Warum wir nur denen vertrauen sollten, die etwas zu verlieren haben
Stehen wir für die Risiken ein, die wir verursachen? Zu viele der Menschen, die auf der Welt Macht und Einfluss haben, so Nassim Nicholas Taleb, müssen nicht wirklich den Kopf hinhalten für das, was sie tun und veranlassen. Intellektuelle, Journalisten, Bürokraten, Banker, ihnen vor allem wirft er vor, kein »Skin in the Game« zu haben. Weil sie den Preis nicht bezahlen müssen, wenn sie irren, fällen sie schlechte Entscheidungen. Taleb zeigt anhand vieler Beispiele, wie »Skin in the Game«, ein fundamentales Konzept des Risikomanagements, auf alle Bereiche unseres Lebens übertragen werden kann. Sein neues Buch, so provozierend und bahnbrechend wie »Der Schwarze Schwan«, fordert uns heraus, alles, was wir über Risiko und Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu wissen glauben, neu zu denken.
Stehen wir für die Risiken ein, die wir verursachen? Zu viele der Menschen, die auf der Welt Macht und Einfluss haben, so Nassim Nicholas Taleb, müssen nicht wirklich den Kopf hinhalten für das, was sie tun und veranlassen. Intellektuelle, Journalisten, Bürokraten, Banker, ihnen vor allem wirft er vor, kein »Skin in the Game« zu haben. Weil sie den Preis nicht bezahlen müssen, wenn sie irren, fällen sie schlechte Entscheidungen. Taleb zeigt anhand vieler Beispiele, wie »Skin in the Game«, ein fundamentales Konzept des Risikomanagements, auf alle Bereiche unseres Lebens übertragen werden kann. Sein neues Buch, so provozierend und bahnbrechend wie »Der Schwarze Schwan«, fordert uns heraus, alles, was wir über Risiko und Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu wissen glauben, neu zu denken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2018In der Haut eines Schwaflers
Idioten, Scharlatane, Mitläufer: Nassim Nicholas Taleb legt den nächsten Aufguss seiner Abrechnung mit dem Establishment vor und gefällt sich als Fürsprecher der neuen Rücksichtslosigkeit.
Wie minimiert ein Autor das Risiko eines Verrisses? Ganz einfach: Man sagt genau dies vorher und erklärt es zum Problem. Eine Abfuhr hat für Nassim Nicholas Taleb nämlich nie mit dem besprochenen Buch zu tun, wie inkohärent es auch zusammengestoppelt sein mag, sondern ausschließlich damit, dass die am Interesse der "echten Leser" stets vorbei greifenden Buchkritiker "willkürliche Gewalt" ausüben und "entweder freie Erfindungen von sich geben oder geistesgestört sind".
Nichts gegen furiose Kritikerschelten - man denke an den Rezensenten Goethe, der Rezensenten den Hundetod wünschte -, aber diese hier scheint doch ein wenig mickrig zu sein: "Sie können nicht begreifen, was sie nicht begreifen, weil sie nicht wirklich an einem aktiven, transaktionalen Leben teilhaben." Triste, risikoscheue Kellerbewohner also, diese Kritiker, des "Wolfs unter Hunden" nicht würdig. Ehrlose könnte man auch sagen, um im Geiste dieses Buchs zu bleiben.
Der folgende Text gibt dem erfrischend unprofessoralen und mathematisch vermutlich schwer begabten Essayisten sogar in gewisser Weise recht, denn er ignoriert den angeberisch wirkenden "Technischen Anhang". Die dort versammelten, komplexen Stochastik-Formeln lassen sich wohl nur von spezialisierten Mathematikern beurteilen. Klar ist aber auch, dass der Anhang nicht Talebs 350 Seiten voller Neo-Darwinismen, Invektiven, banaler Lebensklugheiten und krasser Selbstverliebtheit unangreifbar macht. Das holprig übersetzte, konfus strukturierte Buch ist ein schräger Genremix aus Anti-Establishment-Manifest, Eigenzitaten, Selbstbehauptungs-Ratgeber und Memoiren des weltbesten "Traders".
