor der Wende, aber auch das der Gegenwart zu erkunden. Sie begegnet einer alten Näherin, dem Bankräuber und ihrem ehemaligen Liebhaber, während sie im heißesten Sommer seit Jahren im Cabrio durch die Stadt fährt. In Erinnerungen und Phantasien schwelgend, passiert plötzlich etwas Unerwartetes: Ihr Freund macht ihr einen Heiratsantrag ...
buecher-magazin.deVictoria hat in einer letzten kurzen Pause vor dem Feierabend gerade beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören. Minuten später wird die Bank, in der sie arbeitet, überfallen. Victoria wird beurlaubt, um das Erlebte verarbeiten zu können. Ihre Therapeutin verlängert diese Beurlaubung regelmäßig mit einem Augenzwinkern. Es fühlt sich an wie Ferien in der eigenen Stadt. Nach einem längeren Aufenthalt in Zürich ist die Protagonistin gerade erst in ihre Heimatstadt Bukarest zurückgekehrt und hat nun viel Zeit für Spaziergänge und -fahrten auf den Pfaden ihrer Kindheit. Sie erinnert sich eines primären Gefühls der Schuldlosigkeit, trifft alte Bekannte und erzählt ihrem jetzigen Freund von damals, wodurch die beiden einander vertrauter werden. Die Autorin erzählt in Rückblicken sowie aktuellen Episoden und zwingt dabei sowohl die Protagonistin als auch den Leser, sich zwischen Erinnerung und Realität immer wieder neu zu orientieren. Die Erzählung hält Rumänien geschickt den Spiegel vor und zeigt dabei, dass die Vor- und die Nachwendeversion des Landes einander so unähnlich nicht sind. Victorias Entdeckungstouren, die dies unterstreichen sollen, driften allerdings zum Teil ins Anekdotenhafte ab.
© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Kritik an der Selbsttäuschung der rumänischen Gesellschaft, die Dana Grigorcea in ihrem Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" äußert, ließe sich ebenso gut auf ihr eigenes Buch anwenden, wundert sich Christopher Schmidt. Denn trotz einiger Warnungen vor der Unzuverlässigkeit der Erzählerin, einer als Bankerin zurückgekehrten Emigrantin, verschwimmen bei Grigorcea doch Fakt und Fiktion zu dem fantastischen Wirrwarr einer von Anachronismen durchzogenen Gegenwart, das den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, erklärt der Rezensent. Gerade hier ist der blinde Fleck wenigstens der Erzählerin, die sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Herkunft begibt, in die sie derart fantasierend noch immer ganz verstrickt ist, so Schmidt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2015Hello, Bukarest!
Dana Grigorceas Rumänien-Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit"
Eine der berührenden, halb komischen, halb traurigen und zugleich absurden Szenen, von denen es in Dana Grigorceas Roman nicht wenige gibt, ist eine historische. Im Jahr 1992 besucht Michael Jackson Bukarest. Als die von der aufgewühlten Menge wie der leibhaftige Erlöser erwartete Pop-Ikone schließlich in Offiziersuniform auf den Balkon des Volkshauses tritt, begrüßt Jackson seine Fans - nachdem er zwei zarte "Huuhs" ins Mikrofon gehaucht hat - mit den Worten: "Hello, Budapest!" Danach ist es, erinnert sich Grigorceas Erzählerin Victoria, totenstill. Rumänien, gebeutelt durch die Jahre des Ceausescu-Regimes, mag den Westen herbeigeträumt haben. Umgekehrt hat es leider in dessen Wahrnehmungshorizont keinen Platz.
Für einen Auszug aus ihrem Roman wurde Dana Grigorcea, geboren 1979 in ebenjenem Bukarest und seit vielen Jahren in Zürich zu Hause, in diesem Jahr mit dem 3sat-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ausgezeichnet. Und glücklicherweise erfüllt ihr nun erschienener Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" die Erwartungen, die der Wettbewerbsbeitrag geschürt hat.
