Der Schriftsteller C. aus Leipzig darf in den achtziger Jahren die DDR vorübergehend mit einem Visum verlassen. In der Bundesrepublik verliebt er sich in eine Westdeutsche, doch die gegensätzlichen Erfahrungen und Prägungen der beiden Partner zermürben ihr Verhältnis. Obwohl sich C. im Westen nach wie vor unwohl und fremd fühlt, obwohl er immer mehr in Alkoholexzessen und in Schreibhemmungen versinkt, lässt C. den Termin für seine Rückreise verstreichen, wodurch der Osten für ihn unerreichbar wird.
Wolfgang Hilbigs außerordentliches literarisches Talent, eine Atmosphäre der Bedrohung, des Abgründigen und Ungewissen zu schaffen, bewährt sich in seinem neuen Roman zum ersten Mal an einem westlichen Schauplatz und - nach seinem erfolgreichen Roman "Ich" - erneut an einem politischen Thema. Seine Hauptfigur C. gerät in eine Lage, in die sich viele Menschen aus der DDR nach der Wiedervereinigung versetzt sahen: Auch wenn sie sich einst nach dem Leben im Westen sehnten, spüren sie nun, e schwer es ist, unter den veränderten Bedingungen Fuß zu fassen - doch das ehemals vertraute Leben ist endgültig ins Unerreichbare entschwunden.
Hilbigs literarische Kunst, ganz gewöhnliche Situationen in überaus unbehagliche, dämonische Szenerien zu verwandeln, entzündet sich stets an alltäglichen Details. Ein paar Werbeschriftzüge, hektisch durcheinanderwuselnde Passanten oder merkwürdige Schaufensterauslagen genügen ihm, um aus einer scheinbar vertrauten Einkaufsstraße oder einem Bahnhof einen Ort tiefer existentieller Verunsicherung zu machen. Sein Held C. verliert mehr und mehr den Boden unter den Füßen; und alles, was ihm am Ende bleibt, ist der Stoff für ein neues Buch: die Geschichte einer krisengeschüttelten Liebe.
Wolfgang Hilbigs außerordentliches literarisches Talent, eine Atmosphäre der Bedrohung, des Abgründigen und Ungewissen zu schaffen, bewährt sich in seinem neuen Roman zum ersten Mal an einem westlichen Schauplatz und - nach seinem erfolgreichen Roman "Ich" - erneut an einem politischen Thema. Seine Hauptfigur C. gerät in eine Lage, in die sich viele Menschen aus der DDR nach der Wiedervereinigung versetzt sahen: Auch wenn sie sich einst nach dem Leben im Westen sehnten, spüren sie nun, e schwer es ist, unter den veränderten Bedingungen Fuß zu fassen - doch das ehemals vertraute Leben ist endgültig ins Unerreichbare entschwunden.
Hilbigs literarische Kunst, ganz gewöhnliche Situationen in überaus unbehagliche, dämonische Szenerien zu verwandeln, entzündet sich stets an alltäglichen Details. Ein paar Werbeschriftzüge, hektisch durcheinanderwuselnde Passanten oder merkwürdige Schaufensterauslagen genügen ihm, um aus einer scheinbar vertrauten Einkaufsstraße oder einem Bahnhof einen Ort tiefer existentieller Verunsicherung zu machen. Sein Held C. verliert mehr und mehr den Boden unter den Füßen; und alles, was ihm am Ende bleibt, ist der Stoff für ein neues Buch: die Geschichte einer krisengeschüttelten Liebe.
