Das "Recht der Freiheit" ist der Versuch, eine andere Theorie der Gerechtigkeit zu schreiben: eine, die nicht auf abstrakte normative Prinzipien fixiert ist, sondern die heute maßgeblichen Kriterien sozialer Gerechtigkeit direkt aus jenen normativen Ansprüchen gewinnt, die sich innerhalb der westlichen, liberaldemokratischen Gesellschaften herausgebildet haben. Zusammen machen sie das aus, was Axel Honneth "demokratische Sittlichkeit" nennt. Im Geiste von Hegels Rechtsphilosophie und unter anerkennungstheoretischen Vorzeichen zeigt er, wie in konkreten gesellschaftlichen Bereichen die Prinzipien individueller Freiheit generiert werden, die die Richtschnur für Gerechtigkeit bilden. Das Ziel des Buches ist ein höchst anspruchsvolles: die Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse neu zu begründen.
»Das Kunststück, dem angeblich preußischen Staatsphilosophen (Hegel) Grundlagen moderner Gesellschaftskritik zu entnehmen, ist Honneth ... überzeugend gelungen.« Ludwig Siep DIE ZEIT 20110818
»Ein eindrucksvoller Versuch, die individuelle Freiheit zur Richtschnur von Gerechtigkeit zu machen.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2011Frei macht, was ohnehin geschieht
Ist es zwingend, das "Soziale" so affirmativ zu behandeln, wie Axel Honneth es tut? Sein neues Buch enttäuscht philosophisch und soziologisch, weil es die Trennung von Sein und Sollen ablehnt.
Eine der größten Beschränkungen, an denen die politische Philosophie heute leidet, ist die Abkoppelung von der Gesellschaftsanalyse und damit die Fixierung auf rein normative Prinzipien." Axel Honneths neues Buch, das so beginnt, will diesem Mangel mit einer soziologisch informierten Demokratietheorie in der Nachfolge Hegels abhelfen. Die Fronten sind schon mit dem Eingangssatz entworfen: Gegen einen kantischen Normativismus von Theoretikern wie Rawls und Habermas setzt Honneth das Programm einer realitätsgesättigten normativen Rekonstruktion: Normen sind nicht a priori zu deduzieren, sie müssen aus den Reproduktionsbedingungen sozialer Praxis rekonstruiert werden.
Gegen einen normativen Individualismus entwirft Honneth ein Konzept sozialer Freiheit, in der der Mensch Selbstbestimmung nur in Gemeinschaft vollziehen kann. Das "Recht der Freiheit" erfüllt dieses Programm innerhalb einer imposanten Theoriearchitektur, die sich auf drei ihrerseits triadisch gegliederten Ebenen erhebt: von einer einleitenden historischen Rekonstruktion des Freiheitsbegriffs über die "Möglichkeit der Freiheit" in Recht und Moralität zur "Wirklichkeit der Freiheit" in den Formen persönlicher Beziehungen, wie Freundschaft und Liebe, in Austauschbeziehungen des Marktes und schließlich der demokratischen Politik.
Der Anspruch des Buches ist hoch, und warum nicht in der eher zu bescheidenen akademischen Philosophie in Deutschland? In jedem Fall ist es den Versuch wert, vom Begriff der Freiheit mehr zu verlangen, als es die politische Theorie üblicherweise tut. Viele Gründe zur Vorfreude also, die die gewisse Enttäuschung des Rezensenten miterklären mögen.
Dies gilt nicht für den ersten Hauptteil, eine luzide historische Darstellung des Freiheitsbegriffs aus der Perspektive der eigenen Konzeption. Sie kann als ein eigenes wichtiges Buch gelesen werden und bestätigt die Einsicht, dass Philosophen die besten Philosophiehistoriker sind.
Systematische Konturen bekommt die Theorie im zweiten Teil, in dem Honneth sich der Rekonstruktion von Recht und Moral zuwendet. Beide sind für ihn negative Vehikel. Sie schaffen Räume, um bestehende soziale Praktiken zu schützen und zu überprüfen. Sie reichen jedoch nicht hin, um neue Formen der Vergemeinschaftung zu schaffen. Recht und Moral ermöglichen Freiheit, aber verwirklichen kann sie sich in ihnen nicht. Stärker wäre diese These geraten, hätte Honneth sie mit weniger Abneigung gegenüber Recht und Moral und mehr Interesse an Gegenpositionen formuliert. Ob Recht gar "Einstellungen und Verhaltenspraktiken fördert, die einer Ausübung der von ihm geschaffenen Freiheit gerade im Weg stehen", bleibt die Frage.