Victoria kehrt nach Jahren in der Schweiz in ihre rumänische Heimat zurück, um auch hier als Bankerin zu arbeiten, wird aber, nach einem Überfall ihrer Filiale, zu Zwangsurlaub und Gesprächstherapie genötigt. Diese Gespräche mit der reizenden älteren Therapeutin genauso wie die Fahrten mit ihrem Verlobten durch Bukarest werden zum Erzähl- und Erinnerungsanlass. Unzählige Anekdoten, kleine Szenen blitzen auf, ungeordnet, sprudeln aus dem Kontext gerissen hervor, so dass nach und nach ein, wenngleich kaum fixierbares Bild des Vorwende-Rumäniens entsteht, das nicht zuletzt die politischen Gängeleien, die Not, denen die Bewohner ausgesetzt werden, die Gefahren, die den Regime-Gegnern drohten, und die damit einhergehende Angst immer wieder aufscheinen lässt, ohne dass Dana Grigorcea die Trauer und die Wut darüber eigens erwähnen müsste.
Dana Grigorcea vertraut auf das Zufällige, auf die kleine Geschichte, und sie misstraut dem Anspruch auf unverrückbare Wahrheit. Die Vergangenheit hat sie eines Besseren belehrt. Was auf Bildschirmen gezeigt wird oder in Büchern geschrieben steht, hat allzu oft fatal wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Dass der erste Farbfernseher - eine Eigenkonstruktion eines Freundes der Eltern der Erzählerin - sein buntes Bild durch drei über den Bildschirm geklebten Folienstreifen erhält (rot, gelb, blau), ist nur die komischste unter diesen Verzerrungen der Wirklichkeit.
Auf diesem Bildschirm sehen die Eltern auch, wie die kleine Victoria auserwählt ist, Elena Ceausescu, die sich gern nur "die Mutter" nennen ließ, auf einer Parade Blumen zu überreichen. Das Konterfei dieser Mutter hängt im Zimmer des Mädchens und zeigt eine Frau, schön wie eine Fee, mit leuchtenden, großen Augen. In natura stellt sich das etwas anders dar. Hinter Victoria flattert ein Meer von roten Fahnen, vor ihr steht eine alte Frau mit Kartoffelnase, dem das Mädchen selbstverständlich den Blumenstrauß verweigert. Der Zeremonie tut das keinen Abbruch: Die sehr unfeenhafte Genossin Mutter reißt die Blumen an sich, von Victorias Kopfschütteln bleibt nur das fröhliche Schwingen ihrer Zöpfe und auf dem "Farbfernseher", vor dem die ganze Familie gebannt sitzt, ein blauer Blumenstrauß.
Es ist nur konsequent, dass Dana Grigorcea angesichts der Erfahrung dieses Auseinanderfallens von Realität und deren Darstellung in ihrem Roman das poetologische Prinzip der kleinen Form wählt, aus der sich langsam, aber nie endgültig ein Großes und Ganzes zusammensetzt. Und womöglich fällt das Erzählen, wo man nicht explizit verurteilen muss, auch ein wenig leichter. Was Dana Grigorcea jedoch zu erzählen hat, wird dadurch keineswegs weniger existentiell. Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!
WIEBKE POROMBKA
Dana Grigorcea: "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit". Roman.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2015. 263 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dana Grigorceas Rumänien-Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit"
Eine der berührenden, halb komischen, halb traurigen und zugleich absurden Szenen, von denen es in Dana Grigorceas Roman nicht wenige gibt, ist eine historische. Im Jahr 1992 besucht Michael Jackson Bukarest. Als die von der aufgewühlten Menge wie der leibhaftige Erlöser erwartete Pop-Ikone schließlich in Offiziersuniform auf den Balkon des Volkshauses tritt, begrüßt Jackson seine Fans - nachdem er zwei zarte "Huuhs" ins Mikrofon gehaucht hat - mit den Worten: "Hello, Budapest!" Danach ist es, erinnert sich Grigorceas Erzählerin Victoria, totenstill. Rumänien, gebeutelt durch die Jahre des Ceausescu-Regimes, mag den Westen herbeigeträumt haben. Umgekehrt hat es leider in dessen Wahrnehmungshorizont keinen Platz.
Für einen Auszug aus ihrem Roman wurde Dana Grigorcea, geboren 1979 in ebenjenem Bukarest und seit vielen Jahren in Zürich zu Hause, in diesem Jahr mit dem 3sat-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ausgezeichnet. Und glücklicherweise erfüllt ihr nun erschienener Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" die Erwartungen, die der Wettbewerbsbeitrag geschürt hat.