Ein Wanderer zwischen den Welten: Der DDR-Schriftsteller C. erhält Mitte der 80er ein befristetes Visum für eine Reise in den Westen. In der Bundesrepublik verliebt er sich in eine Westdeutsche und lässt den Termin für die Rückreise verstreichen. Doch die gegensätzlichen Erfahrungen und Prägungen zermürben das Verhältnis der Liebenden. C. gelingt es nicht, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, der Westen erscheint ihm gleichermaßen bedrohlich wie fremd. Um seine Schreibhemmungen zu überwinden, flüchtet er sich in Alkoholexzesse. Wolfgang Hilbig, selbst 1985 aus der DDR emigriert, beschreibt die Ankunft des ostdeutschen Intellektuellen in der westdeutschen Realität als existenzielle Krise und erzählt ganz nebenbei die Geschichte einer schwierigen Liebe. (www.parship.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2000Seele, ostwärts
Wolfgang Hilbigs Provisorium · Von Eberhard Rathgeb
Wolfgang Hilbigs Roman "Das Provisorium" ist das Dokument eines Scheiterns. Er beginnt mit einem Faustkampf auf einer Treppe in einer Boutique in Nürnberg. Gezielte Schläge strecken den Angreifer nieder. Der Schriftsteller C. aus Leipzig setzt sich zur Wehr. Doch am Boden, so muss er dann feststellen, liegt mit verrenkten Gliedern und verdrehtem Kopf eine Schaufensterpuppe. Der Mann aus dem Osten hat lediglich eine Chimäre des westlichen Konsums überwältigt. Vor dem Habenrausch in den glitzernden Kaufhäusern, auf den endlosen Rolltreppen und in den überbelegten Umkleidekabinen, vor den umlagerten Wühltischen und den klingelnden Kassen fällt dem Mann, der doch ein Schriftsteller ist, nicht mehr ein als eine Einsicht, die selber nur eine intellektuelle Schaufensterpuppe ist: dass Konsum die Freiheit ist, die der Westen meint. Die blinden Agenten des Konsums und Nutznießer dieser Freiheit sitzen unterdessen in ihren brustweit geöffneten Hawaiihemden, mit blinkenden Goldkettchen und dicken Taucherarmbanduhren am Handgelenk, beim hellen Bier zusammen und leben laut und gut.
Am 31. Oktober 1985 kann der Schriftsteller C., der in Leipzig wohnt, endlich den Osten verlassen und in den Westen gehen. Ein so genanntes "Dienstvisum", das auf vierzehn Monate ausgestellt ist, gestattet ihm, in die Bundesrepublik Deutschland auszureisen und in die Deutsche Demokratische Republik wieder zurückzureisen, sooft ihm danach zumute ist. Seine Freundin Mona bleibt in der kleinen Wohnung in Leipzig. Der Schriftsteller tritt auf Wunsch seines Westverlages eine Lesereise an. Er wohnt in Hanau, in München und schließlich in Nürnberg. Dort liebt er Hedda, eine russische Schriftstellerin. Die Liebe geht in die Brüche. Und als die Mauer fällt, fährt der Dichter nach Leipzig zurück.
Die Geschichte des Schriftstellers C. pendelt zwischen Ost und West. Bislang spielten alle Erzählungen und Romane Wolfgang Hilbigs in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, die er selbst wie sein Held im Jahre 1985 verlassen hat. Wenn man von seinen vor einigen Jahren erschienenen Poetik-Vorlesungen absieht, in denen er sich harsch mit dem westlichen Literaturbetrieb auseinander setzte, schrieb Hilbig nach der Ausreise nicht über seine Erfahrungen im Westen. Zwar stand er dort mit beiden Beinen im Leben, mit seinem Kopf, mit seinen Vorstellungen aber blieb er im Osten. Noch immer erzählte er von den Schwierigkeiten einer Doppelexistenz als Heizer und Dichter in der Deutschen Demokratischen Republik, erzählte von einem Land, das von industriellen Verwüstungen und menschlichen Verödungen heimgesucht wurde.