Und es ist Männlichkeitsfeier im kitschigen Sinn. Könige, die an vorderster Front sterben, werden ebenso angehimmelt wie deregulierte Märkte. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem wichtigen Bestseller "Der Schwarze Schwan", in dem Taleb vor extremen Konsequenzen höchst seltener Ereignisse warnte - was in der Weltfinanzkrise voll bestätigt zu werden schien -, kann der ehemalige Finanzunternehmer und polyglotte Autodidakt, der heute an der New York University lehrt, offenbar nicht damit aufhören, seine Annahmen in immer neuen Aufgüssen zu wiederholen.
In diesem Prozess ist ihm jedoch eine gewisse Lockerheit abhandengekommen. Kokettierte Taleb vor einigen Jahren noch philosophiehistorisch nobel mit dem Nichtwissen als höchster Form des Wissens, tritt er inzwischen als zähnefletschender Rächer auf, der sich im Begriff der Weltformel wähnt, aber an dem Umstand laboriert, dass die Welt einfach zu dumm ist, dies zu erkennen. Dass vieles in "Skin in the Game" an die Rhetorik des Donald Trump-Lagers erinnert (Hillary Clinton wird stets in Verbindung mit Monsanto und Korruption genannt), ist alles andere als Zufall: Disruption in sämtlichen Bereichen, allem voran in Wissenschaft und Politik, ist ganz im Sinne dieses Autors, der Erfahrungswissen (natürlich) über Verstandeswissen (wertlos) stellt.
Jeder Bruch ist damit eine Chance, solange nicht gleich das gesamte Ökosystem untergeht. Zwischen der antiken Weisheit - von den bei Managern häufig beliebten antiken Philosophen stammen die meisten der Positivbeispiele - und seinem eigenen Genie scheint Taleb ein gewaltiges Intelligenznirwana zu klaffen. Allenfalls die praxistaugliche Alltagslogik von Großmüttern lässt der Autor noch neben sich gelten.
Die Weltformel, die Taleb mit viel Kraftmeierei breittritt, lautet in aller Schlichtheit: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Nur wer seine Haut aufs Spiel setze, also "Skin in the Game" habe, wer "ein Macher" sei, bringe sich und die Menschheit voran. Die Übrigen, zu denen Taleb so gut wie alle Intellektuellen ("Idioten"), Akademiker ("Scharlatane"), Politiker ("Schmiergeld" im Amt verdienend), Bürokraten ("die eigentliche Seuche"), Angestellten ("Sklaven") und Journalisten ("Mitläufer", einander kopierend und von Lobbyisten gesteuert) zählt, werden in enervierender Ausdauer mit stumpfen Schmähungen überzogen. Sie alle müssten für Fehlentscheidungen nicht geradestehen. Langfristig würden sie von der Evolution eliminiert.
Die Intellektuellen-Idioten "mit irgendeinem Ivy-League- oder Oxford-Cambridge-Abschluss", die fast überall das Sagen hätten, täten jedoch alles als "Populismus" ab, was ihnen nicht passe. Taleb, der Universitätslehrer, hat die Rolle des Außenseiters im System perfektioniert. Er fordert Taten statt Worte, setzt das Dorf gegen die korrupte Stadt. Auch wenn manche Prügel die Richtigen treffen, vergeht einem bald das Lachen, denn hier spricht kein Picaro, sondern ein offen Autokraten wie Wladimir Putin bewundernder, sich "libertär" nennender Fürsprecher jener neuen Rücksichtslosigkeit, die weltweit offene Gesellschaften und freie Wissenschaften bedrängt.
Natürlich gehören die Genderwissenschaften zu den Lieblingshassobjekten des Autors, ebenso die Globalisierung und "die Medien". Erst mit der Direktkommunikation über soziale Netzwerke habe der "Mechanismus der Nachrichtenverbreitung" bei den amerikanischen Wahlen von 2016 "sein natürliches Format" wiedererlangt. Idealisiert werden Duelle, Handwerker, risikofreudige Unternehmer, Whistleblower, Jesus und Hedgefonds. Bescheidenheit ist Talebs Schwäche nicht.