Victoria kehrt nach Jahren in der Schweiz in ihre rumänische Heimat zurück, um auch hier als Bankerin zu arbeiten, wird aber, nach einem Überfall ihrer Filiale, zu Zwangsurlaub und Gesprächstherapie genötigt. Diese Gespräche mit der reizenden älteren Therapeutin genauso wie die Fahrten mit ihrem Verlobten durch Bukarest werden zum Erzähl- und Erinnerungsanlass. Unzählige Anekdoten, kleine Szenen blitzen auf, ungeordnet, sprudeln aus dem Kontext gerissen hervor, so dass nach und nach ein, wenngleich kaum fixierbares Bild des Vorwende-Rumäniens entsteht, das nicht zuletzt die politischen Gängeleien, die Not, denen die Bewohner ausgesetzt werden, die Gefahren, die den Regime-Gegnern drohten, und die damit einhergehende Angst immer wieder aufscheinen lässt, ohne dass Dana Grigorcea die Trauer und die Wut darüber eigens erwähnen müsste.
Dana Grigorcea vertraut auf das Zufällige, auf die kleine Geschichte, und sie misstraut dem Anspruch auf unverrückbare Wahrheit. Die Vergangenheit hat sie eines Besseren belehrt. Was auf Bildschirmen gezeigt wird oder in Büchern geschrieben steht, hat allzu oft fatal wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Dass der erste Farbfernseher - eine Eigenkonstruktion eines Freundes der Eltern der Erzählerin - sein buntes Bild durch drei über den Bildschirm geklebten Folienstreifen erhält (rot, gelb, blau), ist nur die komischste unter diesen Verzerrungen der Wirklichkeit.
Auf diesem Bildschirm sehen die Eltern auch, wie die kleine Victoria auserwählt ist, Elena Ceausescu, die sich gern nur "die Mutter" nennen ließ, auf einer Parade Blumen zu überreichen. Das Konterfei dieser Mutter hängt im Zimmer des Mädchens und zeigt eine Frau, schön wie eine Fee, mit leuchtenden, großen Augen. In natura stellt sich das etwas anders dar. Hinter Victoria flattert ein Meer von roten Fahnen, vor ihr steht eine alte Frau mit Kartoffelnase, dem das Mädchen selbstverständlich den Blumenstrauß verweigert. Der Zeremonie tut das keinen Abbruch: Die sehr unfeenhafte Genossin Mutter reißt die Blumen an sich, von Victorias Kopfschütteln bleibt nur das fröhliche Schwingen ihrer Zöpfe und auf dem "Farbfernseher", vor dem die ganze Familie gebannt sitzt, ein blauer Blumenstrauß.
Es ist nur konsequent, dass Dana Grigorcea angesichts der Erfahrung dieses Auseinanderfallens von Realität und deren Darstellung in ihrem Roman das poetologische Prinzip der kleinen Form wählt, aus der sich langsam, aber nie endgültig ein Großes und Ganzes zusammensetzt. Und womöglich fällt das Erzählen, wo man nicht explizit verurteilen muss, auch ein wenig leichter. Was Dana Grigorcea jedoch zu erzählen hat, wird dadurch keineswegs weniger existentiell. Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!
WIEBKE POROMBKA
Dana Grigorcea: "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit". Roman.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2015. 263 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es ist ein hinreißendes Rumänien-Porträt, das in der Erregung des rumänischen Volkes kulminiert, das sich nach Freiheit und Veränderung sehnt ...« Ijoma Mangold / Die Zeit
»Grigorcea baut mit poetischen Mitteln eine Welt der Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, sie schöpft aus der Komik das Todtraurige und hat einen Instinkt für den Irrwitz der Normalität und die Surrealität des Totalitären.« Roman Bucheli / Neue Zürcher Zeitung
»Ein wunderbar leichter, flirrender Roman darüber, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann.« Christian Möller / WDR5
»Mit ihrem zweiten Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit macht ... Dana Grigorcea klar: Sie ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Literatur.« Felix Schneider / SRF
»Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!« Wiebke Porombka / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Grigorcea baut mit poetischen Mitteln eine Welt der Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, sie schöpft aus der Komik das Todtraurige und hat einen Instinkt für den Irrwitz der Normalität und die Surrealität des Totalitären.« Roman Bucheli / Neue Zürcher Zeitung
»Ein wunderbar leichter, flirrender Roman darüber, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann.« Christian Möller / WDR5
»Mit ihrem zweiten Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit macht ... Dana Grigorcea klar: Sie ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Literatur.« Felix Schneider / SRF
»Dass ihre Poesie zudem immerzu von leisem Humor grundiert wird, kann man kaum genug feiern. Hello, Bukarest!« Wiebke Porombka / Frankfurter Allgemeine Zeitung