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Tagenbuch eines jungen Holocaust-Opfers

Produktbeschreibung
Tagenbuch eines jungen Holocaust-Opfers
Autorenporträt
Ernö Zeltner, Jahrgang 1935, studierte in Budapest ungarische Literatur- und Sprachwissenschaft und ab 1956 in Wien Germanistik und Theaterwissenschaft. Nach einer erfolgreichen Verlagslaufbahn lebt er seit einigen Jahren als freier Lektor, Übersetzer und Autor in Tirol.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Potentielle Leser sollten sich nicht von dem "nichtssagenden" deutschen Titel "Das rote Fahrrad" abschrecken lassen, warnt Rezensent Andreas Platthaus, der dieses ergreifende Erinnerungsbuch von Ágnes Zolt schon allein wegen seiner Entstehungsgeschichte nur dringend empfehlen kann. Bis heute sei ungeklärt, ob es sich hier um das originale Tagebuch der im Alter von dreizehn Jahren in Auschwitz ermordeten Eva Heyman handele oder ob ihre Mutter, die 1912 geborene Journalistin Ágnes Zolt, den Text stark nachbearbeitet oder gar selbst geschrieben habe, informiert der Kritiker. Im erschütternden Vorwort der Mutter erfährt Platthaus, wie sie sich gemeinsam mit Evas Stiefvater dank einer diagnostizierten Typhusinfektion vor der Deportation retten konnte, während die Tochter zu den Hunderttausenden ungarischer Juden gehörte, die noch im März 1944 von den Nazis ermordet wurden. Nicht nur in den im Anhang enthaltenen Briefen von Zolts Haushälterin, die ihr das Tagebuch später übermittelte, sondern auch im Text selbst liest der Kritiker die grausamen (Selbst-)Vorwürfe, die Evas Mutter schließlich vier Jahre nach Erscheinen des Buches dazu führten, sich das Leben zu nehmen. Trotz der "gewollt nach Kindersprache" klingenden Übersetzung Ernö Zeltners und des fehlerhaften Nachworts des Publizisten Gabor Muranyi liest der Rezensent gebannt und ergriffen die ebenso klugen wie bedrohlichen Alltagsbeobachtungen, die das kleine Mädchen in den Monaten kurz vor der Deportation notierte.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2012

Urteil im Prozess gegen sich selbst
Das erschütternde Erinnerungsbuch von Ágnes Zsolt an ihre in Auschwitz ermordete Tochter Éva

Wer hat dieses Buch geschrieben? Darüber rätselt man seit seinem Erscheinen im Jahr 1947. Da war diejenige, deren Tagebuchnotizen den größten Teil des Textes ausmachen, schon drei Jahre tot, ermordet in Auschwitz, ein Kind von dreizehn Jahren. Die untröstliche Mutter hatte sich gemeinsam mit dem Stiefvater retten können; bei ihnen war eine Typhusinfektion diagnostiziert worden, deshalb wurde die Deportation aufgeschoben; später gelangten sie mit 1682 anderen ungarischen Juden durch Bestechung der Deutschen in die sichere Schweiz.

Bei der Tochter verfing der Trick mit der ansteckenden Krankheit nicht, sie war unter den Hunderttausenden ungarischer Juden, die nach der deutschen Besetzung ihres Landes im März 1944 doch noch von Hitlers Schergen erfasst und ermordet wurden. Nach dem Krieg bekam die Mutter das Tagebuch ihres Kindes aus dem ersten Halbjahr 1944 ausgehändigt, das sie bei ihrer Haushaltshilfe zurückgelassen hatte. Darauf beruht der Inhalt von "Das rote Fahrrad".

Im ungarischen Original lautete der Titel des Buchs "Meine Tochter Éva", und als Verfasserin figuriert konsequenterweise die Mutter, die 1912 geborene Journalistin Ágnes Zsolt. Im Vorwort erzählt sie in notgedrungen aufgewühltem Ton die schreckliche Geschichte vom Tod der Tochter, ein Anhang enthält zwei Briefe, einen von der Haushaltshilfe und einen aus der Feder einer treuen alten Kinderfrau, die schon die als Ágnes Rácz geborene Mutter von Éva betreut hatte. Dieser Brief aus dem November 1945 dreht sich allein um die Schuld am Tod des Mädchens, und die Kinderfrau geht darin mit sich selbst nicht weniger hart ins Gericht als mit Ágnes Zsolt. Vier Jahre nach Erscheinen ihres Buchs brachte sich die Mutter um; Évas Tagebuch hat nie jemand zu Gesicht bekommen.

Deshalb weiß man nicht, wie es um die Authentizität des Textes steht. Schon kurz nach der Publikation wurde in Ungarn vermutet, dass Ágnes Zsolt den Text zumindest stark bearbeitet, wenn nicht gar selbst geschrieben hat. Auffällig sind die zahlreichen Passagen, die sich liebevoll, aber kritisch mit der Mutter auseinandersetzen, auch wenn es immer wieder versöhnliche Ansätze gibt. Sollte Ágnes Zsolt all das geschrieben haben, ist dieses Buch eine große Selbstanklage, die durch den Brief der Kinderfrau mit dem eigenen Todesurteil endet. Sollte es das Tagebuch von Éva gegeben haben, hat die tote Tochter der Mutter postum den Prozess gemacht. Man weiß nicht, was für Ágnes Zsolt vernichtender gewesen wäre.