Zudem schneidet Honneth Recht (und Moral) mit dieser Konstruktion vollständig von den sozialen Zusammenhängen ab, denen sie entstammen. Sie werden so auch ihrer expressiven Bedeutung für eine Gemeinschaft beraubt: Dieser Bedeutung wegen heiraten auch solche Paare, die sich lieben, weil sie sich lieben. Ihretwegen sehnen sich Paare, die nicht heiraten dürfen, nach einer Anerkennung durch Recht.
Im dritten und längsten Teil des Buches stellt sich dieser Einwand umgekehrt: Ist es zwingend, das "Soziale" so affirmativ zu behandeln, wie Honneth es tut? Sein Verständnis sozialer Freiheit, in der sich die Subjekte wechselseitig anerkennen und die eigenen Handlungsvollzüge auch als Bedingung der Handlungsvollzüge anderer erkennen, ist rein normativ. Seine Kritik an der Zerstörung sozialer Beziehungen durch Recht und Moral setzt aber einfach die Realität sozialer Beziehungen mit dieser normativen Bestimmung gleich. Dass die Degeneration des Sozialen aus ihm selbst kommen kann, in Familien wie in Märkten, lässt sich mit Honneths Theorie schwerlich erklären. Niemand dürfte Honneths Lob der Liebe, der Familie oder der Freundschaft widersprechen wollen. Aber wie geht eine Theorie, die die Trennung von Sein und Sollen ablehnt, damit um, dass es um das Sein der favorisierten Institutionen nicht mehr gut bestellt ist?
Deutlich wird dieses Problem an seiner Rekonstruktion des Marktes. Wenn Honneth "nüchtern konstatiert", dass das Konsumverhalten im Kapitalismus kein "Baustein demokratischer Sittlichkeit" geworden ist, so ist dem wie vielem in einem an Pointen eher armen Buch schwer zu widersprechen - was aber bedeutet diese Negativbilanz für die eigene Theorie? Warum ist der Markt eine Institution der Wirklichkeit der Freiheit, obwohl Honneths Vorstellung davon, wie ein Markt funktionieren soll, jedenfalls aus sich heraus niemals wirklich geworden ist?
Etwas enttäuschend bleiben die langen Überlegungen zur Demokratietheorie. Sie bestehen zu größten Teilen aus einer Rekonstruktion der sozialen und politischen Geschichte Europas. Wer sich auskennt, dürfte hier wenig Neues finden. Die Rekonstruktion folgt dabei konsequent einem Schema, in dem das positiv konnotierte Soziale mit schlechten Institutionen konfrontiert wird, so, als hätten beide nichts miteinander zu tun. 1914 war "das Kaiserreich" in der Lage, "große Bevölkerungsteile für die politischen Kriegsziele zu mobilisieren". Nach 1933 wurde "die demokratische Mehrheit alsbald in die Schrecknisse eines von Deutschland ausgelösten Weltkrieges hineingezogen". Das Soziale in Form der Bevölkerung, scheint es, can do no wrong, es wird vom Staat verführt.
Unsere Gegenwart bewertet Honneth streng, ohne dass sich dies stets aus der normativen Rekonstruktion herleiten ließe: Die europäische Integration ist "gescheitert", die demokratische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik weitgehend am Ende: "Während vor achtzig bis hundert Jahren aus der Öffentlichkeit heraus noch konkrete Vorgänge namhaft gemacht werden konnten, ... scheint sich heute eine solche Voreingenommenheit staatlichen Handelns zugunsten kapitalistischer Verwertungsbedingungen gänzlich dem öffentlichen Blick zu entziehen, weil die erforderlichen Rücksichtnahmen in den parlamentarischen Körperschaften entweder gar nicht mehr thematisiert oder im Ernstfall unter Verweis auf Sachzwänge gerechtfertigt werden." Besser als heute war es also zwischen 1911 und 1931 in Deutschland, als die Öffentlichkeit noch Bescheid wusste. Hier irritiert mehr noch als das schwer nachvollziehbare Urteil die fehlende Neugierde auf gewandelte Bedingungen demokratischer Deliberation.
