Die aktuelle Debatte über die militante Vergangenheit von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, über 1968 und "Die wilden 70er", trägt für einige Beobachter bereits Züge eines "neuen Kulturkampfs" (Wolfgang Kraushaar). Union und FDP möchten diese Ereignisse rückwirkend als eine einzige Verirrung aus der Geschichte der Republik tilgen. Im rot-grünen Mehrheitslager wird dagegen am Bild einer "Freiheitsbewegung" gezeichnet, die die Republik ziviler, liberaler und demokratischer gemacht habe. Dabei ist dieses "rote Jahrzehnt", das mit dem Aufbruch der Studentenbewegung 1967 begann und mit dem "deutschen Herbst" 1977 endete, bisher niemals zusammenhängend beschrieben worden. Zwischen "Kapital-Schulung", "Betriebsarbeit", "Kinderladen", "Antiimperialismus" und "revolutionärer Berufspraxis" erstreckte sich ein weites Feld intellektueller und jugendlicher Radikalismen. Gerd Koenen, damals führendes Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands), hat dieses Kapitel einer Mentalitäten- und Generationengeschichte der Bundesrepublik in seinen zeithistorischen Bezügen wie in seiner inneren Psychodynamik nachgezeichnet und zu entschlüsseln versucht. Mit dieser ebenso ernsthaften wie unterhaltsamen, dabei höchst informativen Darstellung könnte die aktuelle Diskussion auf eine neue, sachliche Grundlage gestellt werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2012Trotzki, der Gute
Chronik einer angekündigten Biographie
Es gibt einen naiven Häretiker-Bonus: Wäre nur dieser an die Macht gekommen anstatt jener! Hans Küng oder Eugen Drewermann statt Kardinal Ratzinger, Hildegard Hamm-Brücher statt Roman Herzog! Oder Leo Trotzki statt Josef Stalin! Die Welt sähe besser aus, toleranter, unblutiger und gerechter, sagt unser Herz. Die Macht an sich ist böse, und wer im Kampf um ihren Gewinn scheitert, muss der Gute sein.
Es ist das Verdienst der Trotzki-Biographie von Robert Service, die 2009 in englischer Sprache erschien, in einem Akt ausgleichender Ungerechtigkeit mit dieser optischen Täuschung aufgeräumt zu haben. Trotzki, geboren 1879 als Leib Bronstein, ermordet 1940 in Mexiko von einem Agenten der GPU, war nicht die Alternative zum Stalinismus, er war der gescheiterte Stalin. "Wäre Trotzki an Stalins Stelle der überragende Sowjetführer geworden, dann hätten sich die Risiken eines Blutbades in Europa drastisch erhöht", schreibt Robert Service in der Einleitung.
Und er kann es belegen. Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee führte im Bürgerkrieg die schlimmsten terroristischen Methoden ein, und er war es (nicht der nach Service vorsichtigere, aufs Staatsinteresse bedachte Stalin), der die abenteuerlichsten Gedanken hegte, was eine Intervention der Sowjetunion etwa bei Aufstandsversuchen der Kommunisten in der Weimarer Republik anging.
Die deutsche Ausgabe "Trotzki - Eine Biographie" ist im Suhrkamp-Verlag angekündigt. "Erscheint in Kürze" heißt es auf der Website seit langem. Nun haben schon im Juli des vergangenen Jahres mehrere Historiker und andere Geisteswissenschaftler in einem offenen Brief an Ulla Unseld-Berkéwicz von "Verwunderung und Besorgnis" in der "Fachwelt" gesprochen. Das Ziel des Buches sei eine "Diskreditierung" Trotzkis. Inzwischen, so ist aus dem Verlag zu hören, habe man ein weiteres Gutachten angefordert. Besonders hingewiesen wird von den Autoren des Briefes auf die Diskussion von Trotzkis jüdischer Herkunft bei Service, die, wie es heißt, einen "befremdlichen Beiklang" habe.
Aber die starke Präsenz von glaubenslos gewordenen Juden im Parteiapparat der zwanziger Jahre wurde von Yuri Slezkine in seinem Buch "Das jüdische Jahrhundert" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2006) ungleich massiver zum Thema gemacht. Slezkine, Direktor des Slawistischen Instituts an der University of California in Berkeley, sieht den frühen Bolschewismus geradezu als eine der großen Aufstiegschancen der russischen Juden, die unter dem Zarismus sehr am Fortkommen gehindert und zudem räumlich auf ein bestimmtes Siedlungsgebiet beschränkt waren. Und was die Dominanz jüdischer Intellektueller in der auf Trotzki zurückgehenden "Vierten Internationale" betrifft, so hat der deutsche Historiker Gerd Koenen in seiner Darstellung "Das rote Jahrzehnt" (Frankfurt 2002) die Dinge sachlich und kühl analysiert.