Dabei finden sich in dem oft widersprüchlichen Buch durchaus interessante Ansätze. So misstraut der Autor der menschlichen Fähigkeit, mit zu komplexen Systemen umzugehen, was ihn zu einem Anhänger regionaler, dezentraler Lösungen für die meisten Probleme macht. Auch politische Entitäten dürften nicht zu groß werden, weshalb er den "Brexit" begrüßt. In den Vereinigten Staaten hat sich der Autor zudem einen Namen gemacht als Gegner gentechnisch veränderter Nahrungsmittel, weil auch hier unüberschaubar große Risiken eingegangen würden.
Dieser Kampf taucht im Buch in jenem Kapitel auf, das die "Minderheiten-Regel" erklärt: Eine sehr kleine, aber unbeugsame Minderheit werde mit mathematischer Gewissheit das Gesamtsystem dominieren. Talebs weitere Beispiele sind koschere Limonaden und Halal-Fleisch in einigen Subway-Restaurants (was noch nicht als flächendeckend gelten dürfte). Das Kapitel endet freilich mit einer anderen intoleranten Minderheit: "Faktisch wird sie irgendwann unsere ganze Welt zerstören."
Gemeint ist der wahhabitische Islam Saudi-Arabiens, der mit Ingrimm und gar Assad-Apologetik verfolgte Erzfeind des orthodoxen Christen aus dem Libanon. Den Radikalsunniten müsse aufgrund der obigen Regel intolerant begegnet werden: "Im Moment ist der Westen dabei, Selbstmord zu begehen."
Gut nachvollziehbar, aber schon in früheren Büchern ausgearbeitet ist die These, dass alle in der Moderne vorgenommenen Versuche, mittels waghalsiger Interventionen eine Top-Down-Ordnung in das komplexe Ungeordnete zu bringen, keineswegs dazu geführt haben, die Fragilität des Systems zu vermindern. Taleb skizziert also Grundzüge einer universalen Ethik von unten, wenn er es tugendhaft nennt, mit eigener Haut für seine Entscheidungen einzustehen und Symmetrie in jeden Handel einzubringen. Das eben fehle in einer Welt, in der, wie der ehemalige Trader weiß, Risiken und Kosten gern anderen (am liebsten der Allgemeinheit) aufgebürdet werden.
Dass eine solche Ethik nicht ganz neu ist, ahnt auch Taleb, der selbst auf Kants Kategorischen Imperativ hinweist, um dann auch hier die Einfachheitsregel anzuwenden: "Vergessen Sie Kant, sonst wird es zu kompliziert."
Diese halbwegs anschlussfähigen Thesen über das Risikomanagement in allen Lebenslagen können den Eindruck nicht zerstreuen, dass "Skin in the Game" vor allem ein Buch des Verwerfens ist, eine gezielt provozierende Aufwertung schlichter Redneck-Vernunft gegen alles bestallte Denken, wobei der Affekt gegen die Wissenschaft lachhafte Ausmaße annimmt, wenn Taleb in Nebensätzen ganze Disziplinen als "matschweich" abqualifiziert, das Peer-Assessment (an dem er gescheitert scheint) als Bullshit-Mechanismus diskreditiert oder Historikern, die von Empirie nichts verstünden, vorwirft, lediglich Kriegs-Ereignisgeschichte zu verfassen (da hat einer hundert Jahre des Fachs verpasst).
So ist das Folgenreichste an diesem Buch vielleicht seine Rhetorik, die in einer zunehmend verrohenden Debattenkultur, zumal in den Vereinigten Staaten, sicher nicht mäßigend wirkt. Schließlich spricht hier jemand, dem Millionen zuhören und der sich vor Anfragen durch die dummen Medien und die dummen Politiker kaum retten kann. Fluchen erhebt Taleb gar zur mutigen Tat: "Wer sich in sozialen Netzwerken wie beispielsweise Twitter unflätiger Sprache bedient, gibt wertvolle Hinweise darauf, dass er frei - und ironischerweise auch kompetent ist." Um es matschweich auszudrücken: Der Alleserklärer von der Wall Street hat uns nichts mehr zu sagen.