Der Schriftsteller C., von dem Hilbig nun berichtet, kann Unmengen trinken, Whiskey, Schnaps, Wodka, Wein und Bier. Er greift zur Flasche nicht aus Daseinsüberschwang, sondern aus Kummer. In München lässt er sich sogar einmal in die Heilanstalt Haar einliefern und auf Entzug setzen. Der Durst aber bleibt ungelöscht, weil die Sehnsucht nach einer erlösenden Erfüllung, das Verlangen nach einer verlorenen Einheit, nach einer verlässlich wirklichen und also auch seelischen Heimat wie ein Kloß in seinem Hals steckt. Er hat in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen, hat Wörter in die, wie er sagt, "ungeheure Halle des Schweigens" geschaufelt, in der er die stummen Jahre seiner Kindheit verbrachte. Er hat gegen die ihn erdrückende Last der langen Nachmittage angeschrieben, Nachmittage, die er allein in der Wohnung saß. Er hat sich in diese Wörter eingehüllt wie in einen Schutzmantel. Dann, als er erwachsen wird, gerät er in die bedrohliche Welt der Produktion, der Fabriken und der Arbeiter, wird zum Maschinenschlosser ausgebildet und arbeitet als Heizer. Vor dem Koloss der Arbeit fehlt ihm der Mut, sich als Schriftsteller zu bekennen. Woher hätte er diese Zuversicht nehmen sollen? Er schreibt gegen die Todeszellen der Industrie an, in denen ihm sein Leben davonrinnt, und erzählt sich währenddessen Geschichten vom Wald, von den Bäumen und den Wasserläufen seiner Jugend.
Schließlich wird er in aller Öffentlichkeit zu einem Dichter, aus dem Kessel seiner Einsamkeit aber entkommt er nicht. Das literarische Schreiben trennt ihn von der rauen Welt der maschinellen und normierten Handgriffe, der er aus Herkunft angehört und die er nicht vergessen kann, auch wenn er sie verlassen hat. Und es verbindet ihn mit der empfindlichen Welt der individuellen Handschriften, einer Welt, zu der auch er sich stets zählte, obwohl er darin nur ein Gast ohne Geburtsrecht zu sein glaubte. Das fatale Dilemma zwischen schreibender Auflösung und sozialer Einkapselung, die wachsende Spannung zwischen dem werdenden "Ich" eines Schriftstellers und dem gewordenen "Ich" eines Arbeiters vergrößert sich immer mehr, vor allem seit er im Westen lebte. So entsteht der unstillbare Durst nach Auslöschung und Selbstaufgabe.
Der Schriftsteller C. steigt erinnernd in sein Schicksal hinab. Er öffnet sich nicht nur das Hemd, er reißt die Brust mit auf, um in der Seele und ihrem Kummer zu wühlen. Ob ihm noch zu helfen ist, vermag niemand zu sagen. Ihm fehlen die erlösenden Worte, und was er zu Papier bringt, wenn er am Schreibtisch sitzt, sind nur ein paar Notizen. Der Vorsatz, endlich einmal die beiden Kisten mit der selbst zusammengestellten "Bibliothek des zwanzigsten Jahrhunderts" zu öffnen und all die Bücher des Jahrhunderts der Lager und des Völkermords zu lesen, kommt ihm abhanden, weil er dabei ist, sich selbst verloren zu gehen. Zu mehr, als auf diesen Kisten in guter Absicht zu sitzen und über das, wie er sagt, "Jahrhundert der Lüge" halbe Sätze zu sinnieren, ist er nicht in der Lage. Auch bei den Frauen findet er keine Erfüllung für sein Verlangen nach Nähe, nach restloser, erlösender Auflösung, und sein Alkoholkonsum trägt das Seine dazu bei, die Frau, der er nicht minder verfallen ist als der Flasche, aus seinen Armen zu treiben.
Das Unglück, das ihm seit Kindheitstagen widerfahren ist, in einer rohen Welt zu leben, die von ihm als einem Dichter zunächst nichts wissen wollte, lässt sich nicht mehr heilen. Der dichtende Heizer sitzt angesichts der verlorenen Lebenszeit und eines nicht mehr wieder zu gewinnenden Glücks im Panzer seiner Verhärtung, nur im Suff schimmert ein wenig Frieden in das Dunkel der Verbitterung. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in einem Provisorium einzurichten: mit dem Zug von einer Stadt in die andere zu fahren, ständig unterwegs zu sein, durch Kneipen und Straßen zu ziehen, die Ruhe und Sammlung möglichst zu meiden, die nur Ausblicke in den eigenen Abgrund freigeben könnte. Laut ist der Hilferuf, aus dem die Geschichte des Schriftstellers C. entsteht. Bedingungslos ehrlich gibt sich ein Bekenntnis, aus dessen verzweifeltem Lamento kein Weg mehr zum Schreiben und zu irgendeiner Wirklichkeit zu führen scheint. Dem Schriftsteller C. ist im Westen die Realität abhanden gekommen, sie ist zu Versatzstücken einer banalen Konsumkritik geschrumpft. Was bleibt, stiftet dem Dichter der triste Rausch: das Leiden eines Heimatlosen an sich selbst zwischen Ost und West.
