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Die aktuelle Debatte über die militante Vergangenheit von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, über 1968 und "Die wilden 70er", trägt für einige Beobachter bereits Züge eines "neuen Kulturkampfs" (Wolfgang Kraushaar). Union und FDP möchten diese Ereignisse rückwirkend als eine einzige Verirrung aus der Geschichte der Republik tilgen. Im rot-grünen Mehrheitslager wird dagegen am Bild einer "Freiheitsbewegung" gezeichnet, die die Republik ziviler, liberaler und demokratischer gemacht habe. Dabei ist dieses "rote Jahrzehnt", das mit dem Aufbruch der Studentenbewegung 1967 begann und mit dem…mehr

Produktbeschreibung
Die aktuelle Debatte über die militante Vergangenheit von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, über 1968 und "Die wilden 70er", trägt für einige Beobachter bereits Züge eines "neuen Kulturkampfs" (Wolfgang Kraushaar). Union und FDP möchten diese Ereignisse rückwirkend als eine einzige Verirrung aus der Geschichte der Republik tilgen. Im rot-grünen Mehrheitslager wird dagegen am Bild einer "Freiheitsbewegung" gezeichnet, die die Republik ziviler, liberaler und demokratischer gemacht habe. Dabei ist dieses "rote Jahrzehnt", das mit dem Aufbruch der Studentenbewegung 1967 begann und mit dem "deutschen Herbst" 1977 endete, bisher niemals zusammenhängend beschrieben worden. Zwischen "Kapital-Schulung", "Betriebsarbeit", "Kinderladen", "Antiimperialismus" und "revolutionärer Berufspraxis" erstreckte sich ein weites Feld intellektueller und jugendlicher Radikalismen. Gerd Koenen, damals führendes Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands), hat dieses Kapitel einer Mentalitäten- und Generationengeschichte der Bundesrepublik in seinen zeithistorischen Bezügen wie in seiner inneren Psychodynamik nachgezeichnet und zu entschlüsseln versucht. Mit dieser ebenso ernsthaften wie unterhaltsamen, dabei höchst informativen Darstellung könnte die aktuelle Diskussion auf eine neue, sachliche Grundlage gestellt werden.
Autorenporträt
Gerd Koenen, geboren 1944 in Marburg, Studium der Geschichte und Politik in Tübingen und Frankfurt/M. und dabei vom SDS 1967 bis zu den maoistischen Zirkeln der 70er Jahre das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolviert. Später hat er als Lektor, Journalist, wissenschaftlicher Mitarbeiter Lew Kopelews sowie als freier Schriftsteller gearbeitet. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2001

