So pointiert und anregend lässt sich über den Justizalltag und die Geschichte des Rechts schreiben: Ein Band mit "Ausgewählten Schriften" der vor zwei Jahren verstorbenen Juristin und Kulturwissenschaftlerin Cornelia Vismann.
Ein Mann kommt zu einem Anwalt und sucht Rechtsrat. Der Anwalt, skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten, verweist auf einen Paragraphen, der gegen seinen Fall spricht. Der Mann weiß sich zu helfen: In einem unbemerkten Augenblick reißt er die Vorschrift aus dem Gesetzbuch, es ist das Badische Landrecht von 1810, und triumphiert innerlich über den gelungenen Coup. Dieses Hindernis beseitigt, bewegt er den Anwalt mit etwas Bestechungsgeld, die Sache doch vor Gericht zu bringen. Wie dieses wohl entscheiden wird?
Die 2010 verstorbene Juristin Cornelia Vismann verwendete diese Geschichte Johann Peter Hebels, "Der Prozess ohne Gesetz" betitelt, zweifach in ihrem Buch. Der Leser ihrer nun publizierten "Ausgewählten Schriften" begegnet ihr das erste Mal in dem Aufsatz "Aus den Akten, aus dem Sinn". Vismann illustriert mit der Anekdote die "Verwechslung von Material und Hermeneutik des Gesetzes". Die Logik des Verschwindens erzeugt beim Mann vom Land einen ihn zu Unrecht zuversichtlich stimmenden Rechtsirrtum, der ihn an sein Glück im Prozess glauben lässt. Das physische Gebilde des Gesetzbuchs suggeriert die Möglichkeit, dass die Vernichtung des Realen auch das unerwünschte Recht zumindest symbolisch löschen könnte. Die aufgezeichneten Daten haben indes ein Doppelleben, von dem der Rechtssuchende nichts weiß und das ihre Löschung überdauern wird.
Vismann hatte die Rechtspraxis nicht nur als Rechtsreferendarin am Berliner Kammergericht kennen gelernt. Auch später war sie zunächst einige Jahre praktizierende Anwältin, bevor sie sich der Wissenschaft zuwandte, wo sie wie niemand sonst Neugier am Recht, seiner Geschichte und seinen Medien zu kombinieren wusste. Schon die Referendarin führte ein Dossier, in dem sie Beobachtungen aus dem Justizalltag sammelte. Die Herausgeber ihrer "Ausgewählten Schriften" haben nun zwischen die Aufsätze einige jener bislang unveröffentlichten Notizen eingestreut.
Eine bestechende Idee, denn sie zeigen Vismanns Beobachtungsgabe, ihren Willen zur Verdichtung und vor allem die Fähigkeit, das scheinbar Selbstverständliche so zu schildern, dass es im Modus der Fremdheit neue Sichtweisen ermöglicht. Sie notierte die unterschiedliche Polsterung der Stühle, die Richtern, Angeklagten, Zeugen und Zuhörern zugestanden wurde. Sie beschäftigte sich mit den Gesichtsausdrücken der Bürger, die sich hoffnungslos in den labyrinthischen Justizpalästen verliefen und dann verspätet und sich schuldig fühlend in die Verhandlungen stolperten, und sie fragte, was uns das über die Verfasstheit der Justiz sagen könnte.
Für Vismann vollzog sich das Theater des Rechts täglich auf der Bühne noch jedes amtsgerichtlichen Sitzungssaals, wo kurzes stummes Nicken, eingeübte Gesten und Blicke über den Fortgang von Verfahren entschieden. Dass die Bürger von jenem Schauspiel in hintergründiger Weise ausgeschlossen waren, da dieses feste Rollen und stumme Absprachen kannte, die aus dem Verborgenen wirkten, war ihr eine jener Notizen wert, aus denen weder Anklage noch Staunen herauszulesen sind. Umso ernster war der Kern. Er barg neben wissenschaftlichen Fragen, denen sie sich in den kommenden zwei Jahrzehnten zuwenden würde, auch die Möglichkeit politischer Kritik, die sie aber meist nur fein andeutete. Vismanns Impetus war nicht das Anprangern, sondern der Wunsch, Mechanismen zu verstehen, die gerade die Selbstverständlichkeit des Justizalltags unsichtbar gemacht hatte.
Dass sie als Forscherin neue Wege beschreiten konnte, lag in der Neugier begründet, mit der sie diese Fragen stellte, und war der Systematik geschuldet, mit der sie ihnen nachging. Dadurch wurde Cornelia Vismann zu einer feinen Selbstdenkerin, die der Forschung nicht nur ein neues Feld erschloss, sondern auch methodisch und stilistisch Maßstäbe setzte. All dies kann man nun in den Aufsätzen wiederfinden. Man staunt, wie klar und sicher sie sich durch die Epochen bewegt; wie elegant sie ihre Argumente vorbringt und wie spannend sie auch jene Geschichten erzählen konnte, deren Umrisse längst akademisch kanonisiert worden waren.
