Was unterscheidet den Verkauf vom Austausch von Gaben? Warum muß man eine Gabe annehmen, und warum muß man danach etwas zurückgeben? Scheinbar einfache Fragen. Aber wer sie beantwortet, ermöglicht einen Blick auf das, was eine Gesellschaft konstituiert. Wer zeigen kann, welche Funktion die Gabe für eine Gesellschaft hat, gewinnt - das haben Ethnologen wie Marcel Mauss und Claude Levi-Strauss eindrucksvoll gezeigt - tiefe Einblicke in ihre Struktur. Maurice Godelier entwirft in diesem Buch eine neue, umfassende Theorie der Gabe, deren Erklärungskraft auch für moderne Gesellschaften gültig ist. Dabei geht er nicht aus von den Dingen, die man verkauft oder die man gibt, sondern von denen, die man behält: vor allem von den heiligen Objekten. Indem er die Praktiken des Potlatch und des Kula, auf die Mauss sich gestützt hatte, neu analysiert, zeigt er, daß die Rätsel, mit denen Mauss konfrontiert war, sich auflösen lassen: Es ist durchaus möglich, Dinge zu geben und sie zugleich zubehalten. Gegeben wird das Nutzungsrecht, bewahrt wird das Eigentum. Freilich muß dann noch erklärt werden, warum man heilige Objekte nicht weggeben kann, und auch das tut Godelier auf eine luzide Weise. Am Ende bietet er nicht nur eine Erklärung des Phänomens der Gabe, sondern eine Gesellschaftstheorie. Jede Gesellschaft hat zwei Arten von Objekten: Die einen sind dem Austausch, dem Geben, dem Markt entzogen und bilden so den Fixpunkt, der erst ermöglicht, daß die anderen zirkulieren. Ohne ein solches Zentrum kann eine Gesellschaft nicht "funktionieren". Aber sind die modernen Gesellschaften nicht gerade davon bedroht, daß sich der Markt aller Dinge bemächtigt? - Welche Funktionen die Gaben (und das nicht Weggebbare) in einer Gesellschaft haben, ist mithin eine Frage, die nicht nur den Ethnologen angeht, sie ist von großer Bedeutung für das intakte Fortbestehen unserer modernen Gesellschaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Nein, den nicht, gebt mir einen anderen
Wieso kein Apfel die Götter freut / Von Wolfgang Sofsky
Anfangs zeigten sich die Götter noch freigebig. Sie schenkten den Menschen die Steine der Fruchtbarkeit, magische Heilpflanzen, Bambusflöten, Schwirrhölzer und Kupferplatten. Bis heute werden diese Gaben sorgsam verwahrt. Es sind Reliquien der Schöpfung, unentbehrliche Kultobjekte für die Rituale der Macht und der Initiation. Überladen mit Bedeutung sind die heiligen Gegenstände, begabt mit erhabener Schönheit. Noch immer sind die Geister und Götter in ihnen gegenwärtig. Wer sie besitzt, verfügt über Kräfte, die alle menschliche Geisteskraft übertreffen. Direkt kann er mit ihnen die Wege des Schicksals bestimmen. Keiner gibt sie aus der Hand, denn ihr Eigentum verbürgt legitime Macht und geheimes Wissen. Ihr Besitzer weiß, wer er ist und woher er kommt.
Niemand hatte seinerzeit die Götter um die Gaben gebeten. Die Geschenke waren freiwillig, ebenso wie der Akt der Schöpfung und die Stiftung der Kultur. Deshalb steht die Menschheit von Anbeginn in der Schuld von Mächten, die ihr die Welt als Erbe hinterlassen haben. Diese ursprüngliche Last ist niemals abzutragen, weder durch Gebete, Gehorsam oder Dankbarkeit noch durch das Opfer tierischen oder menschlichen Lebens. Nicht einmal das Blutopfer vermag die Schuld gegen die Götter zu tilgen. Die Menschen haben nichts Gleichwertiges einzutauschen. Was könnte die Gabe des Lebens, des Todes und der heiligen Güter vergelten? So sind sie auf Gedeih und Verderb in Religionen verstrickt. Denn Religion ist nichts anderes als die Schuld, welche die Menschen gegen die Götter haben. Jene sind die wahren Eigentümer der Welt, ihrer Dinge und Güter. Und sie existieren jenseits aller Wechselwirtschaft, jenseits aller Verträge und Tauschgeschäfte. Die Geister sind weder verpflichtet zu geben, noch sind sie angehalten, die Gaben der Menschen anzunehmen oder gar zu erwidern. Souveränität besteht nicht zuletzt darin, den Verpflichtungen des Austauschs enthoben zu sein. Daher versuchen wahrhaft Gläubige nicht nur, ihre Schulden zu begleichen. Insgeheim streben sie nach einer Welt ohne Schuld, in der es keine Geister und keinen Urheber der Welt mehr gibt.