Es war was faul im Staate Deutschland
Gerd Koenens Buch „Das rote Jahrzehnt” – ein mutiger, bewegender Akt des politischen Exorzismus der Jahre von 1967 bis 1977
Gerd Koenens „Das rote Jahrzehnt” gehört zu den Büchern, die man mit unwillkürlichem Herzklopfen liest. Gar nicht unbedingt, weil es so gut geschrieben wäre. An seiner Faktur könnte man manches aussetzen. Denn Koenen (von dem eine elegante, souveräne, herzzerreißende Geschichte und Würdigung des sowjetischen Kommunismus vorliegt) scheint „Das rote Jahrzehnt” auch mit Herzklopfen geschrieben zu haben, und das merkt man: an den unvermittelt poetisierenden Abschnitten, mit denen er einleitet und die ihm das ganze Buch hindurch rührend und auf nicht besonders einleuchtende Weise unterlaufen; daran, dass er sich nicht so recht hat entscheiden können, ob er einen persönlichen Erfahrungsbericht oder eine historische Monografie schreiben wollte.
Aber das macht nichts. Was man an diesem Buch kritisieren könnte, verblasst vor der intellektuellen und politisch-autobiografischen Leistung. „Das rote Jahrzehnt” gehört zu den Büchern, deren Thema so wichtig ist und so zentral mit der kollektiven Psychohistorie seiner und meiner Generation zusammenhängt, dass es vermutlich gar nicht angemessen gewesen wäre, es in einer distanzierten Monografie abzuhandeln. Dieses Buch handelt nicht nur von der Wiederkunft des Verdrängten. Es ist Teil dieser Wiederkunft und trägt deshalb viele eher symptomatische als artistische Züge.
Wenn man von verschiedenen Büchern über die RAF, von einigen persönlichen Erfahrungsberichten, Reinhard Mohrs „Zaungästen”, Heinz Budes einsichtigem Buch über die Achtundsechziger und den – nun ja – Essays des unvermeidlichen und meist nicht allzu hilfreichen Klaus Theweleit absieht, hat es vor Koenen keine eingehende Auseinandersetzung mit „unserer kleinen Kulturrevolution” gegeben: mit der merkwürdigen, bei näherem Zusehen fast haarsträubenden und heute fast völlig verdrängten Tatsache also, dass in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts etwa 100000 der intellektuell begabtesten und ehrgeizigsten Angehörigen ihrer Jahrgänge zugleich Opfer und Täter in einer Hand voll politischer Weltuntergangssekten gewesen sind, die von den Finanzangelegenheiten ihrer Mitglieder über deren Liebesleben bis zu dem selbstzerstörerischen und oft genug suizidalen politischen Aktivismus, der natürlich Hauptzweck dabei war, ihr gesamtes Leben und Sterben im Griff hatten. Das im Rückblick Erstaunlichste an der totalitären Machtmaschine, die sich zwischen 1970 und 1980 inmitten einer verunsicherten, überreagierenden, aber schließlich erfolgreich auf sich selbst besinnenden demokratischen Mehrheitskultur etabliert hatte, ist das pathologisch gute Gewissen, mit dem sie ihre Mitglieder verblödete, kujonierte und zerstörte.
„Wir waren eine Autorität”
Und es ist überhaupt wahrscheinlich der Hauptgrund für jenes Herzklopfen, dass man in Koenens Buch dem hochfahrend-manierierten, tief gestörten, im gefährlichsten Sinn unmenschlichen Ton der Verlautbarungen, Tagesbefehle, Lageberichte und „Analysen” wiederbegegnet, die damals – von den paranoiden Bekennerschreiben der RAF bis zum behaglichen Schießbefehl-Parlando der UZ oder der „Roten Blätter” – über uns niederging und allen Ernstes ein Teil unseres verschandelten Lebens und die Richtschnur unseres verkrüppelten Denkens geworden war. Aber auch wer genug Lebensklugheit, Feigheit und Geschmack aufbrachte, der Mitgliedschaft zu entgehen oder abzuschwören, ist damals nicht aus dem Schneider gewesen. Gerade an den „Sympathisanten-Milieus der RAF oder der traditionalistischen DKP kann man das Zusammenspiel von demonstrativer Selbstzerstörung, Erpressung und missgeleitetem Schuldgefühl studieren. „Keiner von uns hat sich vor mich hingestellt und gesagt: ,Jetzt komm mal wieder zu dir, auf den Boden der Realitäten, was machst du für ’ne Scheiße, bleib ein paar Tage hier und schlaf dich mal aus.‘ Wir waren eben eine Autorität, wir waren bei der kämpfenden Truppe.”
Es waren die von Karl-Heinz Bohrer aus der Bruchstelle zwischen der Frühromantik und dem Werk Fichtes hergeleiteten „Sprachen des Ernstes”, die im politischen Erfahrungshunger der Siebziger – vielleicht ein für allemal – zu sich selbst gekommen sind, bevor die „ironische Republik” (Bude) in den Achtzigern unser Land vollends und wahrscheinlich für immer von seinem intellektuellen und politischen Sonderweg abgebracht hat.
Die Sprache des linken deutschen Ernstes kennt eigentlich nur zwei grammatische Regeln. Die erste ist in den Versen von F.H. Bradley zusammengefasst, die als Motto über dem 1945 beendeten zweiten Teil von Adornos „Minima Moralia” stehen: „Where everything is bad/it must be good/To know the worst.” Worüber man in dieser Sprache auch immer zu reden begann, nach wenigen Sätzen hatte man das unveränderlich und unausdenkbar Schlimmste postuliert. „Was mit dem vermeintlich praktischen Postulat begann, alle Erziehung und Aufklärung darauf auszurichten, dass , Auschwitz sich nicht wiederhole‘, landete binnen weniger Sätze schon bei der Beschreibung eines universellen Weltverhängnisses eines drohenden Welt- Auschwitz, das dem Trend der gesamten Zivilisation entsprach. Wer sich in dieses Theorie-Labyrinth tiefer hineinarbeitete, fand sich bald genug im Herzen der Finsternis und erhielt (wie Joseph Conrads Held Marlow) als letzte Auskunft nur: Das Grauen, das Grauen ...”
