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1500 Jahre Rechtsgeschichte
Der italienische Rechtshistoriker Paolo Grossi behandelt in seinem Werk eine Dimension der Geschichte, die häufig im Verborgenen bleibt: das Recht. In seinem umfassenden Überblick über 1500 Jahre Rechtsgeschichte beschreibt und vergleicht er die unterschiedlichen Rechtserfahrungen, die Europa seit dem frühen Mittelalter gemacht hat. Grossi fügt dabei die Geschichte des Rechts nicht einfach zu einer chronologischen, durchgängigen Erzählung zusammen, sondern betont die Diskontinuität der Entwicklung. Das Rechtssystem entfaltete sich in den einzelnen Epochen jeweils…mehr

Produktbeschreibung
1500 Jahre Rechtsgeschichte

Der italienische Rechtshistoriker Paolo Grossi behandelt in seinem Werk eine Dimension der Geschichte, die häufig im Verborgenen bleibt: das Recht. In seinem umfassenden Überblick über 1500 Jahre Rechtsgeschichte beschreibt und vergleicht er die unterschiedlichen Rechtserfahrungen, die Europa seit dem frühen Mittelalter gemacht hat.
Grossi fügt dabei die Geschichte des Rechts nicht einfach zu einer chronologischen, durchgängigen Erzählung zusammen, sondern betont die Diskontinuität der Entwicklung. Das Rechtssystem entfaltete sich in den einzelnen Epochen jeweils vor einem anderen Hintergrund und auf unterschiedlichen Grundlagen. Der Autor versucht daher jede Epoche als eigenständigen Moment in der Geschichte zu entschlüsseln. Zudem versteht Grossi unter Recht nicht nur Normen und Gesetze - Recht ist für ihn Mentalität und Kultur. Das Recht ordnet die Erfahrungen unseres täglichen Lebens und drückt sie aus. Es wird deutlich, daß das Rechteiner der prägenden Faktoren einer Gesellschaft ist.

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Autorenporträt
Paolo Grossi ist Professor für mittelalterliche und moderne Rechtsgeschichte an der Universität Florenz und Mitglied der Accademia dei Lincei in Rom. Er hat zahlreiche Werke zur europäischen Rechtsgeschichte veröffentlicht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2010

Gegen die Verrücktheiten der Mächtigen

Es gibt eine europäische Leitkultur, und das Recht ist nicht die schwächste Kraft, die diese Annahme mit Leben füllt: Das neue Buch des renommierten Rechtshistorikers Paolo Grossi beschreibt die Jahrhunderte währende Ausbildung eines juristischen Humanismus.

Das ist keine "Europäische Rechtsgeschichte", wie sie sich zu Zeiten, als die juristischen Grundlagenfächer noch geblüht haben und der Rechtsstoff noch nicht durch "Bologna-Reformen" zerschnipselt war, passabel verkauft und in eine moderne Juristenausbildung fugenlos eingepasst hätte - neben der "Römischen" oder der "Deutschen Rechtsgeschichte". Es ist auch kein Lehrbuch, schon gar keines für den Rechtsunterricht. Nein, es ist etwas ganz Anderes und viel Komplizierteres. Es will die Existenz Europas belegen und seine Gestalt beschreiben und erarbeitet beides an den Erscheinungsformen des europäischen Rechts; es ist "L'Europa del diritto" nach dem sinnfälligen italienischen Buchtitel oder, freier und näher an der Sache: Es ist "die europäische Rechtserfahrung". Europa ist der Gegenstand, das Recht ist die Brille, durch die man schaut.

