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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2019

Wunderbare Liebestäuschung
Der Mumiendieb: Carlos Franz zeigt Charles Darwin als Romantiker

"Denn was wäre schon diese Revolution / ohne eine allgemeine Kopulation", singt der Chor der Irren in Peter Weiss' Drama "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats", das wie kein anderer literarischer Text die Kulturrevolution von 1968 vorwegnahm und die sexuellen Obsessionen jener Jahre auf den Punkt brachte. "Dass dies eine Welt von Leibern ist", doziert der Marquis de Sade, "von diesen Körperöffnungen, die dazu da sind, daß man sich in sie verhakt und verschlingt", und sein Gegenspieler Marat unterstellt der Sinnlosigkeit einen revolutionären Sinn, indem er dieses für richtig und jenes für falsch erklärt. Daran musste ich denken bei der Lektüre von Carlos Franz' episch ausuferndem Buch "Das Quartett der Liebenden", das eine Generation nach Marat/Sade ebenfalls zwei berühmte Männer auf die Romanbühne bringt: Charles Darwin, der auf seiner Weltumseglung an Bord der "Beagle" 1834 in Chile Station macht, und den aus Augsburg stammenden Maler Moritz Rugendas, der von Mexiko bis Feuerland Südamerika durchstreift.

Die Protagonisten könnten unterschiedlicher nicht sein: Der junge Darwin gab das Medizinstudium auf, weil er kein Blut sehen konnte, und reiste, um später Landpfarrer zu werden, auf eigene Kosten um die Welt. Doch statt die Wahrheit der biblischen Schöpfungsgeschichte zu beweisen, untergrub er die Fundamente des Glaubens mit ketzerischen Ideen, vor deren Konsequenz er selbst zurückschreckte. Wie Rugendas war er durch Alexander von Humboldt inspiriert, aber während Darwin wider Willen zu Schlussfolgerungen gelangte, die über sein Vorbild hinausgingen, entfernte der Deutsche sich von seinem Mentor und Förderer, indem er Südamerika so malte, wie er es sah, statt, wie von Humboldt gewünscht, landestypische Pflanzen und Tiere zu porträtieren. Und als wäre das nicht genug, verlieben sich beide in Valparaiso in die junge Frau eines Veteranen des Unabhängigkeitskriegs, die, um ihre Mitbürger zu schockieren, Rugendas und Darwin einlädt, öffentlich über Liebe und Leidenschaft zu diskutieren: "Wollen Sie etwa behaupten, die Liebe sei nur eine Spiegelung, ein Trugbild, das durch die fleischliche Begierde erzeugt wird?", fragt Rugendas Darwin. Und der antwortet: "Ja, sie ist eine wunderbare Täuschung, die die Natur uns bietet, um uns dazu anzuspornen, unsere Art zu vermehren."

Philosophische Debatten sind selten in der zeitgenössischen Literatur, und allein schon dieses Streitgespräch macht das Buch von Carlos Franz zu einem Meilenstein postmodernen Erzählens, lehrreich und unterhaltsam zugleich. Die Entwicklung des Malers Rugendas vom Illustrator wissenschaftlicher Werke zum Künstler, der auf eigenen Beinen steht, ist für sich genommen ein faszinierender Romanstoff, ebenso wie die Wandlung des jungen Darwin vom bibelfesten Christen zum Entdecker der Evolution durch natürliche Auslese. Statt diese Erzählfäden aufzudröseln, hat Carlos Franz aber eine Liebesgeschichte geschrieben, genauer gesagt: eine hybride Mischung aus Mantel- und Degenroman und love story, anknüpfend an illustre Vorbilder vom "Werther" bis zur "Kartause von Parma", deren Autor, Henri Beyle alias Stendhal, dem Maler Rugendas in Paris begegnet.

Der deutsche Titel "Das Quartett der Liebenden" ist insofern irreführend, als es sich um eine Dreiecksbeziehung handelt, ein Liebestrio, dessen Verlierer, der Kriegsveteran und betrogene Ehemann, am Ende glaubwürdiger wirkt als der jugendliche Held.

"Wenn du dich mit meinen Augen sähest", schrieb Frida Kahlo über den Maler Diego Rivera, der sie mit anderen Frauen betrog, und so lautet der Originaltitel des vorliegenden Buchs. Ein Liebesroman also, eine Achterbahnfahrt der Gefühle, und hier liegen die Stärken und Schwächen des mit Daten, Fakten und Lokalkolorit gesättigten Buchs. Der Text ist überorchestriert: vom nervenden Du, mit dem der Erzähler in raunendem Imperfekt den Helden anredet, bis zu bei Berührung steif werdenden Brustwarzen, von denen stets die Rede ist, wenn es das junge Paar zum Vollzug der Liebe drängt. Und wann immer Darwin auf den Picoroco zu sprechen kommt, den Krebs mit dem längsten Penis der Welt, oder Humboldt den Hintern seines Schülers Rugendas tätschelt, ist schwer auszumachen, ob es sich um Machogehabe handelt oder um die satirische Entlarvung sexistischer Klischees - oder um beides zugleich?

Höhepunkt des Romans, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, ist die auf einem Andengipfel spielende Szene, bei der Rugendas in einer Höhle seine Staffelei verheizt und mit dem gefriergetrockneten Fleisch einer Inka-Mumie eine Suppe kocht, die Darwin und ihm das Leben rettet. Selbst Mario Vargas Llosa, der Stifter des nach ihm benannten Literaturpreises, den Carlos Franz für das Buch erhalten hat, rügte in seiner lobenden Rezension des Romans diese Szene.

Was trotz solcher Ungereimtheiten mit dem Roman versöhnt, ist der überraschende Schluss, zusammen mit dem langen Atem des Erzählers, der den Spannungsbogen über fünfhundert Seiten hinweg hält, ohne je langweilig oder monoton zu werden. Sowie, last but not least, die Qualität von Lutz Kliches Übersetzung, die, auf Fußnoten und Kommentare verzichtend, die Bedeutungsnuancen des Originals kongenial und adäquat wiedergibt.

HANS CHRISTOPH BUCH

Carlos Franz: "Das Quartett der Liebenden". Roman.

Aus dem Spanischen von Lutz Kliche. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2019. 480 S., geb., 26,- [Euro].

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