OLIVER JUNGEN
Nassim Nicholas Taleb: "Das Risiko und sein Preis". Skin in the Game.
Aus dem Englischen von
Susanne Held.
Penguin Verlag, München 2018. 382 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Idioten, Scharlatane, Mitläufer: Nassim Nicholas Taleb legt den nächsten Aufguss seiner Abrechnung mit dem Establishment vor und gefällt sich als Fürsprecher der neuen Rücksichtslosigkeit.
Wie minimiert ein Autor das Risiko eines Verrisses? Ganz einfach: Man sagt genau dies vorher und erklärt es zum Problem. Eine Abfuhr hat für Nassim Nicholas Taleb nämlich nie mit dem besprochenen Buch zu tun, wie inkohärent es auch zusammengestoppelt sein mag, sondern ausschließlich damit, dass die am Interesse der "echten Leser" stets vorbei greifenden Buchkritiker "willkürliche Gewalt" ausüben und "entweder freie Erfindungen von sich geben oder geistesgestört sind".
Nichts gegen furiose Kritikerschelten - man denke an den Rezensenten Goethe, der Rezensenten den Hundetod wünschte -, aber diese hier scheint doch ein wenig mickrig zu sein: "Sie können nicht begreifen, was sie nicht begreifen, weil sie nicht wirklich an einem aktiven, transaktionalen Leben teilhaben." Triste, risikoscheue Kellerbewohner also, diese Kritiker, des "Wolfs unter Hunden" nicht würdig. Ehrlose könnte man auch sagen, um im Geiste dieses Buchs zu bleiben.
Der folgende Text gibt dem erfrischend unprofessoralen und mathematisch vermutlich schwer begabten Essayisten sogar in gewisser Weise recht, denn er ignoriert den angeberisch wirkenden "Technischen Anhang". Die dort versammelten, komplexen Stochastik-Formeln lassen sich wohl nur von spezialisierten Mathematikern beurteilen. Klar ist aber auch, dass der Anhang nicht Talebs 350 Seiten voller Neo-Darwinismen, Invektiven, banaler Lebensklugheiten und krasser Selbstverliebtheit unangreifbar macht. Das holprig übersetzte, konfus strukturierte Buch ist ein schräger Genremix aus Anti-Establishment-Manifest, Eigenzitaten, Selbstbehauptungs-Ratgeber und Memoiren des weltbesten "Traders".
Und es ist Männlichkeitsfeier im kitschigen Sinn. Könige, die an vorderster Front sterben, werden ebenso angehimmelt wie deregulierte Märkte. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem wichtigen Bestseller "Der Schwarze Schwan", in dem Taleb vor extremen Konsequenzen höchst seltener Ereignisse warnte - was in der Weltfinanzkrise voll bestätigt zu werden schien -, kann der ehemalige Finanzunternehmer und polyglotte Autodidakt, der heute an der New York University lehrt, offenbar nicht damit aufhören, seine Annahmen in immer neuen Aufgüssen zu wiederholen.
In diesem Prozess ist ihm jedoch eine gewisse Lockerheit abhandengekommen. Kokettierte Taleb vor einigen Jahren noch philosophiehistorisch nobel mit dem Nichtwissen als höchster Form des Wissens, tritt er inzwischen als zähnefletschender Rächer auf, der sich im Begriff der Weltformel wähnt, aber an dem Umstand laboriert, dass die Welt einfach zu dumm ist, dies zu erkennen. Dass vieles in "Skin in the Game" an die Rhetorik des Donald Trump-Lagers erinnert (Hillary Clinton wird stets in Verbindung mit Monsanto und Korruption genannt), ist alles andere als Zufall: Disruption in sämtlichen Bereichen, allem voran in Wissenschaft und Politik, ist ganz im Sinne dieses Autors, der Erfahrungswissen (natürlich) über Verstandeswissen (wertlos) stellt.