Der Ertrag des Demokratiekapitels besteht in der systematischen Erarbeitung von Funktionsbedingungen demokratischer Öffentlichkeit: Neben rechtlichen Garantien und einem gemeinsamen Kommunikationsraum mit Massenmedien bedürfen sie auch eines uneigennützigen Engagements der Beteiligten, ja ihrer Bereitschaft, private Bedürfnisse hintanzustellen. Eine Integration der anderen Elemente wirklicher Freiheit in dieses Demokratiekonzept gibt es nicht, ihr Zusammenhang wird zum Schluss postuliert: "Die Gesellschaftsmitglieder sind umso gleichberechtigter, selbstbewusster und ungezwungener in die öffentliche Willensbildung einbezogen, je weiter die Verwirklichung von sozialer Freiheit in den persönlichen Beziehungen und im wirtschaftlichen Marktverkehr bereits fortgeschritten ist." Hatten die besten Demokraten wirklich immer die glücklichsten Beziehungen? Widersprüche als Treibstoff einer Entwicklung zur Freiheit finden sich in dieser harmonischen Konzeption nicht.
Hegels Theorie bezog ihre Stärke aus ihrer Distanz zu moralischen Urteilen, ihrem Interesse an Institutionen, ihrem geschichtsphilosophischen Drive und einem begriffsgeleiteten Gegenwartshunger, der uns heute bei Denkern wie Habermas und Luhmann fasziniert. Wer solches in diesem voluminösen Band sucht, wird zu selten fündig: Das "Recht der Freiheit" orientiert sich nicht an Hegels Philosophie des Rechts, sondern an Honneths berühmter, aber kaum weiterentwickelten Deutung der Theorie des Selbstbewusstseins in Hegels "Phänomenologie". Diese wird auf die Ebene der politischen Theorie verlagert: Politik als verallgemeinerte gelungene Zweierbeziehung scheint das Ideal. Gegenwartsanalysen gehen in langen historischen Rekonstruktionen unter. Drei defensive Seiten über das Internet und pauschale Bemerkungen zum Stand der europäischen Integration bestärken den Eindruck eines Werks, das zur Zeit nach 1989 wenig zu sagen hat. Hegel konnte im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts seine Rekonstruktion an eine Institution knüpfen, die ihre besten Zeiten noch vor sich hatte, den Staat. Die von Honneth idealisierten sozialen Interaktionen werden dagegen in ihrem normativen Gehalt nicht historisiert.
Nach Hunderten von Seiten geschichtlicher Darstellung zu Familie, Markt und Staat bestätigt sich der Verdacht des Lesers, dass alles, was für Honneth an diesen Formen normativ gehaltvoll ist, seinerseits keinem Wandel zugänglich ist. Ob mit Hegel oder ohne: Das methodische Programm im ersten Satz dieses Buches lautete anders.
CHRISTOPH MÖLLERS.
Axel Honneth: "Das Recht der Freiheit". Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 628 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist es zwingend, das "Soziale" so affirmativ zu behandeln, wie Axel Honneth es tut? Sein neues Buch enttäuscht philosophisch und soziologisch, weil es die Trennung von Sein und Sollen ablehnt.
Eine der größten Beschränkungen, an denen die politische Philosophie heute leidet, ist die Abkoppelung von der Gesellschaftsanalyse und damit die Fixierung auf rein normative Prinzipien." Axel Honneths neues Buch, das so beginnt, will diesem Mangel mit einer soziologisch informierten Demokratietheorie in der Nachfolge Hegels abhelfen. Die Fronten sind schon mit dem Eingangssatz entworfen: Gegen einen kantischen Normativismus von Theoretikern wie Rawls und Habermas setzt Honneth das Programm einer realitätsgesättigten normativen Rekonstruktion: Normen sind nicht a priori zu deduzieren, sie müssen aus den Reproduktionsbedingungen sozialer Praxis rekonstruiert werden.
Gegen einen normativen Individualismus entwirft Honneth ein Konzept sozialer Freiheit, in der der Mensch Selbstbestimmung nur in Gemeinschaft vollziehen kann. Das "Recht der Freiheit" erfüllt dieses Programm innerhalb einer imposanten Theoriearchitektur, die sich auf drei ihrerseits triadisch gegliederten Ebenen erhebt: von einer einleitenden historischen Rekonstruktion des Freiheitsbegriffs über die "Möglichkeit der Freiheit" in Recht und Moralität zur "Wirklichkeit der Freiheit" in den Formen persönlicher Beziehungen, wie Freundschaft und Liebe, in Austauschbeziehungen des Marktes und schließlich der demokratischen Politik.
Der Anspruch des Buches ist hoch, und warum nicht in der eher zu bescheidenen akademischen Philosophie in Deutschland? In jedem Fall ist es den Versuch wert, vom Begriff der Freiheit mehr zu verlangen, als es die politische Theorie üblicherweise tut. Viele Gründe zur Vorfreude also, die die gewisse Enttäuschung des Rezensenten miterklären mögen.