Deutlich werden bei Service die Gründe für Trotzkis Machtverlust nach Lenins Tod im Jahre 1924. Trotzki war spät zum eigentlichen Bolschewismus gekommen, erst 1917, als die Revolution vor der Tür stand; zuvor hatte er seine eigene Position im linksradikalen Meinungsspektrum Russlands vertreten. Die alten Kader fürchteten, von Trotzki zum Zwecke seines höheren Ruhms instrumentalisiert zu werden. Zeitweise traute man eher ihm als Stalin das Verlangen nach persönlicher Diktatur zu, als Chef des Militärs schien er für eine bonapartistische Rolle die Idealbesetzung. Der britische Philosoph Bertrand Russell, der ihm Anfang der zwanziger Jahre begegnete, sah in Trotzkis Habitus die "Eitelkeit eines Schauspielers oder Künstlers". Solche und ähnliche Stellen zitiert Service mit Gusto - und das kränkt manchen heute noch.
Fehler, an die der offene Brief mahnt, enthält dieses Buch tatsächlich. Man staunt, wenn Ferdinand Lassalle als "Marxist" bezeichnet wird - er war der Hauptkonkurrent von Marx um die Gunst der frühen Sozialdemokratie. Man staunt noch mehr, wenn André Breton als surrealistischer Maler gefeiert wird (einschließlich der Beschreibung seiner Bilder, die viel Mitgefühl für die Armen verrieten). Oder wenn es heißt, die Leiche von Rosa Luxemburg hätten ihre Mörder auf eine Berliner Straße geworfen - wo doch der Landwehrkanal jedem aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein könnte. Aber solche Fehler ließen sich in der Übersetzung bequem korrigieren.
Wichtiger als Einzelprobleme ist ein anderer Mangel des Buches. Es ist ein technischer Fehler des Erzählers. Die Geschichte bleibt meist sehr nah an Trotzkis Kalender, sie ist actionbetont. Da fallen dann andere Züge heraus: breite panoramatische Schilderungen der historischen Hintergründe, der handelnden Charaktere. Es ist, als kenne Service nur eine einzige Kameraeinstellung. Da sind die Indianer, dort rückt schon die Kavallerie an. Spannend, packend! Aber die majestätische Gegend, die grandiosen Gebirgszüge kommen nicht so recht in den Blick. Dieses Buch ist etwas zu hektisch und zu wenig episch.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chronik einer angekündigten Biographie
Es gibt einen naiven Häretiker-Bonus: Wäre nur dieser an die Macht gekommen anstatt jener! Hans Küng oder Eugen Drewermann statt Kardinal Ratzinger, Hildegard Hamm-Brücher statt Roman Herzog! Oder Leo Trotzki statt Josef Stalin! Die Welt sähe besser aus, toleranter, unblutiger und gerechter, sagt unser Herz. Die Macht an sich ist böse, und wer im Kampf um ihren Gewinn scheitert, muss der Gute sein.
Es ist das Verdienst der Trotzki-Biographie von Robert Service, die 2009 in englischer Sprache erschien, in einem Akt ausgleichender Ungerechtigkeit mit dieser optischen Täuschung aufgeräumt zu haben. Trotzki, geboren 1879 als Leib Bronstein, ermordet 1940 in Mexiko von einem Agenten der GPU, war nicht die Alternative zum Stalinismus, er war der gescheiterte Stalin. "Wäre Trotzki an Stalins Stelle der überragende Sowjetführer geworden, dann hätten sich die Risiken eines Blutbades in Europa drastisch erhöht", schreibt Robert Service in der Einleitung.
Und er kann es belegen. Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee führte im Bürgerkrieg die schlimmsten terroristischen Methoden ein, und er war es (nicht der nach Service vorsichtigere, aufs Staatsinteresse bedachte Stalin), der die abenteuerlichsten Gedanken hegte, was eine Intervention der Sowjetunion etwa bei Aufstandsversuchen der Kommunisten in der Weimarer Republik anging.
Die deutsche Ausgabe "Trotzki - Eine Biographie" ist im Suhrkamp-Verlag angekündigt. "Erscheint in Kürze" heißt es auf der Website seit langem. Nun haben schon im Juli des vergangenen Jahres mehrere Historiker und andere Geisteswissenschaftler in einem offenen Brief an Ulla Unseld-Berkéwicz von "Verwunderung und Besorgnis" in der "Fachwelt" gesprochen. Das Ziel des Buches sei eine "Diskreditierung" Trotzkis. Inzwischen, so ist aus dem Verlag zu hören, habe man ein weiteres Gutachten angefordert. Besonders hingewiesen wird von den Autoren des Briefes auf die Diskussion von Trotzkis jüdischer Herkunft bei Service, die, wie es heißt, einen "befremdlichen Beiklang" habe.