Der zweite Grundsatz, der die Sprache des Ernstes dann vollends zu einer Höllenmaschine gemacht hat, war die erstaunlich verbreitete, uns ironischen Postmodernen kaum mehr verständliche Überzeugung, es sei verächtlich, nur zu reden ohne zu handeln. Theorie ohne Praxis sei Verrat. „Ich war bereit, für meine Ideale Leben und Freiheit in die Waagschale zu werfen. So weiterleben – gefressen, verdaut und ausgeschissen zu werden – war meine Perspektive nicht”, schrieb Till Meyer. Die ganze Welt sei eigentlich Auschwitz, und man müsse jetzt, sofort, besinnungslos etwas möglichst Drastisches tun. Wer das glaubte, war reif für das linksradikale Tourette- Syndrom. Es schien ganz einfach und logisch. Und doch ist es zu oberflächlich, den Wahn der Siebziger auf denselben Pfaden „schneidender Pseudologik” zu erklären, die er selbst gegangen ist. Je weiter man, klopfenden Herzens, sich in die 500 Seiten dieses großartigen und schrecklichen Buchs hineinarbeitet (ihr Höhepunkt sind für mich die dann wirklich völlig autobiografischen Innenansichten des KBW aus der Sicht eines ihrer führenden Kader), desto fremder erscheint einem diese Zeit und desto unerlöster schaut sie zurück. Mit Logik hat das alles, so logisch und „wissenschaftlich” es sich gab, nicht viel zu tun. Und die eigentliche Arbeit des Verstehens – sie wird eine psychoanalytische sein – steht wahrscheinlich noch aus.
Einer der wichtigsten Erklärungsansätze, die die deutsche Kulturrevolution selbst zu einer solchen psychoanalytischen Deutung geliefert hat, ist ihre historische Kostümierung gewesen, deren manierierte Seltsamkeit Koenen verwundert immer wieder betont – die roten Fahnen, die Eislerlieder, die Überzeugung, „eigentlich” mit einem Bein im KZ zu stehen, durch den Radikalenerlass „gefoltert” zu werden, der Thälmann-Kult – aber auch die unkritische und bei aller Theoriegläubigkeit völlig unreflektierte Übernahme und umstandslos „praktische” Anwendung der nonkonformistischen und revolutionären Vorkriegsphilosophie, die gespenstisch unmittelbare Verlebendigung nicht nur des Werks von Freud und Marx, sondern der gesamten linken – meist von jüdischen Autoren verfassten – theoretischen Literatur der zwanziger Jahre, deren Diskussion und Lektüre die Nazis verboten, deren Verfasser sie ermordet und ins Exil getrieben hatten. Die deutsche Kulturrevolution war eine Geisterbeschwörung. Das Gespenst einer verleugneten, vertriebenen, ermordeten Vatergestalt erschien und redete von einem Welt-Mord, der in Wirklichkeit überall und eben jetzt geschah.
Deutschland als Hamlet
„Der imaginäre Anschluss an die wirkliche Geschichte, den wir so fieberhaft suchten, war eine Flucht aus der unerträglichen Leichtigkeit unserer eigenen Lebenswelt, der wir nicht trauten, zurück in das Zeitalter der Weltkriege und Bürgerkriege, das uns viel realer und gegenwärtiger erschien.” Das junge Deutschland war, wie vor 1848, Hamlet. Ein Spiel im Spiel wurde inszeniert. Die Wahrheit sollte über eine provokatorisch-theatralische Inszenierung ans Licht kommen. Der König, der vielleicht ein Mörder war, sollte sich durch seine Reaktion verraten. Die Geisternachricht musste geprüft werden. Und zwar durch eine „von Dutschke entwickelte Ideologie und Strategie bewusster ,Provokationen‘, deren Ziel es offenbar sei, so Habermas, die , sublime Gewalt‘ der herrschenden Institutionen, zu einer manifesten Gewalt (zu) machen, um sie dadurch zu deklarieren und zu denunzieren‘.”
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!” skandierten wir. Aber in Wirklichkeit wollten wir nicht das Weltproletariat mobilisieren, sondern die Toten. „Acheronta movebo” wäre die treffendere Maxime gewesen. Morde, über die man nicht sprach, waren überall in Deutschland untergründig allgegenwärtig, als Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler Kinder waren, als ihr Unterbewusstsein die entscheidenden Schwingungen aufnahm. Das Wissen und das Schweigen über sie war ein Teil des – meist protestantischen – Milieus, in dem die charismatischen Anführer der Hamlets von ’68 aufwuchsen, die sich Jahrzehnte später dann theatralisch als Teddy Thälmann oder als KZ-Leiche kostümierten. Die Gespenster, die ein Vierteljahrhundert später auf der politischen Bühne des Landes erscheinen sollten, haben sich schon in den vierziger Jahren auf den Weg gemacht. „Mord”, sagt Hamlet zu den Schauspielern, „hat er schon keine Zunge, spricht mit wundervollen Stimmen.” Die „wundervollen” (eigentlich ja eher wunderlichen) Stimmen, die aus den Taten und Ansichten der Generation sprachen, die heute die Bundesregierung stellt, gehören zu den Gespenstern, die seit 1945 jede deutsche Generation auf ihrem Weg begleiten. Wir werden sie noch lange hören. Gerd Koenens Buch ist ein mutiger und nobler Akt des politischen Exorzismus und das wichtigste politische Buch, das mir seit langem untergekommen ist.
STEPHAN WACKWITZ
GERD KOENEN: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 554 Seiten, 54 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2012