Jeder Bruch ist damit eine Chance, solange nicht gleich das gesamte Ökosystem untergeht. Zwischen der antiken Weisheit - von den bei Managern häufig beliebten antiken Philosophen stammen die meisten der Positivbeispiele - und seinem eigenen Genie scheint Taleb ein gewaltiges Intelligenznirwana zu klaffen. Allenfalls die praxistaugliche Alltagslogik von Großmüttern lässt der Autor noch neben sich gelten.
Die Weltformel, die Taleb mit viel Kraftmeierei breittritt, lautet in aller Schlichtheit: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Nur wer seine Haut aufs Spiel setze, also "Skin in the Game" habe, wer "ein Macher" sei, bringe sich und die Menschheit voran. Die Übrigen, zu denen Taleb so gut wie alle Intellektuellen ("Idioten"), Akademiker ("Scharlatane"), Politiker ("Schmiergeld" im Amt verdienend), Bürokraten ("die eigentliche Seuche"), Angestellten ("Sklaven") und Journalisten ("Mitläufer", einander kopierend und von Lobbyisten gesteuert) zählt, werden in enervierender Ausdauer mit stumpfen Schmähungen überzogen. Sie alle müssten für Fehlentscheidungen nicht geradestehen. Langfristig würden sie von der Evolution eliminiert.
Die Intellektuellen-Idioten "mit irgendeinem Ivy-League- oder Oxford-Cambridge-Abschluss", die fast überall das Sagen hätten, täten jedoch alles als "Populismus" ab, was ihnen nicht passe. Taleb, der Universitätslehrer, hat die Rolle des Außenseiters im System perfektioniert. Er fordert Taten statt Worte, setzt das Dorf gegen die korrupte Stadt. Auch wenn manche Prügel die Richtigen treffen, vergeht einem bald das Lachen, denn hier spricht kein Picaro, sondern ein offen Autokraten wie Wladimir Putin bewundernder, sich "libertär" nennender Fürsprecher jener neuen Rücksichtslosigkeit, die weltweit offene Gesellschaften und freie Wissenschaften bedrängt.
Natürlich gehören die Genderwissenschaften zu den Lieblingshassobjekten des Autors, ebenso die Globalisierung und "die Medien". Erst mit der Direktkommunikation über soziale Netzwerke habe der "Mechanismus der Nachrichtenverbreitung" bei den amerikanischen Wahlen von 2016 "sein natürliches Format" wiedererlangt. Idealisiert werden Duelle, Handwerker, risikofreudige Unternehmer, Whistleblower, Jesus und Hedgefonds. Bescheidenheit ist Talebs Schwäche nicht.
Dabei finden sich in dem oft widersprüchlichen Buch durchaus interessante Ansätze. So misstraut der Autor der menschlichen Fähigkeit, mit zu komplexen Systemen umzugehen, was ihn zu einem Anhänger regionaler, dezentraler Lösungen für die meisten Probleme macht. Auch politische Entitäten dürften nicht zu groß werden, weshalb er den "Brexit" begrüßt. In den Vereinigten Staaten hat sich der Autor zudem einen Namen gemacht als Gegner gentechnisch veränderter Nahrungsmittel, weil auch hier unüberschaubar große Risiken eingegangen würden.
Dieser Kampf taucht im Buch in jenem Kapitel auf, das die "Minderheiten-Regel" erklärt: Eine sehr kleine, aber unbeugsame Minderheit werde mit mathematischer Gewissheit das Gesamtsystem dominieren. Talebs weitere Beispiele sind koschere Limonaden und Halal-Fleisch in einigen Subway-Restaurants (was noch nicht als flächendeckend gelten dürfte). Das Kapitel endet freilich mit einer anderen intoleranten Minderheit: "Faktisch wird sie irgendwann unsere ganze Welt zerstören."