Die Anordnung der Aufsätze zu vier Gruppen folgt klugerweise nicht der Chronologie ihrer Entstehung, und dennoch kann man mit Hilfe des Bandes eine intellektuelle Biografie nachzeichnen. Er enthält frühe Stücke, in denen sich Neigungen Vismanns abbilden, die interessanterweise nicht Eingang in ihre Medientheorie des Rechts fanden. Dort liest man kluge Beobachtungen über die frühneuzeitliche Technik und Ethik des Regierens und Verwaltens. Besonders lesenswerte Aufsätze ranken sich thematisch um ihre beiden Monografien "Akten. Medientechnik und Recht" (2001) sowie "Medien der Rechtsprechung" (2011). Die vielleicht stärksten Texte versammelt die zweite Gruppe des Bandes, "Verwaltungen: Nach den Akten". Es sind Aufsätze, die so kunstvoll und eindringlich mit der Ästhetik, Technik und Logik der Verwaltungsarbeit umgehen, dass sie als Vorbilder jeder wissenschaftlichen Essayistik dienen können.
Karteikarten, Postleitzahlenbücher und auch ein Schienenreißwolf kommen in einer wunderbaren Miniaturerzählung über die Arbeit auf dem Papier, die die Bürokratie im Kern ist, vor. In ihr geht es um den Wandel des politischen Geheimnisses, um die Erzählbarkeit der Staatsgeschichte und Durchstreichtechniken. Nebenbei erfährt man, wie das Rautenzeichen aus dem kreuzweisen Durchstreichen der mittelalterlichen Kanzleipraxis über die IBM-Lochkarten von 1928 bis auf die moderne Computertastatur gelangte.
Doch Vismanns Interesse galt seit jeher nicht nur den Genealogien der in der Entstehung des modernen Verwaltungsstaates erfolgreichen Techniken. Mindestens ebenso viel Faszination erwecken ihre Analysen des Scheiterns und der Paradoxien von Innovationen. Das Schicksal der Papierakten bewegte im Osten die Stasi-Opfer und im Westen jene Untersuchungsausschüsse, die sich mit den fehlenden Kanzleramtsakten der Ära Kohl herumschlugen. Vismann interessiert ihre Leser für Kategorien wie das "Privatdienstliche" und die Verteidigungsstrategien der Aktenvernichter, die juristisch eine individuelle und totale Verfügung über ihre Akten begehrten. Sie wollten sie aus der Welt schaffen.
"Löschung" aber bedeutet Verschiedenes - je nachdem, ob es sich um Papier oder Dateien handelt. In letzterem Fall muss wiederum zwischen dem Salvage-Modus ("Delete"-Taste) und dem Purge-Modus unterschieden werden. Nur dieses Purgatorium entfacht ein virtuelles Fegefeuer, das die Information unwiederbringlich löscht. Bürokratischer wie religiöser Kontext konvergieren hier. Vismann wendet die Aussicht auf Löschung ins Theologische: ",Aus den Akten, aus der Welt' enthält auch ein Versprechen der Rettung, wie unerfüllbar es am Ende auch sein mag."
Der Sinn für hintergründige Pointen, der aus diesen melancholischen Sätzen spricht, war bei Vismann gepaart mit einem Interesse an der Geschichte des Rechts, für das sie Neuland betrat. Sie zeigte praktisch und unterfütterte theoretisch, dass der Ausdruck "Kulturtechniken" in die Irre leitete, da ja doch jede Verrichtung zur Kultur führt und es demnach keine kulturlosen Techniken gibt, sondern nur die Möglichkeit einer techniklosen Welt, "über die ein Wort zu verlieren unmöglich ist, ohne nicht selbst schon wieder eine Kulturtechnik verwendet zu haben: die der Benennung aller Dinge, die daraus überhaupt erst handhabbare und damit auch erforschbare Sachen macht."
Auch die kommunikativen Akte vor Gericht sind insofern sprachbasiert und stumm zugleich, weil bestimmte, ihnen zugrunde liegende Regeln nicht notwendig mitgesagt werden. Das Verstehen des Verfahrens stößt an Grenzen, wo dem Laien das Prozessrecht verborgen bleibt. Auch Johann Peter Hebels Rechtsuchender gerät in eine solche Verfahrenssituation und von Hebels Pointe berichtet Vismann in ihrem zweiten Rekurs auf "Prozess ohne Gesetz". Mit seinem Anwalt gewinnt der Mann den Prozess, nachdem er die störende Seite aus dem Gesetzbuch gerissen hatte. Denn die Gegenseite war nicht zum Termin erschienen, in der Folge ergeht ein "VU", wie Vismann im Beitrag über "Versäumnisurteile und andere Unverständlichkeiten" nachträgt - und dieses schert sich nicht um den missliebigen Paragraphen.
MILOS VEC.
Cornelia Vismann: "Das Recht und seine Mittel". Ausgewählte Schriften.
Hrsg. von Markus Krajewski und Fabian Steinhauer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 539 S., geb., 24,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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