Die Tragik des Schriftstellers C., der aus dem Osten auszog, aber im Westen nicht ankam, erschöpft sich nicht in den alkoholgetränkten Klagen einer Seele, die nicht mehr über die Kraft verfügt, sich aufzubäumen. Denn mit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ging dem Schriftsteller nicht nur das Land verloren, in dem sein Widerstand gegen ein vorgeschriebenes und bedrückendes Leben heranwuchs. Es ging auch die Lust am immer neuen Anlauf zur Provokation verloren, gerade hier, in diesen industriellen Geröllhalden des Arbeiter-und-Bauern-Staates, den Schichten der Seele mit Worten zu einem unüberhörbaren Ausdruck zu verhelfen. Im Westen muss der Schriftsteller ohne diesen aufrührenden Widerspruch auskommen, sowohl ein Dichter als auch ein Arbeiter zu sein, im Lärmen und Tosen der industriellen Ungeheuer noch das traurige Summen der Seele zu hören. Im Westen findet er nichts Neues, nur das Rauschen der sogenannten Warenströme und das Rattern des Betriebs. Das aber ist letztendlich zu wenig Material für einen Roman, der doch mehr als das persönliche Dokument eines Risses sein soll.
Je mehr Wolfgang Hilbig vom Schriftsteller C. erzählt, desto weniger wird dieser zu einem Zeitgenossen, desto mehr wird er zur allegorischen Leidensgestalt. Aus dem Provisorium wird ein Purgatorium, ein Fegefeuer, in dem die irrende und wunde Seele des Dichters auf die Erlösung oder die Verdammnis wartet. Der liebe Gott, der sie retten könnte, sitzt in der Neugier auf das, was die Seele selbst nicht ist, wenn sie nur in sich selber kreist. Diese Neugier müsste der Schriftsteller C., wenn er zum Schreiben zurückfinden möchte, wieder lernen. Der Teufel, der den Dichter in den Abgrund ziehen könnte, schaut dagegen aus dem Spiegelbild. Wolfgang Hilbig hat einen Roman über einen Schriftsteller geschrieben, der aus nichts anderem als dem Bekenntnis eines Schriftstellers besteht, keinen Roman schreiben zu können. Ein Dichter schaut sich in die Augen und trifft auf einen Blick, der leer bleibt, wenn er die Gegenwart des Westens erfasst, und der verzweifelt ist, wenn er sich auf die Vergangenheit des Ostens richtet.
Es kann den Leser nicht verwundern, dass es Wolfgang Hilbig, dem Schriftsteller ohne wirkliche Heimat, bei dieser Geschichte immer wieder die suchende Sprache verschlägt und ihm die Worte für die Wirklichkeit um ihn herum fehlen. Dabei würde man sich doch wünschen, dass einer wie Hilbig sich aufmachte und die ungeheuren deutschen Seelengeröllhalden einmal ebenso unerbittlich besichtigte wie in diesem Buch die Unfähigkeit, aus dem eigenen Kummer herauszukommen.
Wolfgang Hilbig: "Das Provisorium". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 320 S., geb., 39,80 DM.