Das Buch ist erschienen in der von Jacques Le Goff herausgegebenen und von fünf europäischen Verlagen beschickten Reihe "Europa bauen" und passt sich in deren Ziele ein. Der Reihe kommt es auf "Europa" an und nicht auf das Recht. Sie hat nicht eine Universalgeschichte im Sinn, sondern nähert sich ihrem Gegenstand "Europa" eher mit Exempeln, die den Gegenstand nicht nur konturieren, sondern die auch nachweisen wollen, dass es ihn gibt. Diese Exempel müssen also, wenn das Unternehmen gelingen soll, Europa zum Ausdruck bringen. Die bisher gewählten Zugänge zeigen, dass die Exempel großzügig ausgewählt sind; sie reichen von Frauen und Revolutionen über das Meer und die Familie bis zur Stadt, dem Hunger und dem Überfluss. Nun also das Recht als Zugang, als Baustein und als Zeuge für Europa, vorgestellt von Paolo Grossi, einem international anerkannten Rechtshistoriker.

Wer ein solches Buch schreibt, bewegt sich auf schmalen Grat. Er muss davon durchdrungen sein, dass gerade das Recht Europa konstituiert und kennzeichnet, und er muss dafür einleuchtende Beispiele finden. Er steht damit vor zwei Herausforderungen: Er muss etwa 1500 Jahre (Mittelalter, Moderne, Postmoderne nach Grossis Einteilung) auf weniger als 300 Seiten verständlich machen, und er muss Geschichte und Recht in ein Verhältnis zueinander setzen können, in dem das Recht gerade zu einem Bestimmungsfaktor Europas wird. Beiden Herausforderungen wird Grossi gerecht; der ersten mit Hilfe seiner glänzenden Rhetorik, der zweiten mit Hilfe seines Rechtsbegriffs. Die Rhetorik ist trotz der Knappheit des Raums ohne Hast, sie setzt kleine scharfe Lichter, die den Punkt hervorheben, gestattet sich gleichwohl auch ausführliche Zitate zur Vertiefung und Abrundung und lädt am Ende zu ausgedehnten Ausflügen in die Fachliteratur ein. Der Rechtsbegriff ist weit und anschlussfähig; er weist kaum eine menschliche Erfahrung ab, die auch eine Rechtserfahrung sein könnte, hat einen fundierten Respekt vor der juristischen Praxis und führt ohne Anstrengung zu benachbarten Gebieten wie Ökonomie, Naturwissenschaften oder Landwirtschaft. "Recht", wie es hier verstanden wird, ist ein weites Feld; es grenzt sowohl an den Alltag der Menschen als auch an die Vernunft der Institutionen; die Begrifflichkeit regt die Vorstellungskraft an, statt sie zu fesseln.

Mir gefällt das Buch schon deshalb außerordentlich, weil es zwei meiner Vor-Urteile auf den Feldern von "Europa" und "Recht" bedient. Sie lauten: Es gibt eine europäische Leitkultur, und das Recht ist nicht die schwächste Kraft, die diese Annahme mit Leben füllt. Auch wenn das Buch schon wegen der Schmalheit seines Formats nur hastige Blicke auf andere Weltkulturen werfen kann, wenn also die Grenzen Europas nicht systematisch gegen andere Rechtskulturen abgesteckt werden, so verdichten sich doch die Anzeichen, dass europäische Entwicklungen anders verlaufen sind als andere und dass das Recht daran entscheidend beteiligt war: Es gibt in Europa einen nur selten radikal unterbrochenen Strom an konsistenter Entwicklung der rechtlichen Grundsätze, nach denen man lebt; es bildet sich auf breiter und lange vorbereiteter Grundlage ein "juristischer Humanismus" heraus, der gegenüber Verrücktheiten der Mächtigen helfen kann; schon früh findet man Konstitutionalisierungen, in denen die verbindlichen Prinzipien festgehalten sind und die nicht nur in Abschriften aus religiösen Texten bestehen, sondern das weltliche Miteinander weltlich beurteilen und einrichten; ganze Etappen werden durch einen Juristenstand geprägt und getragen, der Kontakt hält zu Philosophie und Theologie und zu anderen Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft; das durchgearbeitete Normensystem, das dieser Juristenstand aufbaut, ordnet und zur Verfügung hält, macht Abstürze und abrupte Änderungen eher unwahrscheinlich und erhöht die Chance, dass sich das Recht gegen Staat und Gesellschaft notfalls behaupten und durchsetzen kann.