Es sind Einsichten wie diese, welche Maurice Godeliers Studie über das Geben, Nehmen und Behalten einen unerwartet spekulativen Tiefsinn verleihen. Für Godelier, einen der bekanntesten Ethnologen Frankreichs, ist die Gabe nach wie vor der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft. Denn die Gabe schafft zugleich Macht und Solidarität. Indem der Geber seinen Besitz mit dem Empfänger teilt, macht er ihn zu seinem Schuldner. Freigebigkeit und Abhängigkeit, Zusammenhalt und Ungleichheit sind aufs Engste miteinander verknüpft.
So formt die Gabe die Ökonomie und die Moral, die Religion und die Verwandtschaft. Sie ist, nach einem Wort von Marcel Mauss, eine "totale soziale Tatsache", welche die Gesellschaft und ihre Institutionen in Gang hält. Nicht umsonst hat Godelier die erste Hälfte des Buches einer erneuten Lektüre von Mauss' klassischer Studie zum Gabentausch vorbehalten. Doch diese Lektüre ist mehr als ein kritischer Kommentar. Sie gleicht dem Abtragen einer intellektuellen Schuld bei den Vorfahren, mit den Mitteln der rhetorischen Überbietung allerdings. Allzu weitschweifig geraten die Erläuterungen zu Mauss, dem Urahn der komparativen Anthropologie, allzu wortreich fällt auch die neuerliche Abrechnung mit dem heimlichen Idealismus in Lévi-Strauss' Theorie der symbolischen Ordnung aus. Angesichts der enormen Vergeudung von Sätzen und Worten wünscht sich der Leser geradezu die knappe Diktion zurück, welche Mauss' klassischen Text auszeichnet.
Mauss hatten besonders die indianischen und melanesischen Gesellschaften des Potlatsch beeindruckt. Hier erwarb und behielt derjenige Macht und Prestige, der sich freigebiger erweisen konnte als seine Gegenspieler und daher aus der Rivalität der Verschwendung als Sieger hervorging. Beim Potlatsch gibt man, um den anderen auszustechen, ihn zu verschulden und seines Gesichts zu berauben. Der Eigentumskrieg ergibt sich jedoch nicht, so Godelier, aus einer imaginären "Seele der Dinge", sondern aus sozialen Voraussetzungen und Zwängen: aus dem Fehlen einer fest gefügten politischen Hierarchie und aus der Institution des Brautpreises, der Äquivalenz von Frauen und Dingen. Wie man durch das Geben von Reichtümern Frauen erwirbt, so erlangt man durch die Gabe kostbarer Dinge Macht und Ruhm. Wie die Götter dank ihrer Großzügigkeit die Menschen in Schuld und Abhängigkeit stürzten, so verliert derjenige Status und Ehre, der seinem Rivalen am Ende etwas schuldig bleibt.
Weit wichtiger als die Korrekturen an Mauss ist Godeliers Entdeckung der unveräußerlichen Güter, also jener Objekte, die weder verschenkt noch getauscht werden. In einer Fallstudie über die soziale, materielle und imaginäre Welt der Baruya in Neuguinea zeigt er, was sich im Innern eines heiligen Objektes verbirgt: die ursprünglichen Schöpferkräfte der Frauen, welche einst die Menschheit aus dem Zustand der Barbarei herausgeführt haben. Doch erst das Regime der Männer setzte im Wildwuchs der Schöpfung Recht und Ordnung durch. Sie stahlen den Frauen die heiligen Flöten, die zu machtvollen Insignien männlicher Fruchtbarkeit wurden und bis heute bei den Ritualen der Initiation erklingen, bei der Geburt des Mannes durch die Männer. Nun verfügen allein die männlichen Usurpatoren über die heiligen Objekte, in denen die geheime Erinnerung an den Ursprung der Welt aufbewahrt ist. Ihr Anblick löst Gefühle der Erhabenheit aus, ähnlich den Gemütsregungen, die den gläubigen Christen überkommen, wenn er das Antlitz des Herrn auf dem Grabtuch erblickt oder einen Holzsplitter des Kreuzes präsentiert bekommt.