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Wolfgang Hilbigs Provisorium · Von Eberhard Rathgeb
Wolfgang Hilbigs Roman "Das Provisorium" ist das Dokument eines Scheiterns. Er beginnt mit einem Faustkampf auf einer Treppe in einer Boutique in Nürnberg. Gezielte Schläge strecken den Angreifer nieder. Der Schriftsteller C. aus Leipzig setzt sich zur Wehr. Doch am Boden, so muss er dann feststellen, liegt mit verrenkten Gliedern und verdrehtem Kopf eine Schaufensterpuppe. Der Mann aus dem Osten hat lediglich eine Chimäre des westlichen Konsums überwältigt. Vor dem Habenrausch in den glitzernden Kaufhäusern, auf den endlosen Rolltreppen und in den überbelegten Umkleidekabinen, vor den umlagerten Wühltischen und den klingelnden Kassen fällt dem Mann, der doch ein Schriftsteller ist, nicht mehr ein als eine Einsicht, die selber nur eine intellektuelle Schaufensterpuppe ist: dass Konsum die Freiheit ist, die der Westen meint. Die blinden Agenten des Konsums und Nutznießer dieser Freiheit sitzen unterdessen in ihren brustweit geöffneten Hawaiihemden, mit blinkenden Goldkettchen und dicken Taucherarmbanduhren am Handgelenk, beim hellen Bier zusammen und leben laut und gut.
Am 31. Oktober 1985 kann der Schriftsteller C., der in Leipzig wohnt, endlich den Osten verlassen und in den Westen gehen. Ein so genanntes "Dienstvisum", das auf vierzehn Monate ausgestellt ist, gestattet ihm, in die Bundesrepublik Deutschland auszureisen und in die Deutsche Demokratische Republik wieder zurückzureisen, sooft ihm danach zumute ist. Seine Freundin Mona bleibt in der kleinen Wohnung in Leipzig. Der Schriftsteller tritt auf Wunsch seines Westverlages eine Lesereise an. Er wohnt in Hanau, in München und schließlich in Nürnberg. Dort liebt er Hedda, eine russische Schriftstellerin. Die Liebe geht in die Brüche. Und als die Mauer fällt, fährt der Dichter nach Leipzig zurück.
Die Geschichte des Schriftstellers C. pendelt zwischen Ost und West. Bislang spielten alle Erzählungen und Romane Wolfgang Hilbigs in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, die er selbst wie sein Held im Jahre 1985 verlassen hat. Wenn man von seinen vor einigen Jahren erschienenen Poetik-Vorlesungen absieht, in denen er sich harsch mit dem westlichen Literaturbetrieb auseinander setzte, schrieb Hilbig nach der Ausreise nicht über seine Erfahrungen im Westen. Zwar stand er dort mit beiden Beinen im Leben, mit seinem Kopf, mit seinen Vorstellungen aber blieb er im Osten. Noch immer erzählte er von den Schwierigkeiten einer Doppelexistenz als Heizer und Dichter in der Deutschen Demokratischen Republik, erzählte von einem Land, das von industriellen Verwüstungen und menschlichen Verödungen heimgesucht wurde.
Der Schriftsteller C., von dem Hilbig nun berichtet, kann Unmengen trinken, Whiskey, Schnaps, Wodka, Wein und Bier. Er greift zur Flasche nicht aus Daseinsüberschwang, sondern aus Kummer. In München lässt er sich sogar einmal in die Heilanstalt Haar einliefern und auf Entzug setzen. Der Durst aber bleibt ungelöscht, weil die Sehnsucht nach einer erlösenden Erfüllung, das Verlangen nach einer verlorenen Einheit, nach einer verlässlich wirklichen und also auch seelischen Heimat wie ein Kloß in seinem Hals steckt. Er hat in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen, hat Wörter in die, wie er sagt, "ungeheure Halle des Schweigens" geschaufelt, in der er die stummen Jahre seiner Kindheit verbrachte. Er hat gegen die ihn erdrückende Last der langen Nachmittage angeschrieben, Nachmittage, die er allein in der Wohnung saß. Er hat sich in diese Wörter eingehüllt wie in einen Schutzmantel. Dann, als er erwachsen wird, gerät er in die bedrohliche Welt der Produktion, der Fabriken und der Arbeiter, wird zum Maschinenschlosser ausgebildet und arbeitet als Heizer. Vor dem Koloss der Arbeit fehlt ihm der Mut, sich als Schriftsteller zu bekennen. Woher hätte er diese Zuversicht nehmen sollen? Er schreibt gegen die Todeszellen der Industrie an, in denen ihm sein Leben davonrinnt, und erzählt sich währenddessen Geschichten vom Wald, von den Bäumen und den Wasserläufen seiner Jugend.