Gemeint ist der wahhabitische Islam Saudi-Arabiens, der mit Ingrimm und gar Assad-Apologetik verfolgte Erzfeind des orthodoxen Christen aus dem Libanon. Den Radikalsunniten müsse aufgrund der obigen Regel intolerant begegnet werden: "Im Moment ist der Westen dabei, Selbstmord zu begehen."
Gut nachvollziehbar, aber schon in früheren Büchern ausgearbeitet ist die These, dass alle in der Moderne vorgenommenen Versuche, mittels waghalsiger Interventionen eine Top-Down-Ordnung in das komplexe Ungeordnete zu bringen, keineswegs dazu geführt haben, die Fragilität des Systems zu vermindern. Taleb skizziert also Grundzüge einer universalen Ethik von unten, wenn er es tugendhaft nennt, mit eigener Haut für seine Entscheidungen einzustehen und Symmetrie in jeden Handel einzubringen. Das eben fehle in einer Welt, in der, wie der ehemalige Trader weiß, Risiken und Kosten gern anderen (am liebsten der Allgemeinheit) aufgebürdet werden.
Dass eine solche Ethik nicht ganz neu ist, ahnt auch Taleb, der selbst auf Kants Kategorischen Imperativ hinweist, um dann auch hier die Einfachheitsregel anzuwenden: "Vergessen Sie Kant, sonst wird es zu kompliziert."
Diese halbwegs anschlussfähigen Thesen über das Risikomanagement in allen Lebenslagen können den Eindruck nicht zerstreuen, dass "Skin in the Game" vor allem ein Buch des Verwerfens ist, eine gezielt provozierende Aufwertung schlichter Redneck-Vernunft gegen alles bestallte Denken, wobei der Affekt gegen die Wissenschaft lachhafte Ausmaße annimmt, wenn Taleb in Nebensätzen ganze Disziplinen als "matschweich" abqualifiziert, das Peer-Assessment (an dem er gescheitert scheint) als Bullshit-Mechanismus diskreditiert oder Historikern, die von Empirie nichts verstünden, vorwirft, lediglich Kriegs-Ereignisgeschichte zu verfassen (da hat einer hundert Jahre des Fachs verpasst).
So ist das Folgenreichste an diesem Buch vielleicht seine Rhetorik, die in einer zunehmend verrohenden Debattenkultur, zumal in den Vereinigten Staaten, sicher nicht mäßigend wirkt. Schließlich spricht hier jemand, dem Millionen zuhören und der sich vor Anfragen durch die dummen Medien und die dummen Politiker kaum retten kann. Fluchen erhebt Taleb gar zur mutigen Tat: "Wer sich in sozialen Netzwerken wie beispielsweise Twitter unflätiger Sprache bedient, gibt wertvolle Hinweise darauf, dass er frei - und ironischerweise auch kompetent ist." Um es matschweich auszudrücken: Der Alleserklärer von der Wall Street hat uns nichts mehr zu sagen.
OLIVER JUNGEN
Nassim Nicholas Taleb: "Das Risiko und sein Preis". Skin in the Game.
Aus dem Englischen von
Susanne Held.
Penguin Verlag, München 2018. 382 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Oliver Jungen möchte dem Autor eines sicher nicht unterstellen: Bescheidenheit und Maß. Nassem Nicholas Talebs männlichkeitsfeiernde Lebensklugscheißereien und Invektiven gegen die Presse, die Intellektuellen und Politiker wie Hillary Clinton lesen sich für ihn stellenweise wie aus dem Trump-Lager. Als Mix aus Manifest, Ratgeber und Memoiren des unzweifelhaft genialsten Traders kann das Buch den Rezensenten nicht überzeugen. Zu steif, zu simpel sind ihm die Weltformeln des Autors. Interessant scheinen Jungen nur einige Ansätze zur Verteidigung regionaler Systeme und der komplexen Unordnung. Der Rest ist rohes Abfeiern schlichter Redneck-Vernunft, meint Jungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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