Trotzki, der Gute
Chronik einer angekündigten Biographie

Es gibt einen naiven Häretiker-Bonus: Wäre nur dieser an die Macht gekommen anstatt jener! Hans Küng oder Eugen Drewermann statt Kardinal Ratzinger, Hildegard Hamm-Brücher statt Roman Herzog! Oder Leo Trotzki statt Josef Stalin! Die Welt sähe besser aus, toleranter, unblutiger und gerechter, sagt unser Herz. Die Macht an sich ist böse, und wer im Kampf um ihren Gewinn scheitert, muss der Gute sein.

Es ist das Verdienst der Trotzki-Biographie von Robert Service, die 2009 in englischer Sprache erschien, in einem Akt ausgleichender Ungerechtigkeit mit dieser optischen Täuschung aufgeräumt zu haben. Trotzki, geboren 1879 als Leib Bronstein, ermordet 1940 in Mexiko von einem Agenten der GPU, war nicht die Alternative zum Stalinismus, er war der gescheiterte Stalin. "Wäre Trotzki an Stalins Stelle der überragende Sowjetführer geworden, dann hätten sich die Risiken eines Blutbades in Europa drastisch erhöht", schreibt Robert Service in der Einleitung.

Und er kann es belegen. Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee führte im Bürgerkrieg die schlimmsten terroristischen Methoden ein, und er war es (nicht der nach Service vorsichtigere, aufs Staatsinteresse bedachte Stalin), der die abenteuerlichsten Gedanken hegte, was eine Intervention der Sowjetunion etwa bei Aufstandsversuchen der Kommunisten in der Weimarer Republik anging.

Die deutsche Ausgabe "Trotzki - Eine Biographie" ist im Suhrkamp-Verlag angekündigt. "Erscheint in Kürze" heißt es auf der Website seit langem. Nun haben schon im Juli des vergangenen Jahres mehrere Historiker und andere Geisteswissenschaftler in einem offenen Brief an Ulla Unseld-Berkéwicz von "Verwunderung und Besorgnis" in der "Fachwelt" gesprochen. Das Ziel des Buches sei eine "Diskreditierung" Trotzkis. Inzwischen, so ist aus dem Verlag zu hören, habe man ein weiteres Gutachten angefordert. Besonders hingewiesen wird von den Autoren des Briefes auf die Diskussion von Trotzkis jüdischer Herkunft bei Service, die, wie es heißt, einen "befremdlichen Beiklang" habe.

Aber die starke Präsenz von glaubenslos gewordenen Juden im Parteiapparat der zwanziger Jahre wurde von Yuri Slezkine in seinem Buch "Das jüdische Jahrhundert" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2006) ungleich massiver zum Thema gemacht. Slezkine, Direktor des Slawistischen Instituts an der University of California in Berkeley, sieht den frühen Bolschewismus geradezu als eine der großen Aufstiegschancen der russischen Juden, die unter dem Zarismus sehr am Fortkommen gehindert und zudem räumlich auf ein bestimmtes Siedlungsgebiet beschränkt waren. Und was die Dominanz jüdischer Intellektueller in der auf Trotzki zurückgehenden "Vierten Internationale" betrifft, so hat der deutsche Historiker Gerd Koenen in seiner Darstellung "Das rote Jahrzehnt" (Frankfurt 2002) die Dinge sachlich und kühl analysiert.