Schließlich wird er in aller Öffentlichkeit zu einem Dichter, aus dem Kessel seiner Einsamkeit aber entkommt er nicht. Das literarische Schreiben trennt ihn von der rauen Welt der maschinellen und normierten Handgriffe, der er aus Herkunft angehört und die er nicht vergessen kann, auch wenn er sie verlassen hat. Und es verbindet ihn mit der empfindlichen Welt der individuellen Handschriften, einer Welt, zu der auch er sich stets zählte, obwohl er darin nur ein Gast ohne Geburtsrecht zu sein glaubte. Das fatale Dilemma zwischen schreibender Auflösung und sozialer Einkapselung, die wachsende Spannung zwischen dem werdenden "Ich" eines Schriftstellers und dem gewordenen "Ich" eines Arbeiters vergrößert sich immer mehr, vor allem seit er im Westen lebte. So entsteht der unstillbare Durst nach Auslöschung und Selbstaufgabe.
Der Schriftsteller C. steigt erinnernd in sein Schicksal hinab. Er öffnet sich nicht nur das Hemd, er reißt die Brust mit auf, um in der Seele und ihrem Kummer zu wühlen. Ob ihm noch zu helfen ist, vermag niemand zu sagen. Ihm fehlen die erlösenden Worte, und was er zu Papier bringt, wenn er am Schreibtisch sitzt, sind nur ein paar Notizen. Der Vorsatz, endlich einmal die beiden Kisten mit der selbst zusammengestellten "Bibliothek des zwanzigsten Jahrhunderts" zu öffnen und all die Bücher des Jahrhunderts der Lager und des Völkermords zu lesen, kommt ihm abhanden, weil er dabei ist, sich selbst verloren zu gehen. Zu mehr, als auf diesen Kisten in guter Absicht zu sitzen und über das, wie er sagt, "Jahrhundert der Lüge" halbe Sätze zu sinnieren, ist er nicht in der Lage. Auch bei den Frauen findet er keine Erfüllung für sein Verlangen nach Nähe, nach restloser, erlösender Auflösung, und sein Alkoholkonsum trägt das Seine dazu bei, die Frau, der er nicht minder verfallen ist als der Flasche, aus seinen Armen zu treiben.
Das Unglück, das ihm seit Kindheitstagen widerfahren ist, in einer rohen Welt zu leben, die von ihm als einem Dichter zunächst nichts wissen wollte, lässt sich nicht mehr heilen. Der dichtende Heizer sitzt angesichts der verlorenen Lebenszeit und eines nicht mehr wieder zu gewinnenden Glücks im Panzer seiner Verhärtung, nur im Suff schimmert ein wenig Frieden in das Dunkel der Verbitterung. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in einem Provisorium einzurichten: mit dem Zug von einer Stadt in die andere zu fahren, ständig unterwegs zu sein, durch Kneipen und Straßen zu ziehen, die Ruhe und Sammlung möglichst zu meiden, die nur Ausblicke in den eigenen Abgrund freigeben könnte. Laut ist der Hilferuf, aus dem die Geschichte des Schriftstellers C. entsteht. Bedingungslos ehrlich gibt sich ein Bekenntnis, aus dessen verzweifeltem Lamento kein Weg mehr zum Schreiben und zu irgendeiner Wirklichkeit zu führen scheint. Dem Schriftsteller C. ist im Westen die Realität abhanden gekommen, sie ist zu Versatzstücken einer banalen Konsumkritik geschrumpft. Was bleibt, stiftet dem Dichter der triste Rausch: das Leiden eines Heimatlosen an sich selbst zwischen Ost und West.