Die letzte Quelle der Macht sind die heiligen Objekte. Ihr Besitz zeugt von den engen Beziehungen des Eigentümers zu den Ahnen und Göttern. Sie legitimieren die Privilegien des Clans, des Männerbundes oder eines Individuums. Wie Fetische wirken die Gaben der Götter. Sie kaschieren den menschlichen Ursprung der gesellschaftlichen Ordnung, machen sie unantastbar, entziehen sie der Veränderung. Wie der Austausch der Waren als selbständige Zirkulationsbewegung der Dinge erscheint, so verkörpern die heiligen Objekte eine scheinbar autonome Geistermacht. Godelier rückt auch den Dingen, die dem Markt entzogen bleiben, mit den Kategorien der marxschen Wertanalyse auf den Leib. Das Heilige - eine systematische Selbsttäuschung über die eigene Herkunft; die Götter - nichts als Doppelgänger der Menschen; die Kultobjekte - Talismane der Macht. Der Fetischcharakter der Ware gilt auch für die Güter der Verehrung. Und deshalb kann Godelier auch unbeirrt am kritischen Programm der Sozialwissenschaften festhalten. Ihre vornehmste Aufgabe liegt darin, den Menschen an den Anfang seiner selbst zu stellen und ihn von seinen Illusionen zu befreien. Nach ihrer Entzauberung hat sich der Stellenwert der Gabe gewandelt. In modernen Marktgesellschaften ist alles zu verkaufen. Der Strudel der Zirkulationen reißt auch die kostbaren Gegenstände mit sich. Die Gabe ist kein notwendiges Mittel mehr, um die sozialen Grundstrukturen zu reproduzieren. Jenseits von Markt und Staat existiert sie lediglich in den Nischen des Privaten. Aber mittlerweile tragen auch private Geschenke längst das Stigma des Tauschwerts. Ob Barmherzigkeit und Mildtätigkeit, die Gaben ohne Gegenleistung, tatsächlich an Bedeutung gewinnen, wie Godelier vermutet, erscheint zweifelhaft. Und dass Almosen die Ausgeschlossenen und Überflüssigen beim Warten auf bessere Zeiten trösten werden, ist wenig wahrscheinlich. Von der Gabe ist nicht alles zu erwarten. Nur die Götter haben einst alles gegeben - weil sie keine Menschen waren.
Maurice Godelier: "Das Rätsel der Gabe". Geld, Geschenke, heilige Objekte. Aus dem Französischen von Martin Pfeiffer. Verlag C. H. Beck, München 1999. 308 S., geb., 68,- DM.
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Wieso kein Apfel die Götter freut / Von Wolfgang Sofsky
Anfangs zeigten sich die Götter noch freigebig. Sie schenkten den Menschen die Steine der Fruchtbarkeit, magische Heilpflanzen, Bambusflöten, Schwirrhölzer und Kupferplatten. Bis heute werden diese Gaben sorgsam verwahrt. Es sind Reliquien der Schöpfung, unentbehrliche Kultobjekte für die Rituale der Macht und der Initiation. Überladen mit Bedeutung sind die heiligen Gegenstände, begabt mit erhabener Schönheit. Noch immer sind die Geister und Götter in ihnen gegenwärtig. Wer sie besitzt, verfügt über Kräfte, die alle menschliche Geisteskraft übertreffen. Direkt kann er mit ihnen die Wege des Schicksals bestimmen. Keiner gibt sie aus der Hand, denn ihr Eigentum verbürgt legitime Macht und geheimes Wissen. Ihr Besitzer weiß, wer er ist und woher er kommt.