Freilich: In diesem Buch hätte ich gern noch weitergelesen und mehr gelernt - allerdings nicht nur über Pachtverträge und Schenkungen, über Landwirtschafts-, Handels- und Industriebetriebe oder über Testamente und Arbeitsverhältnisse, sondern auch über Verbrechen und Strafen, Steuern und Abgaben, Kriegs- und Frondienste, Überwachen und Foltern, also über denjenigen Teil der "Physiologie des Rechts", den man herkömmlich den "öffentlichen" nennt und neben den "bürgerlichen" stellt. Gerade das öffentliche Recht, einschließlich des Strafrechts, ist es doch, das auf "Europa" ein helles Licht wirft und auch auf den Alltag der Menschen unter dem Recht. Dieser Bereich kommt in dieser europäischen Geschichte nur ganz am Rande vor, und diese Unterbelichtung ist substantiell. Sie erstreckt sich nicht nur auf Praxen, Theorien, Systeme und Epochen, sondern auch auf Weisen des Denkens und Erlebens - also auch auf das, worauf Grossi mit Recht Wert legt. Gewiss haben wir die randvolle und tiefgründige Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland von Michael Stolleis, aber die verfolgt doch andere Ziele in einem anderen Format; dort lernt man etwas anderes, als man bei Grossi gern gelernt hätte.

Die Konzentration auf das bürgerliche Recht verkürzt dem Autor (und seinem Leser) auch den Zugriff auf die emphatischen Teile des Denkens und Redens über Recht, wie sie vor allem das Strafrecht kennzeichnen: die Ängste und Hoffnungen der Menschen, die scharfen Auseinandersetzungen um die Wichtigkeit und Richtigkeit der Gesetze, um Abtreibung, Landesverrat, Willensfreiheit und Todesstrafe. Die revolutionäre Kraft naturrechtlicher Konzepte bleibt ebenso blass wie die Herkunft des Sozialvertrags aus der erkenntnistheoretisch radikal begründeten Unmöglichkeit, weiterhin von einem überzeitlichen Recht zu sprechen und sich hinter ihm zu verstecken.

Gewiss verdankt sich diese Verkürzung des Blicks auf das Recht in Europa einem tieferen Grund: der fatalen Trennung zwischen bürgerlichem und öffentlichem Recht in den Forschungen der europäischen Rechtsgeschichte, und gewiss darf man nicht erwarten, ein so hochkonzentrierter Essay könne sie einfach überwinden. Also warten wir geduldig auf "Das öffentliche Recht in der europäischen Geschichte".

WINFRIED HASSEMER

Paolo Grossi: "Das Recht in der europäischen Geschichte".

Aus dem Italienischen von Gerhard Kuck. Verlag C.H. Beck, München 2010. 270 S., geb., 29,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Winfried Hassemer beurteilt diese Studie zum bürgerlichen Recht in Europa aus dezidiert subjektiver Perspektive. Offen und klar spricht er aus und begründet, was ihm gefällt und was nicht. Das ist sehr angenehm. Bei dem Buch des italienischen Rechtshistorikers handelt es sich demnach nicht um ein Lehrbuch oder eine Rechtsgeschichte im herkömmlichen Sinn. Vielmehr erkennt Hassemer klar die Aufgabenstellung, Europa durch die "Brille des Rechts" zu betrachten. Die Herausforderung, 1500 Jahre abzuhandeln und Geschichte und Recht in Bezug zueinander zu setzen, gelingt dem Autor laut Hassemer dank seiner rhetorischen wie rechtstheoretischen Befähigungen. Entstanden ist ein Buch, das sein Thema laut Rezensent ohne Hast und vermittels "kleiner scharfer Lichter", gelegentlicher Vertiefung und abrundender Fachliteraturausflüge behandelt. Was Hassemer sich wünscht, ist ein vergleichbar hochrangiger Blick auf das öffentliche Recht.

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