Die Tragik des Schriftstellers C., der aus dem Osten auszog, aber im Westen nicht ankam, erschöpft sich nicht in den alkoholgetränkten Klagen einer Seele, die nicht mehr über die Kraft verfügt, sich aufzubäumen. Denn mit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ging dem Schriftsteller nicht nur das Land verloren, in dem sein Widerstand gegen ein vorgeschriebenes und bedrückendes Leben heranwuchs. Es ging auch die Lust am immer neuen Anlauf zur Provokation verloren, gerade hier, in diesen industriellen Geröllhalden des Arbeiter-und-Bauern-Staates, den Schichten der Seele mit Worten zu einem unüberhörbaren Ausdruck zu verhelfen. Im Westen muss der Schriftsteller ohne diesen aufrührenden Widerspruch auskommen, sowohl ein Dichter als auch ein Arbeiter zu sein, im Lärmen und Tosen der industriellen Ungeheuer noch das traurige Summen der Seele zu hören. Im Westen findet er nichts Neues, nur das Rauschen der sogenannten Warenströme und das Rattern des Betriebs. Das aber ist letztendlich zu wenig Material für einen Roman, der doch mehr als das persönliche Dokument eines Risses sein soll.
Je mehr Wolfgang Hilbig vom Schriftsteller C. erzählt, desto weniger wird dieser zu einem Zeitgenossen, desto mehr wird er zur allegorischen Leidensgestalt. Aus dem Provisorium wird ein Purgatorium, ein Fegefeuer, in dem die irrende und wunde Seele des Dichters auf die Erlösung oder die Verdammnis wartet. Der liebe Gott, der sie retten könnte, sitzt in der Neugier auf das, was die Seele selbst nicht ist, wenn sie nur in sich selber kreist. Diese Neugier müsste der Schriftsteller C., wenn er zum Schreiben zurückfinden möchte, wieder lernen. Der Teufel, der den Dichter in den Abgrund ziehen könnte, schaut dagegen aus dem Spiegelbild. Wolfgang Hilbig hat einen Roman über einen Schriftsteller geschrieben, der aus nichts anderem als dem Bekenntnis eines Schriftstellers besteht, keinen Roman schreiben zu können. Ein Dichter schaut sich in die Augen und trifft auf einen Blick, der leer bleibt, wenn er die Gegenwart des Westens erfasst, und der verzweifelt ist, wenn er sich auf die Vergangenheit des Ostens richtet.
Es kann den Leser nicht verwundern, dass es Wolfgang Hilbig, dem Schriftsteller ohne wirkliche Heimat, bei dieser Geschichte immer wieder die suchende Sprache verschlägt und ihm die Worte für die Wirklichkeit um ihn herum fehlen. Dabei würde man sich doch wünschen, dass einer wie Hilbig sich aufmachte und die ungeheuren deutschen Seelengeröllhalden einmal ebenso unerbittlich besichtigte wie in diesem Buch die Unfähigkeit, aus dem eigenen Kummer herauszukommen.
Wolfgang Hilbig: "Das Provisorium". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 320 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
In rückhaltloser Begeisterung, aber ohne die Schwächen des Buchs zu verschweigen, schreibt Ursula März über diesen neuen Roman des "kompletten Außenseiters" der DDR-Literatur. Sie zeichnet den Weg des Schriftsteller C. nach, der 1985 ein Visum für den Westen erhält und im Suff versinkt. Der Westen werde dabei genauso schlecht behandelt wie der Osten. Der Roman, der vorzugsweise in Bahnhofsspelunken zu spielen scheint, schildere das Leben des C. als "alttestamentliches Inferno", bevor er in breiiger Konsistenz buchstäblich untergehe. Perfekt ist der Roman nach März nicht: Manche Handlungsstränge würden schlicht vergessen, andere ohne Sinn wieder aufgenommen. Aber was ist schon der blasse Anspruch literarischer Perfektion gegen "die Vehemenz des Buchs". Ein wenig gestört fühlt sich die Rezensentin nur durch die "Ausgewogenheit" der Ungerechtigkeiten gegen Ost und West. Hilbigs Hass auf die Ex-DDR findet sie authentischer als den auf den Westen, der mit dem üblichen Bildervorrat - von Fußgängerzonen über die Prostitution - möbliert werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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