Der deutschen Ausgabe ist zusätzlich zur ungarischen Originalausgabe, die in den Zeiten des kommunistischen Regimes nicht mehr erscheinen durfte, weil Ágnes Zsolt als Sozialdemokratin galt, ein ausführliches Nachwort des Publizisten Gábor Murányi beigegeben, das die Geschichte des Buchs erzählt. Allerdings wird darin schon das Geburtsjahr der Journalistin verschieden angegeben und der Brief der Kinderfrau auf ein anderes Jahr datiert, als dessen Datumszeile lautet - man darf also nicht auf große Sorgfalt rechnen.

Am Tod von Éva Heyman ändert das alles nichts und auch nicht an der Intensität des Buchs, das als deutsche Übersetzung allerdings einen derart nichtssagenden Titel und ein so modisch-banales Titelbild verpasst bekommen hat, dass etwaige Leser die Geschichte eigentlich schon kennen müssten, wenn sie sich zur Lektüre verleiten lassen wollen. Es ist ein inhaltlich wichtiger, aber editorisch beklagenswerter Start, den der neugegründete Wiener Nischenverlag, der ungarische Literatur im deutschen Sprachraum populärer machen will, damit hinlegt.

Die Übersetzung von Ernö Zeltner leidet unter der bisweilen betont saloppen und dadurch eher gewollt klingenden Kindersprache, die unglücklicherweise an den Tonfall der Geschichten vom "Kleinen Nick" erinnert. Aber auch das gerät angesichts der Chronik der gerade einmal dreieinhalb Monate vom 13. Februar 1944, dem dreizehnten Geburtstag von Éva, bis zum 30. Mai, kurz vor der Deportation des Mädchens, in den Hintergrund, denn wie hier in Alltagsbeobachtungen die Schlinge spürbar wird, die sich mehr und mehr um die jüdische Familie zuzieht, wie in kleinen Rück- oder Seitenblicken der noch immer geliebte geschiedene Vater und der gleichfalls geliebte Stiefvater charakterisiert werden, die Großeltern mütterlicherseits oder die Großmutter väterlicherseits - das alles ist so präzise und aus kindlicher Perspektive so entwaffnend klug geschildert, dass man schon vor dem Eintritt des Schlimmsten ahnt, wie sich diese Menschen verhalten und wie sie verzweifeln werden.

Schauplatz ist die überwiegend von Ungarn bewohnte siebenbürgische Kleinstadt Nagyvárad, die nach dem Krieg an Rumänien fiel und heute Oradea heißt. Wie im Brennglas waren dort die politischen Konflikte der Vorkriegszeit fokussiert, die dann im Krieg unter dem nationalsozialistischen Rassenwahn kulminierten: Konflikte zwischen Ungarn und Rumänen, Christen und Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten. Ágnes Zsolt stand dabei jeweils zuletzt auf der Verliererseite: Als Jüdin wurde sie verfolgt und verlor ihre ganze Familie, als Ungarin büßte sie nach Kriegsende ihre Heimat ein, als Sozialdemokratin im ungarischen Kommunismus die Freiheit der eigenen Meinung.

Éva Heyman, wie sie uns in "Das rote Fahrrad" entgegentritt, hatte von dieser Mutter Intelligenz und Leidenschaftlichkeit geerbt - und die Lebensfreude. Unter dem Datum des 18. März 1944, am Tag vor dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn, steht: "In Pest ist dauernd Bombenalarm. Ich habe Angst, mein kleines Tagebuch, dass wir das bald auch hier haben werden. Ich kann jetzt sonst nichts schreiben, weil ich immer daran denken muss, was wird, wenn sie hier in Várad Bomben auf uns werfen. Ich will doch leben. Unbedingt."

Aber nach dem Willen eines Mädchens ging es nicht. Im Vorwort schreibt Ágnes Zsolt, dass ihre Tochter für Menschenversuche von Josef Mengele herangezogen wurde und am 17. Oktober 1944 in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau starb. Woher sie diese Informationen hatte, weiß man nicht. Auch das ist egal, denn leider stimmt dies: Mengele starb friedlich am 7. Februar 1979 in Brasilien. Er und all die anderen Mörder haben nicht nur die Millionen Menschen wie Éva Heyman in den Konzentrationslagern auf dem Gewissen, sondern auch noch die Tausenden wie Ágnes Zsolt, die nach 1945 mit ihrem Überleben nicht weiterleben konnten. Auch diesbezüglich ist "Das rote Fahrrad" ein erschütterndes Zeugnis.

ANDREAS PLATTHAUS

Ágnes Zsolt: "Das rote Fahrrad".

Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner. Nischen Verlag, Wien 2012. 159 S., geb., 19,80 [Euro].

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