Dies gilt nicht für den ersten Hauptteil, eine luzide historische Darstellung des Freiheitsbegriffs aus der Perspektive der eigenen Konzeption. Sie kann als ein eigenes wichtiges Buch gelesen werden und bestätigt die Einsicht, dass Philosophen die besten Philosophiehistoriker sind.
Systematische Konturen bekommt die Theorie im zweiten Teil, in dem Honneth sich der Rekonstruktion von Recht und Moral zuwendet. Beide sind für ihn negative Vehikel. Sie schaffen Räume, um bestehende soziale Praktiken zu schützen und zu überprüfen. Sie reichen jedoch nicht hin, um neue Formen der Vergemeinschaftung zu schaffen. Recht und Moral ermöglichen Freiheit, aber verwirklichen kann sie sich in ihnen nicht. Stärker wäre diese These geraten, hätte Honneth sie mit weniger Abneigung gegenüber Recht und Moral und mehr Interesse an Gegenpositionen formuliert. Ob Recht gar "Einstellungen und Verhaltenspraktiken fördert, die einer Ausübung der von ihm geschaffenen Freiheit gerade im Weg stehen", bleibt die Frage.
Zudem schneidet Honneth Recht (und Moral) mit dieser Konstruktion vollständig von den sozialen Zusammenhängen ab, denen sie entstammen. Sie werden so auch ihrer expressiven Bedeutung für eine Gemeinschaft beraubt: Dieser Bedeutung wegen heiraten auch solche Paare, die sich lieben, weil sie sich lieben. Ihretwegen sehnen sich Paare, die nicht heiraten dürfen, nach einer Anerkennung durch Recht.
Im dritten und längsten Teil des Buches stellt sich dieser Einwand umgekehrt: Ist es zwingend, das "Soziale" so affirmativ zu behandeln, wie Honneth es tut? Sein Verständnis sozialer Freiheit, in der sich die Subjekte wechselseitig anerkennen und die eigenen Handlungsvollzüge auch als Bedingung der Handlungsvollzüge anderer erkennen, ist rein normativ. Seine Kritik an der Zerstörung sozialer Beziehungen durch Recht und Moral setzt aber einfach die Realität sozialer Beziehungen mit dieser normativen Bestimmung gleich. Dass die Degeneration des Sozialen aus ihm selbst kommen kann, in Familien wie in Märkten, lässt sich mit Honneths Theorie schwerlich erklären. Niemand dürfte Honneths Lob der Liebe, der Familie oder der Freundschaft widersprechen wollen. Aber wie geht eine Theorie, die die Trennung von Sein und Sollen ablehnt, damit um, dass es um das Sein der favorisierten Institutionen nicht mehr gut bestellt ist?
Deutlich wird dieses Problem an seiner Rekonstruktion des Marktes. Wenn Honneth "nüchtern konstatiert", dass das Konsumverhalten im Kapitalismus kein "Baustein demokratischer Sittlichkeit" geworden ist, so ist dem wie vielem in einem an Pointen eher armen Buch schwer zu widersprechen - was aber bedeutet diese Negativbilanz für die eigene Theorie? Warum ist der Markt eine Institution der Wirklichkeit der Freiheit, obwohl Honneths Vorstellung davon, wie ein Markt funktionieren soll, jedenfalls aus sich heraus niemals wirklich geworden ist?
Etwas enttäuschend bleiben die langen Überlegungen zur Demokratietheorie. Sie bestehen zu größten Teilen aus einer Rekonstruktion der sozialen und politischen Geschichte Europas. Wer sich auskennt, dürfte hier wenig Neues finden. Die Rekonstruktion folgt dabei konsequent einem Schema, in dem das positiv konnotierte Soziale mit schlechten Institutionen konfrontiert wird, so, als hätten beide nichts miteinander zu tun. 1914 war "das Kaiserreich" in der Lage, "große Bevölkerungsteile für die politischen Kriegsziele zu mobilisieren". Nach 1933 wurde "die demokratische Mehrheit alsbald in die Schrecknisse eines von Deutschland ausgelösten Weltkrieges hineingezogen". Das Soziale in Form der Bevölkerung, scheint es, can do no wrong, es wird vom Staat verführt.