Deutlich werden bei Service die Gründe für Trotzkis Machtverlust nach Lenins Tod im Jahre 1924. Trotzki war spät zum eigentlichen Bolschewismus gekommen, erst 1917, als die Revolution vor der Tür stand; zuvor hatte er seine eigene Position im linksradikalen Meinungsspektrum Russlands vertreten. Die alten Kader fürchteten, von Trotzki zum Zwecke seines höheren Ruhms instrumentalisiert zu werden. Zeitweise traute man eher ihm als Stalin das Verlangen nach persönlicher Diktatur zu, als Chef des Militärs schien er für eine bonapartistische Rolle die Idealbesetzung. Der britische Philosoph Bertrand Russell, der ihm Anfang der zwanziger Jahre begegnete, sah in Trotzkis Habitus die "Eitelkeit eines Schauspielers oder Künstlers". Solche und ähnliche Stellen zitiert Service mit Gusto - und das kränkt manchen heute noch.

Fehler, an die der offene Brief mahnt, enthält dieses Buch tatsächlich. Man staunt, wenn Ferdinand Lassalle als "Marxist" bezeichnet wird - er war der Hauptkonkurrent von Marx um die Gunst der frühen Sozialdemokratie. Man staunt noch mehr, wenn André Breton als surrealistischer Maler gefeiert wird (einschließlich der Beschreibung seiner Bilder, die viel Mitgefühl für die Armen verrieten). Oder wenn es heißt, die Leiche von Rosa Luxemburg hätten ihre Mörder auf eine Berliner Straße geworfen - wo doch der Landwehrkanal jedem aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein könnte. Aber solche Fehler ließen sich in der Übersetzung bequem korrigieren.

Wichtiger als Einzelprobleme ist ein anderer Mangel des Buches. Es ist ein technischer Fehler des Erzählers. Die Geschichte bleibt meist sehr nah an Trotzkis Kalender, sie ist actionbetont. Da fallen dann andere Züge heraus: breite panoramatische Schilderungen der historischen Hintergründe, der handelnden Charaktere. Es ist, als kenne Service nur eine einzige Kameraeinstellung. Da sind die Indianer, dort rückt schon die Kavallerie an. Spannend, packend! Aber die majestätische Gegend, die grandiosen Gebirgszüge kommen nicht so recht in den Blick. Dieses Buch ist etwas zu hektisch und zu wenig episch.

LORENZ JÄGER

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Stephan Wackwitz gibt zu, das Buch mit einigem Herzklopfen gelesen zu haben. Zwar hätte es seiner Ansicht nach besser geschrieben werden können, doch darauf kommt es seiner Ansicht nach nicht in erster Linie an. Auch die Unentschlossenheit des Autors zwischen "persönlichem Erfahrungsbericht" und Monografie ist zweitrangig, findet Wackwitz. Wichtig ist ihm vielmehr, dass Koenen hier eines der wenigen Bücher vorgelegt habe, die sich kritisch mit dem "Zusammenspiel von demonstrativer Selbstzerstörung, Erpressung und missgeleitetem Schuldgefühl" der politischen Linken der siebziger Jahre befasst. Das Herzklopfen, dass Wackwitz einleitend erwähnt, rührt zum großen Teil daher, dass er es heute kaum fassen kann, welchen Einfluss die sektenähnliche "totalitäre Machtmaschine" damals auf die Intellektuellen - und nicht zuletzt auf ihn selbst - ausüben konnte: sei es durch den "hochfahrend-manirierten, tief gestörten, im gefährlichsten Sinn unmenschlichen Ton der Verlautbarungen, Tagesbefehle, Lageberichte und 'Analysen'", wie etwa in Bekennerschreiben und linken Gazetten - seien es die Vorgaben, die sogar persönliche Finanzen oder das "Liebesleben" betrafen. Auffallend findet Wackwitz darüber hinaus etwas, was er als "Geisterbeschwörung" bezeichnet: die unkritische Übernahme von Vorkriegsphilosophie der zwanziger Jahre. "Ein großartiges und schreckliches Buch", so lautet das Fazit des Rezensenten.

© Perlentaucher Medien GmbH
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