Aber die starke Präsenz von glaubenslos gewordenen Juden im Parteiapparat der zwanziger Jahre wurde von Yuri Slezkine in seinem Buch "Das jüdische Jahrhundert" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2006) ungleich massiver zum Thema gemacht. Slezkine, Direktor des Slawistischen Instituts an der University of California in Berkeley, sieht den frühen Bolschewismus geradezu als eine der großen Aufstiegschancen der russischen Juden, die unter dem Zarismus sehr am Fortkommen gehindert und zudem räumlich auf ein bestimmtes Siedlungsgebiet beschränkt waren. Und was die Dominanz jüdischer Intellektueller in der auf Trotzki zurückgehenden "Vierten Internationale" betrifft, so hat der deutsche Historiker Gerd Koenen in seiner Darstellung "Das rote Jahrzehnt" (Frankfurt 2002) die Dinge sachlich und kühl analysiert.
Deutlich werden bei Service die Gründe für Trotzkis Machtverlust nach Lenins Tod im Jahre 1924. Trotzki war spät zum eigentlichen Bolschewismus gekommen, erst 1917, als die Revolution vor der Tür stand; zuvor hatte er seine eigene Position im linksradikalen Meinungsspektrum Russlands vertreten. Die alten Kader fürchteten, von Trotzki zum Zwecke seines höheren Ruhms instrumentalisiert zu werden. Zeitweise traute man eher ihm als Stalin das Verlangen nach persönlicher Diktatur zu, als Chef des Militärs schien er für eine bonapartistische Rolle die Idealbesetzung. Der britische Philosoph Bertrand Russell, der ihm Anfang der zwanziger Jahre begegnete, sah in Trotzkis Habitus die "Eitelkeit eines Schauspielers oder Künstlers". Solche und ähnliche Stellen zitiert Service mit Gusto - und das kränkt manchen heute noch.
Fehler, an die der offene Brief mahnt, enthält dieses Buch tatsächlich. Man staunt, wenn Ferdinand Lassalle als "Marxist" bezeichnet wird - er war der Hauptkonkurrent von Marx um die Gunst der frühen Sozialdemokratie. Man staunt noch mehr, wenn André Breton als surrealistischer Maler gefeiert wird (einschließlich der Beschreibung seiner Bilder, die viel Mitgefühl für die Armen verrieten). Oder wenn es heißt, die Leiche von Rosa Luxemburg hätten ihre Mörder auf eine Berliner Straße geworfen - wo doch der Landwehrkanal jedem aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein könnte. Aber solche Fehler ließen sich in der Übersetzung bequem korrigieren.
Wichtiger als Einzelprobleme ist ein anderer Mangel des Buches. Es ist ein technischer Fehler des Erzählers. Die Geschichte bleibt meist sehr nah an Trotzkis Kalender, sie ist actionbetont. Da fallen dann andere Züge heraus: breite panoramatische Schilderungen der historischen Hintergründe, der handelnden Charaktere. Es ist, als kenne Service nur eine einzige Kameraeinstellung. Da sind die Indianer, dort rückt schon die Kavallerie an. Spannend, packend! Aber die majestätische Gegend, die grandiosen Gebirgszüge kommen nicht so recht in den Blick. Dieses Buch ist etwas zu hektisch und zu wenig episch.
LORENZ JÄGER
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Stephan Wackwitz gibt zu, das Buch mit einigem Herzklopfen gelesen zu haben. Zwar hätte es seiner Ansicht nach besser geschrieben werden können, doch darauf kommt es seiner Ansicht nach nicht in erster Linie an. Auch die Unentschlossenheit des Autors zwischen "persönlichem Erfahrungsbericht" und Monografie ist zweitrangig, findet Wackwitz. Wichtig ist ihm vielmehr, dass Koenen hier eines der wenigen Bücher vorgelegt habe, die sich kritisch mit dem "Zusammenspiel von demonstrativer Selbstzerstörung, Erpressung und missgeleitetem Schuldgefühl" der politischen Linken der siebziger Jahre befasst. Das Herzklopfen, dass Wackwitz einleitend erwähnt, rührt zum großen Teil daher, dass er es heute kaum fassen kann, welchen Einfluss die sektenähnliche "totalitäre Machtmaschine" damals auf die Intellektuellen - und nicht zuletzt auf ihn selbst - ausüben konnte: sei es durch den "hochfahrend-manirierten, tief gestörten, im gefährlichsten Sinn unmenschlichen Ton der Verlautbarungen, Tagesbefehle, Lageberichte und 'Analysen'", wie etwa in Bekennerschreiben und linken Gazetten - seien es die Vorgaben, die sogar persönliche Finanzen oder das "Liebesleben" betrafen. Auffallend findet Wackwitz darüber hinaus etwas, was er als "Geisterbeschwörung" bezeichnet: die unkritische Übernahme von Vorkriegsphilosophie der zwanziger Jahre. "Ein großartiges und schreckliches Buch", so lautet das Fazit des Rezensenten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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