Unsere Gegenwart bewertet Honneth streng, ohne dass sich dies stets aus der normativen Rekonstruktion herleiten ließe: Die europäische Integration ist "gescheitert", die demokratische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik weitgehend am Ende: "Während vor achtzig bis hundert Jahren aus der Öffentlichkeit heraus noch konkrete Vorgänge namhaft gemacht werden konnten, ... scheint sich heute eine solche Voreingenommenheit staatlichen Handelns zugunsten kapitalistischer Verwertungsbedingungen gänzlich dem öffentlichen Blick zu entziehen, weil die erforderlichen Rücksichtnahmen in den parlamentarischen Körperschaften entweder gar nicht mehr thematisiert oder im Ernstfall unter Verweis auf Sachzwänge gerechtfertigt werden." Besser als heute war es also zwischen 1911 und 1931 in Deutschland, als die Öffentlichkeit noch Bescheid wusste. Hier irritiert mehr noch als das schwer nachvollziehbare Urteil die fehlende Neugierde auf gewandelte Bedingungen demokratischer Deliberation.
Der Ertrag des Demokratiekapitels besteht in der systematischen Erarbeitung von Funktionsbedingungen demokratischer Öffentlichkeit: Neben rechtlichen Garantien und einem gemeinsamen Kommunikationsraum mit Massenmedien bedürfen sie auch eines uneigennützigen Engagements der Beteiligten, ja ihrer Bereitschaft, private Bedürfnisse hintanzustellen. Eine Integration der anderen Elemente wirklicher Freiheit in dieses Demokratiekonzept gibt es nicht, ihr Zusammenhang wird zum Schluss postuliert: "Die Gesellschaftsmitglieder sind umso gleichberechtigter, selbstbewusster und ungezwungener in die öffentliche Willensbildung einbezogen, je weiter die Verwirklichung von sozialer Freiheit in den persönlichen Beziehungen und im wirtschaftlichen Marktverkehr bereits fortgeschritten ist." Hatten die besten Demokraten wirklich immer die glücklichsten Beziehungen? Widersprüche als Treibstoff einer Entwicklung zur Freiheit finden sich in dieser harmonischen Konzeption nicht.
Hegels Theorie bezog ihre Stärke aus ihrer Distanz zu moralischen Urteilen, ihrem Interesse an Institutionen, ihrem geschichtsphilosophischen Drive und einem begriffsgeleiteten Gegenwartshunger, der uns heute bei Denkern wie Habermas und Luhmann fasziniert. Wer solches in diesem voluminösen Band sucht, wird zu selten fündig: Das "Recht der Freiheit" orientiert sich nicht an Hegels Philosophie des Rechts, sondern an Honneths berühmter, aber kaum weiterentwickelten Deutung der Theorie des Selbstbewusstseins in Hegels "Phänomenologie". Diese wird auf die Ebene der politischen Theorie verlagert: Politik als verallgemeinerte gelungene Zweierbeziehung scheint das Ideal. Gegenwartsanalysen gehen in langen historischen Rekonstruktionen unter. Drei defensive Seiten über das Internet und pauschale Bemerkungen zum Stand der europäischen Integration bestärken den Eindruck eines Werks, das zur Zeit nach 1989 wenig zu sagen hat. Hegel konnte im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts seine Rekonstruktion an eine Institution knüpfen, die ihre besten Zeiten noch vor sich hatte, den Staat. Die von Honneth idealisierten sozialen Interaktionen werden dagegen in ihrem normativen Gehalt nicht historisiert.
Nach Hunderten von Seiten geschichtlicher Darstellung zu Familie, Markt und Staat bestätigt sich der Verdacht des Lesers, dass alles, was für Honneth an diesen Formen normativ gehaltvoll ist, seinerseits keinem Wandel zugänglich ist. Ob mit Hegel oder ohne: Das methodische Programm im ersten Satz dieses Buches lautete anders.
CHRISTOPH MÖLLERS.
Axel Honneth: "Das Recht der Freiheit". Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 628 S., geb., 34,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Freiheit als Vertrautsein mit der Welt. So definiert Christian Schlüter Freiheit nach Beendigung der Lektüre dieser für ihn im besten Sinne streitbaren Arbeit von Axel Honneth. Dankbar ist Schlüter dem Autor nicht nur für die Vergegenwärtigung einer in Vergessenheit geratenen Bedeutung der Freiheit. Honneths triadisch, im Rückgriff auf Hegel konzipierte Abhandlung bietet ihm neben dem seiner Meinung nach am besten gelungenen, begriffgeschichtlichen Teil eine Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Freiheit sowie eine weniger stark erscheinende Auseinandersetzung mit ihren Wirklichkeiten (Liebe, Internet). In den Zwischenräumen von Anspruch und Wirklichkeit sieht Schlüter den Autor kritisch Fahrt aufnehmen und schließlich zur welthaltigen, zur sozialen Dimension der Freiheit vorstoßen. Für Schlüter eine willkommene Umkehrung neoliberaler Vorstellungen von Freiheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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