Niemand hatte seinerzeit die Götter um die Gaben gebeten. Die Geschenke waren freiwillig, ebenso wie der Akt der Schöpfung und die Stiftung der Kultur. Deshalb steht die Menschheit von Anbeginn in der Schuld von Mächten, die ihr die Welt als Erbe hinterlassen haben. Diese ursprüngliche Last ist niemals abzutragen, weder durch Gebete, Gehorsam oder Dankbarkeit noch durch das Opfer tierischen oder menschlichen Lebens. Nicht einmal das Blutopfer vermag die Schuld gegen die Götter zu tilgen. Die Menschen haben nichts Gleichwertiges einzutauschen. Was könnte die Gabe des Lebens, des Todes und der heiligen Güter vergelten? So sind sie auf Gedeih und Verderb in Religionen verstrickt. Denn Religion ist nichts anderes als die Schuld, welche die Menschen gegen die Götter haben. Jene sind die wahren Eigentümer der Welt, ihrer Dinge und Güter. Und sie existieren jenseits aller Wechselwirtschaft, jenseits aller Verträge und Tauschgeschäfte. Die Geister sind weder verpflichtet zu geben, noch sind sie angehalten, die Gaben der Menschen anzunehmen oder gar zu erwidern. Souveränität besteht nicht zuletzt darin, den Verpflichtungen des Austauschs enthoben zu sein. Daher versuchen wahrhaft Gläubige nicht nur, ihre Schulden zu begleichen. Insgeheim streben sie nach einer Welt ohne Schuld, in der es keine Geister und keinen Urheber der Welt mehr gibt.
Es sind Einsichten wie diese, welche Maurice Godeliers Studie über das Geben, Nehmen und Behalten einen unerwartet spekulativen Tiefsinn verleihen. Für Godelier, einen der bekanntesten Ethnologen Frankreichs, ist die Gabe nach wie vor der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft. Denn die Gabe schafft zugleich Macht und Solidarität. Indem der Geber seinen Besitz mit dem Empfänger teilt, macht er ihn zu seinem Schuldner. Freigebigkeit und Abhängigkeit, Zusammenhalt und Ungleichheit sind aufs Engste miteinander verknüpft.
So formt die Gabe die Ökonomie und die Moral, die Religion und die Verwandtschaft. Sie ist, nach einem Wort von Marcel Mauss, eine "totale soziale Tatsache", welche die Gesellschaft und ihre Institutionen in Gang hält. Nicht umsonst hat Godelier die erste Hälfte des Buches einer erneuten Lektüre von Mauss' klassischer Studie zum Gabentausch vorbehalten. Doch diese Lektüre ist mehr als ein kritischer Kommentar. Sie gleicht dem Abtragen einer intellektuellen Schuld bei den Vorfahren, mit den Mitteln der rhetorischen Überbietung allerdings. Allzu weitschweifig geraten die Erläuterungen zu Mauss, dem Urahn der komparativen Anthropologie, allzu wortreich fällt auch die neuerliche Abrechnung mit dem heimlichen Idealismus in Lévi-Strauss' Theorie der symbolischen Ordnung aus. Angesichts der enormen Vergeudung von Sätzen und Worten wünscht sich der Leser geradezu die knappe Diktion zurück, welche Mauss' klassischen Text auszeichnet.
Mauss hatten besonders die indianischen und melanesischen Gesellschaften des Potlatsch beeindruckt. Hier erwarb und behielt derjenige Macht und Prestige, der sich freigebiger erweisen konnte als seine Gegenspieler und daher aus der Rivalität der Verschwendung als Sieger hervorging. Beim Potlatsch gibt man, um den anderen auszustechen, ihn zu verschulden und seines Gesichts zu berauben. Der Eigentumskrieg ergibt sich jedoch nicht, so Godelier, aus einer imaginären "Seele der Dinge", sondern aus sozialen Voraussetzungen und Zwängen: aus dem Fehlen einer fest gefügten politischen Hierarchie und aus der Institution des Brautpreises, der Äquivalenz von Frauen und Dingen. Wie man durch das Geben von Reichtümern Frauen erwirbt, so erlangt man durch die Gabe kostbarer Dinge Macht und Ruhm. Wie die Götter dank ihrer Großzügigkeit die Menschen in Schuld und Abhängigkeit stürzten, so verliert derjenige Status und Ehre, der seinem Rivalen am Ende etwas schuldig bleibt.
Weit wichtiger als die Korrekturen an Mauss ist Godeliers Entdeckung der unveräußerlichen Güter, also jener Objekte, die weder verschenkt noch getauscht werden. In einer Fallstudie über die soziale, materielle und imaginäre Welt der Baruya in Neuguinea zeigt er, was sich im Innern eines heiligen Objektes verbirgt: die ursprünglichen Schöpferkräfte der Frauen, welche einst die Menschheit aus dem Zustand der Barbarei herausgeführt haben. Doch erst das Regime der Männer setzte im Wildwuchs der Schöpfung Recht und Ordnung durch. Sie stahlen den Frauen die heiligen Flöten, die zu machtvollen Insignien männlicher Fruchtbarkeit wurden und bis heute bei den Ritualen der Initiation erklingen, bei der Geburt des Mannes durch die Männer. Nun verfügen allein die männlichen Usurpatoren über die heiligen Objekte, in denen die geheime Erinnerung an den Ursprung der Welt aufbewahrt ist. Ihr Anblick löst Gefühle der Erhabenheit aus, ähnlich den Gemütsregungen, die den gläubigen Christen überkommen, wenn er das Antlitz des Herrn auf dem Grabtuch erblickt oder einen Holzsplitter des Kreuzes präsentiert bekommt.
Die letzte Quelle der Macht sind die heiligen Objekte. Ihr Besitz zeugt von den engen Beziehungen des Eigentümers zu den Ahnen und Göttern. Sie legitimieren die Privilegien des Clans, des Männerbundes oder eines Individuums. Wie Fetische wirken die Gaben der Götter. Sie kaschieren den menschlichen Ursprung der gesellschaftlichen Ordnung, machen sie unantastbar, entziehen sie der Veränderung. Wie der Austausch der Waren als selbständige Zirkulationsbewegung der Dinge erscheint, so verkörpern die heiligen Objekte eine scheinbar autonome Geistermacht. Godelier rückt auch den Dingen, die dem Markt entzogen bleiben, mit den Kategorien der marxschen Wertanalyse auf den Leib. Das Heilige - eine systematische Selbsttäuschung über die eigene Herkunft; die Götter - nichts als Doppelgänger der Menschen; die Kultobjekte - Talismane der Macht. Der Fetischcharakter der Ware gilt auch für die Güter der Verehrung. Und deshalb kann Godelier auch unbeirrt am kritischen Programm der Sozialwissenschaften festhalten. Ihre vornehmste Aufgabe liegt darin, den Menschen an den Anfang seiner selbst zu stellen und ihn von seinen Illusionen zu befreien. Nach ihrer Entzauberung hat sich der Stellenwert der Gabe gewandelt. In modernen Marktgesellschaften ist alles zu verkaufen. Der Strudel der Zirkulationen reißt auch die kostbaren Gegenstände mit sich. Die Gabe ist kein notwendiges Mittel mehr, um die sozialen Grundstrukturen zu reproduzieren. Jenseits von Markt und Staat existiert sie lediglich in den Nischen des Privaten. Aber mittlerweile tragen auch private Geschenke längst das Stigma des Tauschwerts. Ob Barmherzigkeit und Mildtätigkeit, die Gaben ohne Gegenleistung, tatsächlich an Bedeutung gewinnen, wie Godelier vermutet, erscheint zweifelhaft. Und dass Almosen die Ausgeschlossenen und Überflüssigen beim Warten auf bessere Zeiten trösten werden, ist wenig wahrscheinlich. Von der Gabe ist nicht alles zu erwarten. Nur die Götter haben einst alles gegeben - weil sie keine Menschen waren.
Maurice Godelier: "Das Rätsel der Gabe". Geld, Geschenke, heilige Objekte. Aus dem Französischen von Martin Pfeiffer. Verlag C. H. Beck, München 1999. 308 S., geb., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieses Buch Godeliers knüpft nach Wolfgang Sofsky an die klassischen ethnologische Arbeiten von Marcel Mauss zum Thema der Gabe an. Mauss habe die Gabe als eine "totale soziale Tatsache" beschrieben - und so halte es auch Godelier. Die Gabe, das Geschenk ohne Gegenleistung, die den Beschenkten gegenüber dem Geber in die Schuld stellt - sie sei bei Godelier schon als ursprüngliche Struktur der Religion verstanden: Die Welt als Gabe der Götter, und die Menschen als ihre ewigen Schuldner. Als "letzte Quelle der Macht" schildere Godelier darum die heiligen Objekte, also jene Objekte, die niemals verschenkt werden können. Die Passagen zu Mauss schildert Sofsky als "allzu wortreich", aber mit dem Rest des Buchs scheint er sich anfreunden zu können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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